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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 130
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Rivière, Jacques: Baudelaire, [3]
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Zech, Paul: Die arabischen Tänze der Yve und Vera Landrin
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Döblin, Alfred: Einakter von Strindberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0171

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Semblable aux visions päles qu’enfante l’ombre
Et qui nous enchainent les yeux,
La tdte, avec l’amas de sa criniere sombre
Et de ses bijoux precieux,
Sur la table de nuit, comme une renoncule,
Repose ....
Auf alles, was ist, auf alles, was, ohne Voll-
kommenheit, dennoch lebt, erstreckt sich die
stumme, traurige Bewunderung des Dichters. Er
vermählt sich allem Elend, er ist bereit für jedes
Gefühl. Unter den unendlich vielen Leiden ist
keines, das ihn zerstreut findet. Aber er ist nur
da, um sie zu lieben. Er besitzt zu viel Achtung
von ihnen, daß er sich entrüstete. Er behält diese
fürchterliche Unparteiischkeit, die nur eine unend-
liche Liebe zum Leben geben kann:
Loin du monde railleur, loin de la foule impure,
Loin des magistrats curieux,
Dors en paix, dors en paix, etrange creature,
Dans ton tombeau mysterieux;
Ton epoux court le monde, et ta forme Immortelle
Veille pres de lui quand il dort;
Autant que toi Sans doute il te sera fidele,
Et constant jusques ä la mort.x)
Jeder Vers im „Crepuscule du Matin“ erweckt
ohne Schrei, in Demut ein unglückliches Schicksal:
Les maisons cä et lä commencaient ä fumer.
Les femmes de plaisir, la paupiere livide,
Bouohe ouverte, dormaient de leur somnieil
stupide;
Les pauvresses, trainant leurs seins maigres
et froids.
Soufflaient sur leurs tisons et soufflaient
sur leurs doigts,
C’ötait l’heure oü parmi le froid et la lesine
S’aggravent les douleurs des femmes en gesine.
Comme un sanglot coupe par un sang ecümeux
Le chant du coq au loin dechirait Fair brumeux;
Une mer de brouillards baignait les edifices,
Et les agonisant dans le fonds des hospices
Poussaint leur dernier pale en hoquets inegaux.
Les debauches rentraient, brises par leurs
travaux. 1 2)
Poesie voller Liebe. Sie ist bei allem Un-
glück; sie begleitet jedes in seine Kammer. Sie
errät es, weit oder nah, durch Mauern hindurch.
Sie unterstützt die ganze Stadt, die duldet und
unter ihrer Last dahinlebt:
Elle refait le lit des gens pauvres et nus.3)
Aber das Mitleid, das sie hält, ist so heftig, daß
es schweigt.4)

1) „Une Märtyre“, p. 311
2) „Crepuscule du matin,“ p. 290 und 291
3) „La Mort des Pauvres“, p. 340
4) Es ist zweifellos unmöglich, einige empörte
Gedichte unberücksichtigt zu lassen; im Gegen-
teil, manchmal ist die Empörung der Gegenstand
des Gedichtes. — So sehr ergreift Baudelaire die
Partei des Unvollkommenen, dass er sich gegen
die Vollkommenheit wendet. Er verwirft das
Bild all dessen, was rein, unbeweglich, unbeug-
sam ist. Er zieht das müde Feuer, das uns ver-
zehrt, der unbeweglichen Härte des Idealen vor:
.Car j’eusse avec ferveur ton noble corps.
Et depuis tes pieds frais jusqu’ä tes noires
tresses'
Deroule le tresor des profondes caresses,
Si, quelque soir, d’un pleur obtenu sans effort
Tu pouvais seulement, ö reine des cruelles!
Obscurcir la splendeur de tes froides pru-
nelles.
(„Une nuit que j’etais pres d’une Juive affreuse,
133)

Konnten wir in diesen gemessenen Versen, die
eine ruhige, listige Seele zu leiten schien, vermuten,
welcher Geheimnisse Mitwisser wir am Ende ge-
worden wären, da wir ihnen Gehör schenkten?
Aber wir können nicht mehr entschlüpfen. Die
größten Leidenschaften haben sich in uns festge-
setzt, so groß, so weit, so erschöpfend, daß sie sich
widersprechen. Unsere ganze Seele mit der Hef-
tigkeit ihrer unvermuteten, mannigfaltigen Liebe
hat Baudelaire uns selbst gegenüber empfindsam
gemacht. Es ist möglich, daß dieses Geschenk
schwer ist und daß Mut dazu gehört, es zu er-
tragen. Diese Poesie beruhigt nicht; sie ist nicht
voller Illusionen. Aber sie richtet sich an all die,
für die nichts schöner ist, als ihr Herz zu kennen,
statt es in sich lasten zu fühlen. Oft werde ich der
Stimme dieses weisen, verzweifelten Engels
lauschen.

Die arabischen Tänze
der Yve und Vera Landrin
Diese beiden umwegig choreographisch kulti-
vierten Damen haben die blasse Kühle des Abend-
landes. Reizvolle Draperien neben der schönen
Geste und der gebändigten Linie der Salonattrak-
tion. Das fischige Blut der fiebernden Erregung
strömt nur in die vorm Spiegel rhythmitisierten
Arm- und Beingelenkigkeiten. Herz und Hirn
bleiben Pose, die kulissenhaft wirkt und in der
Befürchtung, daß das verhüllende Mieder spränge,
Gemessenheit vortäuscht, wo Leere gähnt.
Wenn Else Lasker-Schüler in den Nächten (der
Tino von Bagdad uns den Tanz in der Moschee
kreiert, so flutet das Blut aus dem Herzinnern
des seelischen Erlebnisses über zur suggestiven
Vitalität: „Immer wiegen meinen Lenden meinen
Leib, wie einen dunkelgoldenen Stern. — Ein Stern
ist mein Leib — streckt sich vipernhaft schnell,
und in den Steinring meines Ohrs verfängt sich
mein Tanz. Machmede macheii.“
Die Schwestern Landrin tanzen photographisch.
Kostüme und federnde Gelenkigkeit sausen vor-
über wie eine Parforcejagd im Film. Schön fri-
sierte Bildlichkeit ist das ganze Ereignis. Nicht
mehr. Schieiernde Draperie, schielendes: o, sieh,
mein gepflegtes Wadenweiß, die edle, klassi-
zistische Geste. Das „Arabische“ ist mehr oder
weniger ein plakathafter Nimbus sezessionistischer
Art. Die Landrins folgen den Spuren der soge-
nannten Reformer, als da sind: Ruth St. Denis,
Duncan und andere.
Verehrte Damen europäischer Blutkühle, warum
tanzen Sie nicht den Erntereigen unter der Dorf-
linde oder das amoröse Getändel im Casinoball?
Arabisch tanzen heißt: morgenländische Erleb-
nisse tanzrhythmisch widerzuspiegeln. Allerdings
nicht das Erlebnis der staunenden Kultivierten,
sondern seelische Entrücktheit der Handelnden.
Sublimierung, Photographie, ist noch lange nicht
Komprimitierung lebendigsten Odems.
Trotzdem muß ich sagen, daß von den Friseur-
künsten arabischer Stofflichkeit, wie sie die Schwe-
stern Landrin glaubhaft sicher interpretieren, der
Schwertertanz und der beschließende Groteskwurf
dem Auge einen Wohlgefälligkeitsdusel einflößen.
Nun ist aber das Schmelzende, Schmalzige der Be-
gleitmusik ebenso blaßblütig arabisch, wie das in-
fernalische Weiß (sonstwie vielleicht höher stim-
mungsvoll) der Zuschauerzitadelle. In diesem
Falle war ich mehr für das Beduinenlagerhaus
unter dem endlosen Sternhimmel der Sinaiwüste.

Und so blieb die Seele der fröstelnd Beteilig-
ten unberührt, und das schöne Spielerische des
Tanzes zog vorüber wie ein ekler Wolkenschat-
ten über Frühlingswiesen. Nicht einmal jene Um-
formung der Rilkeschen Tänzerin (das dortig Spa-
nische ist immerhin assimiliertes Gefühl) ließ sich
klären aus den Landrintänzen in der Identifizierung
mit arabischer Plastizität wie ich sie kenne aus
dem eingangs erwähnten: „Ich tanze in der Mo-
schee“ von Else Lasker-Schüler.
Präzisieren wir kurz den Wert solcher Tänze
überhaupt, so hat man allerhöchstens den nebeln-
den Umriß jener Uebersetzungskünste wie sie
mäßige Lyriker am undefinierbaren Sinn der chi-
nesischen und persischen Kunst ohnmächtig prob-
ten. Werte, die durch das dreifache Verwässe-
rungsgeschäft profitierender Hände nur die bare
Stofflichkeit bloßlegen, aber nichts vom Rhythmus
der morgenländischen Seele auffangen. Gutgelun-
gene Kopien, ohne die Suggestionsgewalt des gif-
tenden Originals.
Paul Zech

Einakter von Strindberg
Herrn Lantz, Herrn Adolf Lantz schulde ich
eine Reverenz. Er sitzt zwar nicht mehr im C. d.
W„ ich auch nicht — (vielleicht sitzt er also doch
da) — aber er hat es neulich gut gemacht am
Schiffbauer dämm, getreu der guten Tradition die-
ses Cafes (die schlechten Traditionen sind an
die Wand des Lokals gemalt, neben der Telephon-
zelle, über Meyers Konversationslexikon). Man
kann Theaterdirektor sein und gute Stücke gut
herausbringen: für diese Monstrosität schulde ich
Herrn Adolf Lantz eine Reverenz.
Die Klassiker (Egmont) gehören ein für allemal
auf die Denkmäler und in den Grünewald, an die
frische Luft. (Reinhardt wird sich freuen; aber
dieser mistet nur systematisch seine philologisch
verblödete Umwelt aus.) Was den verflossenen
Wolfgang Goethe anlangt, so wissen wir, daÄ ihn
Erich Schmidt trefflich interpretiert, und damit soll
man ihn auf sich beruhen lassen. Und nun August
Strindberg. Nach dem Olympier (!) diese beiden
Einakter (ich hörte: „Mit dem Feuer spielen“ und
„Gläubiger“), diese zerreißende Musik, diese See-
lenspannung unter zweihundert Atmosphären
Druck, diese herrische Beherrschtheit. Ich gehe
schon seit langen Jahren nicht freiwillig ins Thea-
ter, begnüge mich mit Kino, Zirkus und Kammer-
musik, ging auch in gewissem Hinblick nicht frei-
willig zu Strindberg, aber dieser Abend füllt breit,
satt und sättigend die theatralische Leere all dieser
langen Jahre aus. Er legt sich schwer über das
Unterhaltsame, Spannende, Geistreiche der Abende
dieser Jahre und drückt sie, quetscht sie, walzt sie
zu einer papierdünnen Scheibe zusammen. Aus
diesen Stücken ruft eine Stimme — es gibt nur eine
einzige Stimme, die ich dieser vergleiche» die
Dostojewskis, des Dichters der „Brüder Karama-
sow“ und des „Idioten“, eine einzige Stimme in der
Weltliteratur, soweit ich sie kenne. Es ist zum
Lachen und es ist zum Rasendwerden, daß unsere
letzten Jahrzehnte, die diese ungeheuren Dichter
hervorgebracht haben, sich verpflichtet fühlen, aut
Schöngeister, Phraseure, Aufklärlinge zurückzu-
greifen, auf töte Menschen, totgeborene Menschen.
Es zeugt dringend gegen diese Zeit, die viel, zu viel
für-Krieg, Wissenschaft, Aeroplane übrig hat. Völ-
ker und Staaten werden untergehen, die sogenannte

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