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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 111
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Marinetti, Filippo Tommaso: Tod dem Mondschein !, [1]: zweites Manifest des Futurismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0054

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Tod dem Mondschein!
Zweites Manifest des Futurismus
Von F. T. Marinetti
I
Futuristen!
— Hört, große ftammenschleudernde Dichter,
Brüder! . . . Hört! Paolo Buzzi, Federico De
Maria, Enrico Cavacchioli, Corrado Gövoni, Libero
Altomare! Verlassen wir Paralysia, zerstören wir
Podagra! Wir wollen den großen futuristischen
Schienenweg auf den Gaurisankar, den Gipfel der
Welt legen!
Wir verließen die Stadt mit einem geschmei-
digen, sicheren Schritt, der tanzen wollte und
Hindernisse suchte.. Um uns und in unseren
Herzen die gewaltige Trunkenheit der alten euro-
päischen Sonne, die zwischen weinfarbenen Wol-
ken einhertorkelte. Ja, sie schlug uns mit ihrer
purpurtropfenden Fackel mitten ins Gesicht,
dann zerplatzte sie, indem sie sich selbst ins
Unendliche ausspie.
Wirbel feindlichen Staubes; blindmachende
Verschmelzung von Schwefel, Kali und Salzen
für die Kirchenfenster des Idealen! . . . Guß
eines neuen Sonnenglobus! . . . Bald werden wir
ihn sehen!
— Feiglinge! Feiglinge . . . rief ich aus und
wandte mich an die Bewohner von Paralysia, die
sich unten in Massen stauten, einer Masse von
irisierenden Kugeln für unsere Zukunfts-
kanonen . . .
„Feiglinge! Feiglinge! . . . Was schreit ihr
denn wie bei lebendigem Leibe geschundene
Iltisse? . . . Fürchtet ihr, daß wir eure Hütten
einäschern? . . . Noch nicht! Wir müssen uns
doch wohl im nächsten Winter Heizmaterial be-
sorgen! Inzwischen sprengen wir alle Traditionen
in die Luft- wie wurmstichige Brücken! . . .
Krieg? Gewiß! . . . Unsere einzige Hoffnung,
unsere Existenzberechtigung und unser Wille...
Ja, der Krieg! Gegen euch, die ihr zu langsam
sterbt, und gegen alle Tote, die unseren Weg
versperren! . . ,
„Gewiß, unsere Nerven fordern den Krieg
und verachten die Frauen! Sicherlich, denn wir
fürchten ihre blumenrankigen, um die Knie am
Morgen des Abschieds geschlungenen Arme!
Was gehen uns die Frauen an, die häuslichen,
die Invaliden, die Kranken und alle klugen Rat-
geber? Ihrem unbeständigen, von düsteren
Kämpfen zitterndem Schlummer und schreck-
niszerschnittenen Leben ziehen wir den ge-
waltsamen Tod vor; wir verherrlichen ihn als
den einzigen, der des Menschen würdig ist, des
Raubtieres würdig ist. Wir wollen, daß unsere
Kinder fröhlich ihrer Laune folgen, brutal den
Greisen sich entgegensetzen und auf das pfeifen,
was die Zeit geheiligt hat. Das empört euch ? . . .
Ihr pfeift mich aus? . . . Lauter! . . . Ich habe
die Beleidigung nicht verstanden! . . . Stärker!..
Was ? Ehrgeizig ? . . . Natürlich! . . . Wir sind
ehrgeizig, denn wir wollen uns nicht an eurem
stinkenden Fell reiben, schlammfarbene, übel-
riechende Herde, die auf den alten Wegen der
Erde einhertrottet! . . . Aber „ehrgeizig“ trifft
die Sache nicht auf den Kopf . .. Wir sind
eher junge, trunkene Artilleristen . . . Und wohl
oder übel müßt ihr eure Trommelfelle an den
Lärm unserer Kanonen gewöhnen! . . .
„Aber das ist es auch noch nicht! Sucht
doch selbst! Was sagt ihr? Verrückte? . . .
Hurrah! Bravo! das ist das Wort! . . . Das
Wort, auf das ich wartete . . . Oh, oh, der Fund
der Funde! Nehmt dieses Wort aus massivem
Gold, sorgfältig und in feierlicher Prozession,
tragt es nach Hause, um es in dem eifersüchtig-
sten eurer Keller einzuschließen! Mit diesen
Worten zwischen den Fingern und auf den
Lippen werdet ihr noch zwanzig Jahrhunderte

leben können. Ich, ich sage: die Welt verwest
vor lauter Weisheit! . . .
„Deswegen lehren wir heute den metho-
dischen, den täglichen Heroismus; die Liebe zur
Verzweiflung, die das Herz fni.t aller Kraft zu
arbeiten anhält; die Gewöhnung an die Begeiste-
rung; die Hingabe an den Rausch . . .
„Wir lehren das Untertauchen in den düste-
ren Tod unter den festen, weißen Augen des
Idealen! Und wir werden mit gutem Beispiel
vorangehen, indem wir uns dem rasenden
Schlachtenschneider hingeben, der uns eine
scharlachrote Uniform anmessen und dann unsere
von Projektilen gebürsteten Haare mit Flammen
salben wird. Wie die Hitze eines Sommerabends
die Felder mit einem glitzernden Meer von Jo-
hanniswürmchen salbt.
„Jeden Tag müssen die Menschen ihre
Nerven mit tollkühnem Stolze elektrisieren! . . .
Die Menschen müssen in einem einzigen Coup
um ihr Leben spielen, ohne auf die betrügerischen
Croupiers und ohne auf die Balance des Roulette
zu achten, indem sie sich auf dem grünen Tuch
des Krieges wälzen, von der wiegenden Lampe
der Sonne ausgebrütet . . . Die Seele muß —
hört ihr — muß den Körper in Flammen
setzen, wie ein Brandschiff, das gegen den
Feind gesandt ist, gegen den ewigen Feind, den
man erfinden müßte, wenn er noch nicht
existierte! . . .
„Betrachtet dort in der Ferne die Getreide-
ähren, die in Millionen in Schlachtordnung auf-
gestellt sind! Diese Aehren, geschmeidige Sol-
daten mit zarten Bajonetten, ^verherrlichen die
Macht des Brotes, das sich in Blut verwandelt
um sprudelnd dem Horizont entgegenzueilen.
Das Blut — merkt es wohl — hat nur Wert
und Glanz, wenn es aus dem Gefängnis der
Arterien durch das Feuer oder das Schwert be-
freit worden ist! . . . Allen bewaffneten Sol-
, daten der Erde werden wir zeigen, wie man sein
Blut vergießen muß; aber vorher muß die große
Kaserne, in der ihr haust, gereinigt werden, ihr
Insekten . . . Bald wird es getan sein! ... In-
zwischen könnt ihr Wanzen die alten, schmutzigen
Betten aufsuchen, in denen wir nicht mehr
schlafen wollen.“
Als ich ihnen den Rücken wandte, fühlte ich
an meinen schmerzenden Schultern, daß ich in
dem riesigen schwarzen Netze meines Wortes
zu lange dieses gebundene, kranke Volk mitge-
schleppt hatte, dieses wurmstichige Volk, das in
der letzten Lichtwelle, die der Abend an den
Klippen meiner Stirn vorübertrieb, wie ein Fisch
zappelte.
II
Die Stadt Paralysia, mit dem Geschrei ihrer
Hühnerhöfe, mit dem machtlosen Stolz gebroche-
ner Säulen, mit ihren angeschwollenen Kuppeln,
die eine ärmliche Statue gebaren, ihren launen-
haften Zigarettenwolken über kinderspielzeug-
haften Mauern, die beim geringsten Stoß umzu-
fallen drohten: die Stadt verschwand hinter uns,
tanzend, wie unser schneller Gang es gerade
wollte . . .
Vor mir, in der Entfernung von einigen
Kilometern, erschien plötzlich der Palast der gött-
lichen Irren. Er lag auf der Kuppe eines zier-
lichen Hügels, der wie ein junges Huhn einher-
stolzierte.
— Brüder, — sagte ich — ruhen wir uns
das letztemal aus, bevor wir zum Bau des großen
futuristischen Schienenweges aufbrechen!
Wir lagerten uns in dem unermeßlichen
Narren haus der Milchstraße, im Schatten des
Palastes der Lebenden. Sofort hörte der Lärm
der großen Hämmer, Raum und Zeit, auf. Aber
Paolo Buzzi konnte nicht schlafen, denn sein
gekrümmter Körper zuckte unter den Stichen der
giftigen Sterne, die uns von allen Seiten über-
fielen.

— Bruder — murmelte er — verjage diese
Bienen, die auf der purpurnen Rose meines
Willens summen.
Dann schlief er wieder ein in dem visio-
nären Schatten des phantasiebeladenen Palastes,
aus dem der eintönige, wiegende, breite Gesang
der ewigen Freude emporstieg.
Enrico Cavacchioli schlief und träumte mit
lauter Stimme:
— Ich fühle meinen zwanzigjährigen Körper,
der sich verjüngt! Mit immer gebrechlicheren
Schritten schreite ich meiner Wiege entgegen . . .
Bald werde ich wieder in den Leib meiner Mutter
zurückkehren! . . . Alles ist also erlaubt! ... Ich
will zierliche Vasen, um sie zu zerbrechen! . . .
Städte, um sie zu zermalmen, menschliche
Ameisenhaufen, um darin zu wühlen! ... Ich
will die Winde zähmen und sie an der Leine
halten . . . Ich will eine Meute von Winden mit
geschmeidigen, fließenden Windhundrücken, um
die welken, bärtigen Wolken zu jagen!
Das Atmen meiner Brüder klang wie der
Schlummer, wie das ewige Anlaufen eines ge-
waltigen Meeres auf den Strand. Aber der un-
versiegbare und sprudelnde Enthusiasmus der
Morgenröte hielt sich nicht mehr in den Bergen,
so sehr hatte die Nacht mit allen Düften und
heroischem Schwung aufgeräumt.
Paolo Buzzi, emporgehoben von dieser Flut
von Delirium, wand sich wie unter dem Schrecken
eines Albdrucks.
— Hört ihr das Schluchzen der Erde? Sie
liegt im Sterben, im Schauder des Lichts! . . . Zu-
viel Sonnen haben sich über ihr fahles Lager ge-
beugt! Laßt sie schlafen, jetzt, immer! . . . Gebt
mir Wolken, damit ich ihre Haare und ihren
weinenden Mund verbergen kann! . . .
Bei diesen Worten streckte uns die Sonne
vom Ende des Horizontes ihr feuriges, rotzittern-
des Lenkrad entgegen.
— Auf, Paolo! — schrie ich da. Nimm dieses
Rad! ... Ich weihe dich zum Chauffeur der
Welt! . . . Aber, wir werden der großen Arbeit
des futuristischen Schienenweges nicht gewachsen
sein! . . . Noch ist unser Herz voll unreinen
Gerümpels: Pfauenschwänzen, pompösen Wetter-
hähnen und schön parfümierten Taschentüchern!
... Und wir haben aus unserem Hirn noch
nicht die düsteren Weisheitsameisen verjagt . . .
Wir brauchen Verrückte! . . . Auf! Befreien wir
sie! . . .
Wir näherten uns den von Sonnenfreude
strahlenden Mauern, indem wir ein düsteres Tal
durchwanderten. Dreißig Metallkräne hoben
kreischend kleine Wagen voller dampfender
Wäsche empor: dummes Waschhaus dieser
von aller Logik reingewaschenen Reinen!
Zwei Irrenärzte erschienen kategorisch auf
der Schwelle; aber da ich nur eine Automobil-
lampe in der Hand hatte, so zerschmetterte ich
ihnen den Schädel mit deren Griff aus blank-
geputztem Kupfer.
Aus den weitgeöffneten Toren strömten die
Verrückten, Männer und Frauen, zerlumpt und
halbnackt, zu Tausenden, wie ein Gießbach . . .
wie etwas, womit man das runzelige Gesicht der
Erde jünger machen und schminken kann.
Die einen wollten sogleich die funkelnden
Glocken schwingen wie Spazierstöcke aus Elfen-
bein ; andere spielten Reifen mit Kupferkuppeln!
Die Frauen kämmten ihre langen Wolkenhaare
mit Spitzen der Sterne.
— O Verrückte, meine geliebten Brüder,
folgt mir! Wir werden den Schienenweg auf
die Gipfel aller Berge legen, bis ans Meer! . . .
Wieviel seid ihr? ... . Dreitausend!... . . Zu
wenig! . . . Uebrigens wird die Langeweile und
die Eintönigkeit bald euren schönen Schwung er-
schöpfen! . . . Schnell! Laßt uns die Raubtiere
in den Menagerien um Rat fragen, die vor den
Toren der Hauptstadt lagern! ... Sie sind die

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