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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 133
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [9]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutnant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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Adler, Joseph: Die bankerotte Natur
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0192

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Der einzige Brief Baron Frangarts
Pater Bonaventura schrieb kurz vor Weih-
nachten folgenden Brief an Baron Frangart:
Aus dem Französischen übersetzt
Chamfort, den 19. Dezember,
anno domini 19 ..
Mein lieber Sohn in Christo dem Herrn,
verehrter Herr Baron,
es drängt, mich,. Euch zu sagen, mit welcher
Teilnahme ich Eurer oft und' off-g-edenke. Lebhaft,
aber ohne es Euch nachzutragen, habe ich be-
dauert. daß Ihr es mir durch Euren etwas brüsken
Abschied unmöglich machtet, Eure Fragen zu be-
antworten.
Nun aber befürchte ich, daß Ihr viele dunkle
Träume an eine Sache verschwenden möchtet, die
in Wirklichkeit klar ist, wie nur irgend etwas; und
daß Euch solche Träumerei in Euren Tätigkeiten
lähmen möchte. Und wenn Ihr bedenkt, daß ich
vordem Eurer Jugend diese Dinge nicht verhehlen,
wohl aber verschweigen zu müssen glaubte,
werdet Ihr begreifen, daß ich sie Euch jetzt um so
bereitwilliger ausemafndersetze. Daß ich es im
Briefe tue (indem ich nicht weiß, ob mir die Güte
Gottes und Ihr selbst erlaubt, Euch in diesem
Leben wiederzusehen) mag Euch die Schicklich-
keit der Sache beweisen.
Wie Euch Gott selbst im Traume eröffnet hat,
bin ich in der Tat eini Halbbruder Eurer seligen
Mutter. Weder ich noch sie haben das eher als
Ihr selbst erfahren; vielmehr habt Ihr es uns da-
mals im Traume erzählt, und mir hat es ein hinter-
lassener Brief Eures lieben Vaters, sowie später
Marquis Choiseul persönlich bestätigt.
Nichts aber ist geschehen, was sündhaft wäre.
Grübelt nicht, wenn Ihr nicht das Andenken der
Toten mit Unrecht entweihen wollt.
Ich wünsche Euch zur heiligen Weihnacht den
Frieden auf Erden, der uns allen so nötig ist.
Seid, geliebter Sohn in Christo, Gott der Euer
Leben fruchtbar machen möge, innigst empfohlen
von Eurem ergebenen
Bonaventura S. J.
Auf diesen Brief schrieb Baron Frangart die fol-
gende Antwort nieder:
München, 21. Dezember 19..
Hochwürdiger Vater,
warum erinnert Ihr mich an etwas, woran mich,
wie Ihr richtig erraten habt, meine Träume oft
genug erinnern? Daß zwischen Frau Baronin
Frangajrt, geborener Comtesse Riom, und Euch
nichts geschehen sei, konnte mir nie zweifelhaft
sein; und fast finde ich, Ihr sündigt gegen ihr An-
denken, wenn Ihr solche Zweifel bei mir vermutet.
Mir geht es sehr nahe, von Eurer Vermutung zu
lesen und zu schreiben.
Aber etwas anderes ist (und wenn Ihr in un-
serer Seelenlehre eine bewiesene negative Ant-
wort sindet, lasset Ihr mich sie, bitte, wissen!), ob
nicht zur Unzeit ein Wunsch, ein Schrei der Sehn-
sucht von Euch, dem nahverwandten Blute, ausge-
gangen sein und in mir, außer allem, was an mir
„Frangart“ ist, noch Ausdruck gefunden haben
könnte.
Ich achte Euch, hochwürdiger Vater. Aber ver-
zeiht, daß ich offen sage: Wenn es s o wäre, täte
es mir sehr leid. Ich bin ein Mensch aus ältestem
Geschlechte; viele andere sind es nicht nicht, und
vielleicht äußert sich ihr Leben gerade deshalb
fruchtbarer als das meine. — Aber, wenn d a s so
wäre, müßte ich ja die geringere Fruchtbarkeit
meines Daseis auch noch aus andern Gründen er-
klären.

Den jugendlichen Tadel dieses Briefes verzeiht
im übrigen Eurem Euch allezeit ergebenen
Fritz Freiherrn von Frangart.
Diesen Brief hatte Baron Frangart in einem
seltsamen Anfall von Wut, der seinen ganzen Kör-
per durchzitterte, geschrieben. Aber er fand die
Kraft, sich zu beherrschen, schickte den Brief nicht
ab. zerriß ihn und warf die Fetzen ins Feuer. Dann
schrieb er, gegen seine Gewohnheit, ein Tele-
gramm; es enthielt die Worte:
„Pater Bonaventura S. J.
Collegium Chamfort (Belgien)
Mit ergebenem Dank für Ihren Brief verbinde
ich meine höflichsten Weihnachtswünsche
Frangart“
Pater Bonaventura seinerseits besaß Feingefühl
genug, um dieses Telegramm zu verstehen. Er
kniete in seiner Zelle nieder und betete: „Herr, ich
habe aus Güte gefehlt. Magst Du und Baron Fran-
gart mir verzeihen!“ (Uebrigens hatte Bonaven-
tura seinen Brief in der Tat vor jedem Menschen
verheimlicht, ihn heimlich geschrieben und heim-
lich zur Post gegeben. — Es hat also nachgerade
den Anschein, als ob große Güte auch große Fehler
begehen könne; deshalb sind aber die Fehler doch
zu verdammen, wie auch in diesem Falle, wo nun
Bonaventura um Verzeihung betete.)

Fortsetzung folgt


Die bankerotte Natur
Morgen beginnt der Herbst — kalendermäßig,
während wir hoffen wollen, daß er noch lange
nicht seine Eigenarten kündet. Vom neuen Herbst-
hut für die teure Gattin abgesehen, hat er auch
sonst gewisse Unannehmlichkeiten. Und nach
diesem Sommer, der keiner war, dürfen wir uns
ruhig einen Herbst wünschen, der keiner ist.
Ein Schmock ist immer einer. Eine Jahreszeit,
ein Sommer, verzichtet auf die Ehre, schön und
warm zu sein, oh, er verregnet sogar, um nicht
von Redakteuren, die Erholung suchen, und
Schriftstellern, die ein idyllisches Ruhe-
plätzchen gefunden haben, angeschmachtet zu
werden. Und ist er zu Ende, so wiederholt sich,
gleichviel: ob er enttäuscht oder befriedigt hat,
das nämliche Spiel. Zug um Zug, und e i n
Schach ist vornean. Er eröffnet uns:
Nun ist es endgültig Herbst geworden. Der
Kalender ignoriert optimisterische Wünsche und
hält sich an den normalen Verlauf der Dinge. Am
frühen Morgen ist es etwas kühl, in der Luft liegt
bereits die Herbheit aller Herbsttage. Jetzt, wo
es nun „definitiv“ vorbei sein soll mit jeder Hoff-
nung auf schöne Spätsommertage, erfreuen wir uns
einer milden Witterung, die imstande ist, uns den
Herbst vergessen zu machen. Regen hatten wir
genug; Sonnenschein können wir nie genug haben.
Im letzten Augenblick noch, knapp vor Tores-
schluß, hatte der Himmel ein Einsehen und lächelte
in sanfter Bläue. So unschuldig sah er aus, als
hätte er nicht wochenlang ganze Ströme auf uns
herunterrieseln lassen. Und die Luft ist so milde,
als hätten wir ihr nicht den beharrlichen Schnupfen,
den schlimmen Katarrh zu verdanken.
Aber weniger spielerisch als der'Schach ist der
Wetterreporter der Morgenpost Er würzt mit
keinem Körnchen Humor, er schmiert nur die Stim-
mungskarre mit dem beliebten Poesieöl Marke
Exquisit.
Ein Hauch von Schwermut geht durch die
Natur, wenn der Oktobermonat beginnt. Das

große Sterben in Feld und Flur hat eingesetzt, und
mit leisem Rascheln sinkt Blatt um Blatt welk zu
zu Boden. Wohl leuchtet die Sonne noch warm
vom klaren Herbsthimmel hernieder, und zumal in
diesem launischen Jahre will es der Zufall, daß der
Sonnenschein, den wir zwei lange Monate haben
entbehren müssen, den Anfang des Oktober ver-
schönt. Aber während in anderen Jahren eine
n ac hs o m m e r 1 i c h e W är me ü b e r die be-
vorstehende kalte Jahreszeit hin-
wegtäuschte, scheint es, daß wir diesmal die
Hoffnung auf nochmalige Wiederkehr warmer Tage
begraben müssen.
Amen. Es ist fürchterlich, die Hoffnung auf
nochmalige Wiederkehr warmer Tage begraben
zu müssen, trotzdem uns die nachsommerliche
Wärme früherer Jahre über den bevor-
stehenden Herbst hinweggetäuscht hat. Die
Stimmungskarre bleibt im Dreckstil stecken und die
geistige Entgleisung ist fertig. Einen Zeitungs-
schreiber von der sterbenden Natur sprechen zu
hören, ist der Tod. Es vollzieht sich ein erhabener
Abgang, aber an der Tür steht allerlei niedriges
Pack, das larmoyante Aufzeichnungen macht. Es
steckt der wehrlosen Stimmung den Bleistift in den
Rachen, bis daß sie alle die kitschigen Bilder kotzt
Mit dem Sterben der großen Natur wird es aller-
orten von „kleinen“ Dichtern lebendig. Und na-
türlich auch im Vorwärts wurden unter „Ber-
liner Nachrichten“ die Schönheiten der
sterbenden Genossin gewürdigt. Kollege Schmock
hat das Wort. Hört!
Die Naturwunder des Herbstes lockten am
Sonntag Hunderttausende aus den Mauern der
Weltstadt ins Freie. Graublau strahlte der Himmel,
wundermild war die Luft. Die Winde haben ja in
Baum und Strauch, in Feld und Flur schon arg ge-
haust, aber die warme Witterung der letzten Tage
hat doch die Herbstflora sich zur vollen Schönheit
entfalten lassen. Georginen, Astern, Chrysanthe-
men und andere Herbstblumen mit weniger geläu-
figem Namen schimmern gerade jetzt in satter
Pracht. „Lind wer das Rauschen will verstehn,
der muß im Wald spazieren gehn.“ Geheimnisvoll
rauschte es im deutschen Walde auch im Herbst.
Tannen und Fichten prangen im unverwüstlich grü-
nen Kleide, Buchen sind mit ihren bunten Tinten im
Herbst am schönsten, noch die deutsche Eiche, die
so schwer und so zäh sich trennt vom zusammen-
gerollten gilben Laube, zeigt gleichsam die Volks-
kraft. Auf allen Verkehrslinien entwickelte sich
ein ungeahntes Sonntagstreiben. Gut, wie immer,
waren die Spielplätze der Sportklubs besucht und
von schwarzen Zuschauerlinien umsäumt.
Die Tagesschriftsteller trennen sich niemals von
den zusammgerollten gilben Phrasen und sie
buchen sie im Herbst mit ihrer bunten Tintenseele
von neuem auf Kredit. Die Natur macht Pleite,
aber die Verkehrsinstitute machen ihr Geschäft.
Sie verdienen. Die Natur erstirbt auf einem
Wendepunkt, aber Zuschauerlinien umsäumen die
Spielplätze der Sportklubs. Doch:
Da viele zu weiter Wanderung keinen Schneid
hatten, flutete es stark auch nach den Kirchhöfen.
Der Zentralfriedhof in Friedrichsfelde wies Massen-
besuch auf. Wie im Hochsommer tummelte sich
Jung und Alt auf Spree und Havel. Nur die Damp-
ferflotillen hatten schon Saisonschluß gemacht. In
den gastlichen Stätten der Somnierlokale schien
man auf den Zuspruch nicht geeicht gewesen zu
sein. Vielfach haperte es mit Atzung und vor allem
mit der Bedienung. Zehntausende tranken ihren
Mokka im Freien . . . ein seltenes Oktoberschau-
spiel.
Vorhang! Vorhang! Und das Eintrittsgeld auch
zurück. Abzug! Herunter mit ihm. Ruhe! Aus-
reden lassen.

19!
 
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