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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 108
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Die Denunziation als Rettung
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Abwehr
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0029

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Umfang acht Seiten

Einzelbezug 20 Pfennig


WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redaktion und Verlag: Berlin W 9 / Potsdamer Straße 18
Fernsprecher Amt Lützow 4443 / Anzeigenannahme durch
den Verlag und sämtliche Annoncenbureaus

Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN

Vierteljahrsbezug 1,50 Mark / Halbjahresbezug 3,— Mark /
Jahresbezug 6,— Mark / bei freier Zustellung / Anzeigen-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

DRITTER JAHRGANG

BERLIN MAI 1912

NUMMER 108

Inhalt* H. W.: Die Denunziation als Rettung / Die Abwehr / Internationale Sonderkünstler / VALENTINE DE SAINT-POINT: Manifest der
uiuail. futuristischen Frau I KURT HILLER: Fritz Stahl / ALFRED DÖBLIN: Der schwarze Vorhang / Dr. S. FR1EDLAENDER: Max
Steiner: Die Welt der Aufklärung / BEACHTENSWERTE BUCHER / UMBERTO BOCCIONI: La peinture des etats d’äme / II: Ceux, qui s’en
vont / Originalzeichnung

Die Denunziation als Rettung

Folgendes Schriftstück ging ein:
Dr. Hermann Felix Wirth
Lector an der Universität
Berlin-Steglitz, Kleiststr. 33, III
An die
Redaktion der Wochenschrift
„Der Sturm"
Folgende Eingabe wurde heute mit dem
beigefügten „Manifest" der s. g. „Futuristen"
— von mir dem Herrn Polizeipräsidenten voni
Berlin unterbreitet.
Dr. H. F. Wirth
Steg 1 itz, 25. April 1912
An den
Herrn Polizei-Präsidenten von Berlin
' von Jagow
Euer Hochwohlgeboren!
Anbei beehre ich mich, Euer Hochwohf-i
geboren folgendes auf der Potsdamerstraße heute
verteiltes Flugblatt zur näheren Kenntnisnahme
ergebenst zu unterbreiten. Als Ausländer, der
die sittlichen Qualitäten des preußischen Staates
und seine Organisation hat kennen und bewun-
dern lernen, befremdet ies mich im höchsten
Maße, einen solchen Unfug, der nur eine Speku-
lation ist auf die niedrigen Instinkte eines ge-
wissen Teiles der Großstadtbevölkerung, gedul-
det zu sehen, und ist mir solches nur er-
klärlich in der Annahme, daß an zuständiger
Stelle von dem Treiben dieser betreffenden
Elemente nichts bekannt ist.
Ich habe mir erlaubt, einige der in kr im i¬
nierten Stellen zu unterstreichen und glaube im
Namen Aller zu sprechen, denen Sitte, Gesittung
und Tradition noch etwas! gilt, ,wenn ich Euer
Hochwohlgeboren bitte, diesem groben Unfug
ein Ende bereiten und ihren „geistigen“ ;usw.
Veranstaltern das Handwerk legen zu wollen.
Es handelt sich hier um eine mit übelen sensatio-

nellen und destruktiven Tendenzen arbeitende
Wochenschrift, die sich den Namen „Der Sturm“
beige le gt hat, aber nach dem heute von ihr
verbreiteten „Manifest“ entschieden zu der Kate-
gorie der Schundliteratur gerechnet werden muß.
Ir sch ’ldiger Ehrerbietung
Dr. Hermann F. jWirth
Lector an der Universität Berlin
Weder der Name noch die Inversion) be-
stätigen den Ausländer, der Stellen „inkriminiert“.
Die Denunziation ist im übrigen so schmierig,
daß man diesem Wirth nicht einmal die Rech-
nung machen kann. Man kann dem Land
höchstens in schuldiger Ehrerbietung Glück
wünschen, dessen sittlichen Qualitäten dieser
Ausländer lästig fällt.

Abwehr
i
Es ist eine logische Folge der liberalen;
und sozialistischen Weltanschauung, den Künst-
ler nicht zu lieben. Der Künstler als Persön-
lichkeit drückt das Niveau der Nivellierung. Die
Menschen sollen allgemein, gleich und direkt sein.
Der Künstler kann nur durch das Gegenteil ent-
stehen und bestehen. Die Sprecher der Masse
sind gegen die Futuristen. Ich habe es nicht
anders erwartet. Das Blech des Herrn Stahl hat
ein Mitarbeiter schon zusammengestampft, so daß
ich mich mit dem Klümpchen nicht mehr zu
befassen brauche. Ich muß Herrn Robert
Breuer an mich halten, der alle Haltung ver-
loren hat. Mit erheblicher Sicherheit treten die
sogenannten besseren Kritiker jetzt für Cezanne,
Daumier und van Gogh ein. Sie erkennen sie
schlicht an. Sie nennen sie sogar Meister. Ab-
solute Klassikerehrung. Aber mit derselben
Sicherheit treten sie gegen Künstler derselben;
Qualität, zum Beispiel gegen Oskar Ko-

koschka und Umberto Boccioni auf.
Spaß muß sein. Wer keinen Kunstinstinkt 'be-
sitzt, muß seinen Erwerb in der Kunstwissen-
schäft suchen. Der ganz kopflose Herr Breuer;
behauptet, daß die Werke von Boccioni zumeist
npr durch einen Kommentar verstanden werden!
können. Das soll heißen: von Herrn Breuern
Er hat sich offenbar für sechzig Pfennig den;
Kommentar gekauft und versucht nun, die Bil-
der zu „verstehen“. Wer zur Kunst erst Kom-
mentare braucht, sollte wirklich nicht den Kom-
mentator spielen. Diese Weisheit kann sich das
Publikum für sechs Groschen selber kaufen.
Kommentare zu erklären ist noch einfacher, wje
Bilder nicht zu verstehen. Lieber sich versehen,
als verstehen wollen. Der pamhafte Kritiker, der
mir in der Ausstellung vor dem Bilde eines Eisen-
bahnzuges entzückt von den glänzend gemalten
brandenden Wogen sprach, kommt mit größerer
Geschwindigkeit zum Ziel, als wenn er das Meer
„verstehen" wollte. Sehen kann man lernen. Das
Verlernen des Verstehens, des rationalistischen
Denkens, scheint unmöglich zu sein. Man sieht,
schreibt Herr Breuer, das alles ist recht harmlos.
Nur, daß Herr Breuer nicht harmlos ist und’
nicht sieht. Herr Breuer behauptet weiter, daß
die Manifeste der Futuristen zuerst gelesen wer-
den müßten, ehe die Bilder betrachtet werden,
können. Wo steht dieses Gesetz? Leider liest
das Publikum die Kritiken eher, ehe es die Bilder
betrachtet. Dagegen müßte von Kunst wegen
eingeschritten werden. „Eine Empfindung, los-
gelöst vom Körperlichen, vermögen wir uns
nicht vorzustellen; wie sollten wir sie dann ge-
stalten können.“ Ein Denkfehler: das kleine Ich
des Herrn Breuer verbirgt sicher hinter einem-
großen Wir. Natürlich kann der Ich lose sich die
Empfindung, losgelöst vom Körperlichen, nicht
vorstellen. Er kann sogar nicht einmal das Kör-
perliche gestalten. Denn Natur kopieren heißt
nicht Kunst gestalten. Das Körperliche ist in jeder
Kunst nur ihr Skelett. Der ganze übrige Organis-
mus wird erst durch ihre Kraft geschaffen. Herr
Breuer muß über sich Bescheid wissen, wenn er
sich für einen Knochenmann hält. Die Unfähig-

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