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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 108
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Abwehr
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Saint-Point, Valentine de: Manifest der futuristischen Frau
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0030

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keit zur Vision spricht .nicht gegen die Vision;
höchstens für die Unfähigkeit. „Ebensowenig
kann man eine Bewegung malen1, ohne Gegen-
stand, an dem oder durch den sie geschieht."
Nur, daß es nicht auf den Gegenstand, sondern1
auf die Bewegung ankommt. Denn die Be-
wegung ist das Lebendige. Durch Nachahmung
der Natur entstehen auf den Bildern Leichen,
Kadaver oder photographierte Ansichten. Die
Mittel der Natur sind andere, als die Mittel der
Kunst. Warum vermanschen gerade die Ratio-
nalisten mit der Bosheit der Konstanz die Be-
griffe. Wer frische Luft braucht, soll spazieren
gehen. Wer baden will, soll dazu nicht in eine
Kunstausstellung rennen, sondern in das Haus;
nebenan. Wer Bedürfnisse hat, soll sie sich nicht
von anderen befriedigen lassen. Und wer das
Körperliche, losgelöst von der Empfindung, sucht,
gehe ins Leichenschauhaus oder ins Panoptikum.
Nur diesen Effekt erzielen die Maler, die beim
Bilde vom Körperlichen ausgehen, statt von der
Empfindung. Leben ist alles. Leben ist Be-
wegung. Der Künstler gibt den Gegenständen
die Bewegung. Der Künstler kann zwar Herrn
Breuer nicht zur Kunst erziehen (das Erziehen
ist eine bürgerliche Angelegenheit), aber er kann
unter Umständen aus Herrn Breuer ein Kunst-
werk machen. Auch Totes kann und muß durch
Kunst bewegt werden.
Internationale Sonderkiinstler
Die Stadt Venedig veranstaltet eine inter-
nationale Kunstausstellung. Die Korresponden-
ten treffen ein. Die Fremden strömen. Die Sonne
stheint. Irgendjemand eröffnet im Namen des
Königs. Zahlreiche Bilder sind vorhanden. Und
zweiunddreißig Maler werden gesondert gezeigt.
Von diesen zweiunddreißig Malern sind zwei oder
drei schlecht, aber berühmt. Die übrigen nicht
einmal das. Man begreift, daß aus solchem An-
laß die Korrespondenten eiintreffen. Man begreift,
daß die Fremden strömen. Auch die Sonne und
die Eröffnung im Namen des Königs scheint
natürlich. Besonders die Sonne. Nur möchte
ich wissen, wie man allen diesen beteiligten Insti-
tutionen klar machen will, daß es sich um Sonder-
Ausstellungen handelt. Durch die Bilder sicher
nicht. Denn die sind alle von Künstlern schon
einmal gemalt worden. Deutschland wird durch
Herrn Erler vertreten, Frankreich, Schweden,
Ungarn und Italien gleichfalls durch Nullen. Die
Venezianer scheinen sich in Berlin bei der Aus-
wahl Schlechter Bilder helfen zu lassen. Wie ist
es möglich, nach Italien auf eine internationale
Kunstausstellung einzuladen, ohne Bilder von
Umberto Boccioni zu zeigen, oder von Carr|a,
Russolo, Severini. Wenn man Sonderausstellun-
gen schon veranstaltet. Jetzt, wo durch diese
Künstler bewiesen ist, daß sogar Italien (die
Renaissance überwindet, die übrigens auch nur
eine Wiedergeburt war, jetzt hat Italien das1
Recht auf polemische Behandlung erlangt. Es
soll behandelt werden.
H. W.

Manifest der futuristischen Frau
Von Valentine de Saint-Point
„Wir wollen den Krieg preisen, diese
einzige Hygiene der Welt — den Militarismus,
den Patriotismus, die zerstörende Geste der
Anarchisten, die schönen Gedanken, die töten,
und die Verachtung des Weibes.“
Erstes Manifest des Futurismus
von F. T. Marinetti
Die Menschheit ist mittelmäßig. Die meisten
Frauen sind den meisten Männern weder über-
legen noch unterlegen. Beide sind gleich. Beide
verdienen dieselbe Verachtung.

Die gesamte Menschheit war stets das Kultur-
gebiet, aus dem die Genien und Helden beider
Geschlechter hervorgegangen sind. Aber es gibt
in der Menschheit, wie in der Natur, für die
Blüte günstige Augenblicke. In den Sommern
der Menschheit, wenn die Sonne das Gelände
verbrennt, sind Genien und Helden im Ueber-
fluß vorhanden.
Wir sind am Anfang eines Frühlings; es
fehlt eine Ueberfülle an Sonne, es fehlt an . ge-
flossenem Blut.
Weder Frauen noch Männer sind schuld an
diesem Versinken im Treibsande, unter dem alle
wirklich jungen, an Schwung und Blut reichen1
Wesen leiden.
Es ist absurd, die Menschheit in
Frauen und Männer einzuteilen. Sie
besteht nur aus Weib he it und Mannheit.
Jeder Uebermensch, jeder Held, sei er noch so
episch, jedes Genie, sei es noch so mächtig, ist nur
der verschwenderische Ausdruck einer Rasse
und einer Epoche, weil es eben aus weiblichten;
und männlichen Elementen besteht, aus Weib-
heit und Mannheit: weil es ein vollkommenes
Wesen ist.
Ein nur-männlicheS Individuum ist ein Vieh';
ein nur weibliches Individuum das Weibchen.
Mit der Gesamtheit, mit den Augenblicken
der Menschheit steht es genau wie mit den Indi-
viduen. Die fruchtbaren Perioden, in denen aus
dem keimenden Kulturgebiet die meisten Hel-
den und Genien erstehen, sind an Mannheit und
Weibheit reiche Zeiten.
Die Zeiten, die nur heldenlose Kriege hatten,
weil der epische Hauch alle gleich machte, waren
ausschließlich Epochen der Männer; die Zeiten, die
den heroischen Instinkt verleugneten und die, der
Vergangenheit zugewandt, sich in Friedens-
träumen verzehrten, waren Epochen der Frauen.
Wir leben am Ende einer dieser Zeitläufte.
Was den Frauen ebenso wie den Män-
nern am meisten fehlt, ist Mannheit.
Deshalb hat der Futurismus trotz seinen
Uebertreibungen doch recht.
Um unseren in der Weibheit erstarrten
Rassen Mannheit wiederzugeben, muß man sie
bis zur Brutalität heraufreißen. Aber allen beiden,
Männern und Frauen, muß man ein neues!
Energiedogma auferlegen, um endlich zu einer
höheren Menschheit zu gelangen.
Jede Frau muß weibliche, und männliche
Eigenschaften besitzen, sonst ist sie eben das1
Weibchen. Der Mann, der nur Kraft ohne In-
tuition besitzt, ist Vieh. Aber in der Zeit des}
Weibischen, in der wir leben, ist nur die gegen-
teilige Uebertreibung heilsam: Die Bestie soll
man als Beispiel wählen.
Genug der Frauen, deren „blumenrankigen,
um ihre Knie am Morgen des Abschieds ge-.
schlungenen Arme" die Soldaten fürchten
müssen; genug der Frauen, die als Kranken-
wärterinnen die Schwächen und Alter ewig
machen, die die Männer knechten zu ihrem per-
sönlichen Vergnügen oder materiellen Nutzen!
. . . Genug der Frauen, die Kinder gebäre.n
nur für sich, sie hüten vor jeder Gefahr, Vor
jedem Abenteuer, also vor jeder Freude; die
ihre Tochter der Liebe, ihren Sohn dem Kriege
streitig machen! . . . . Genug der Frauen, die
£ls Buhlerinnen am Herde verführerisch ßas
Blut der Männer und Kinder aussaugen; genug
der tierisch verliebten Frauen, die begehrend
sich ausgeben, um neue Kräfte zu empfangen.
Die Frauen: die Erinnyen, die Amazonen;
die Semiramis, die Jeanne d'Arc, die Jeannej
Hachette; die Judith und die Charlotte Corday;
die Kleopatra und die Messalina: die Kriegerin-
nen, die wilder kämpfen als die Männer, die
Geliebten, die anstacheln, die Zerstörerinnen, die
die schwächsten zermalmen und die Zuchtwahl
durch den Stolz oder die Verzweiflung unter-

stützen, „die Verzweiflung, durch die das Herz
seine ganze Kraft hergibt."
Mögen die nächsten Kriege Heldinnen auf-
erstehen lassen wie Katharina Sforza. Sie 'sah
bei der Belagerung ihrer Vaterstadt von den
Wällen, wie der Feind ihren Sohn bedrohte, um
sie dadurch zur Uebergabe zu zwingen. Aber
sie offenbarte ihr Geschlecht heldenmütig und
rief: „Tötet ihn, ich bin fruchtbar genug, um
andere zu gebären!"
Ja, „die Welt verwest vor lauter Weisheit",
aber es liegt in ihrem Instinkt, daß die Frau
nicht weise, nicht friedliebend, nicht gut ist. Weil
es ihr an Maß gebricht, wird sie in einer schläfri-
gen Epoche der Menschheit sicher zu weise, zu
friedliebend, zu gut. Ihre Intuition, ihr Vor-
stellungsvermögen sind zugleich ihre Stärke und
ihre Schwäche.
Sie ist die Individualität der Masse: sie be-
gleitet den Festzug der Helden. Fehlen sie, rühmt
sie die Dummen.
Nach dem Apostel, dem Erreger des Geistes,
läßt die Frau, die Erregerin des Fleisches, Blut
fließen oder sie hemmt es; sie ist Kriegerin oder
Pflegerin. Dieselbe Frau legt sich in derselben
Epoche je nach' dem Ereignis des Tages auf
die Schienen, hindert den Soldaten ins Feld zu
ziehen oder wirft sich dem siegreichen Sport-
champion an den Hals.
Deswegen darf ihr keine Wandlung fremd
sein. Deswegen muß man sich an sie wenden,
statt sie zu verachten. Es ist die fruchtbarste Er-
oberung, die man machen kann, die be-
geisterndste, die die Anhänger vervielfacht.
Aber kein Feminismus. Der Feminismus ist
ein politischer Irrtum. Der Feminismus ist ein
Gehirnfehler der Frau, den ihr Instinkt bald er-
kennen wird.
Man darf der Frau keines der von
den Feministen geforderten ;Rechte
geben. Sie ihr geben hieße nicht die
von den Futuristen ersehnte Wand-
lung, im Gegenteil, einen Uebjejr-
fluß an Ordnung herbeiführen.
Der Frau Pflichten auferlegen heißt, sie ihrer
ganzen fruchtbaren Macht berauben. Die Ueber-
legungen und Erörterungen der Feministen wer-
den ihr uranfängliches Verhängnis nicht zerstören:
sie können es nur fälschen und es zwingen, sich
(auf Umwegen zu -offenbaren, die zu noch'
schlimmeren Irrtümern führen.
Seit Jahrhunderten stößt man den Instinkt
der Frau mit Füßen, man schätzt nur ihre Reize
und ihre Zärtlichkeit. Der blutarme Mann, der
mit seinem Blute geizt, will sie nur als Kranken-
pflegerin; mehr fordert er nicht. Sie hat «'sich
bändigen lassen. Aber schrei ihr ein neues Wort
zu, stoß einen Kriegsschrei aus, jmd freudig wird
sie wieder ihrem Instinkt folgen und zu jun-
geahnten Eroberungen voranschreiten.
(Braucht ihr Waffen, sie werden sie schärfen.
Und wieder wird sie die Zuchtwahl unter-
stützen. Wenn sie auch schwer das Genie er-
kennt, weil sie sich immer nur an den vor-
übergehenden Ruf hält, hat sie doch immer den
stärksten, den Sieger, belohnt. Sie kann sich der
großen Ueberlegenheit nicht entziehen.
Möge die Frau ihre Grausamkeit, ihre Hef-
tigkeit wiederfinden, die sie auf den Besiegten;
losstürzen läßt, weil er eben besiegt ist, die sie
so weit treibt, ihn zu verstümmeln. Man höre
auf, ihr geistige Gerechtigkeit zu predigen, die
zu erlangen sie sich vergeblich bemüht. Frauen,
werdet erhaben, ungerecht wie die Natur.
Aller Kontrolle entledigt, mit wiedergefun-
denem Instinkt, werdet ihr euren Platz unter den|
Elementen wieder einnehmen und das Ges-chick
dem bewußten Willen der Männer entgegen^
stellen. Seid die egoistische, wilde Mutter, die
eifersüchtig ihre Kinder hütet, indem sie über
sie alle Rechte und Pflichten ausübt, solange}
die Kinder körperlich ihres Schutzes bedürfen.

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