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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 144/145
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Delaunay, Robert: Ueber das Licht
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Wagner, Hermann: Die rote Flamme, [5]
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0254

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Wahrnehmung vereinigen. Man muß sehen
wollen.
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Mit dem Gehörsinn allein wären wir zu keinem
so vollkommenen und universalen Wissen vorge-
drungen, und ohne die Wahrnehmungsmöglichkeiten
des Gesichtssinnes wären wir bei einer Successiv-
Bewegung stehen geblieben, sozusagen beim Takt
der Uhr. Bei der Parität des Gegenstandes wären
wir verblieben, beim proizierten Gegenstand ohne
Tiefe.
In diesem Gegenstand lebt eine sehr beengte Be-
wegung, eine simple Folge von Stärkegraden. Im
besten Fall, kann man, bildlich gesprochen, zu einer
Reihe aneinandergehängten Wagen gelangen.
Architektur und Plastik müssen sich damit be-
gnügen.
Auch die gewaltigsten Gegenstände der Erde
kommen über diesen Mangel nicht hinweg, und
wäre es auch der Eifelturm oder der Schienenstrang
als Sinnbilder größter Höhe und Länge, wären es
die Weltstädte als Sinnbilder größter Flächenaus-
dehnung.
* * *
Solange die Kunst vom Gegenstand nicht los-
kommt, bleibt sie Beschreibung, Litteratur, ernied-
rigt sie sich in der Verwendung mangelhafter Aus-
drucksmittel, verdammt sie sich zur Sklaverei der
Imitation. Und dies gilt auch dann, wenn sie die
Lichterscheinung eines Gegenstandes, oder die
Lichtverhältnisse bei mehreren Gegenständen be-
tont, ohne daß das Licht sich dabei zur darstelle-
rischen Selbständigkeit erhebt.
Die Natur ist von einer in ihrer Vielfältigkeit
nicht zu beengenden Rythmik durchdrungen. Die
Kunst ahne ihr hierin nach, um sich zu gleicher Er-
habenheit zu klären, sich zu Gesichten vielfachen
Zusammenklangs zu erheben, eines Zusammen-
klangs von Farben, die sich teilen, und in gleicher
Aktion wieder zum Ganzen zusammenschließcn.
Diese synchromische Aktion ist als eigentlicher und
einziger Vorwurf (sujet) der Malerei zu betrachten.
Für die Uebersetzung verantwortlich
Paul Klee

Die rote Flamme
Von Hermann Wagner
Fortsetzung
„Guten Morgen, Herr Theobald!“ sagte sie und
rieb sich die Augen.
„Guten Morgen, Fräulein,“ erwiderte Herr
Theobald.
„Ich habe sehr gut geschlafen.“
Sie zog ihre Arme aus dem Bette hervor und
bettete sie unter ihren Kopf. So sah sie Herrn
Theobald zu.
„Wunderbar habe ich geschlafen! Gar nichts
mehr weiß ich von voriger Nacht! — Wie spät ist
es, Herr Theobald?“
„Acht Uhr, Fräulein Hermine.“
„Da muß ich wohl aufstehen, nicht wahr? —
Gott, ich bin gewohnt, so lange zu schlafen! Ich
bin selten vor elf aufgestanden! . . . Ja, man wird
faul, Herr Theobald, faul! . . .“
Herr Theobald zeigte auf das Waschgestell.
„Ich habe Ihnen Wasser zum Waschen hierher
gestellt,“ sagte er und gab den gemahlenen Kaffee
in das siedende Wasser.

Das Wasser brodelte und floß über. Die
glühenden Platten zischten.
Herr Theobald zog schnell den Topf zurück.
„Wie? Sie kochen sich selbst?“ rief Fräulein
Hermine.
„Was kochen Sie denn?“
„Kaffee,“ sagte Herr Theobald.
Er wies ihr nochmals die Sachen, die er ihr zu
ihrer Toilette bereit gelegt hatte, und begab sich
dann in die Kammer, um dort Ordnung zu machen.
Als er wieder heraustrat, war sie schon ge-
waschen und angekleidet. Sie stand gerade vor
dem Spiegel und ordnete ihr Haar.
Herr Theobald breitete über die eine Hälfte des
Tisches ein weißes Tuch, brachte Butter und Brot
und goß den Kaffee ein.
„Ich danke,“ erwiderte sie, nahm einen Stuhl
und setzte sich ihm gegenüber.
„Sagen Sie mir, Herr Theobald,“ fuhr sie fort,
während sie ein Stück Brot mit der guten gelben
Butter bestrich, „sagen Sie mir, womit soll ich
Ihnen für alles Freundliche, das Sie mir erwiesen
haben, danken.“
„Es ist nicht der Rede wert, Fräulein Her-
mine.“ sagte Herr Theobald und nickte ihr freund-
lich zu.
Die Aufrichtigkeit, mit der sie ihn ansah, der
ruhige und einfache Ton ihrer Stimme, taten ihm
wohl.
„Nein, Herr Theobald, ich bin Ihnen viel schul-
dig. Mehr als Sie denken . . . Sehen Sie, gestern
da glaubte ich noch, es Ihnen heimzahlen zu kön-
nen, — — in der Art eben, wie unsereins das
heimzahlt . . . Aber Sie — —“
„Ach, lassen Sie das!“ unterbrach sie Herr
Theobald, der nicht einmal rot geworden war,
sondern sich Herr der Situation fühlte.
Es kam eine plötzliche Lustigkeit über ihn,
alles Düstere war von ihm genommen, lachen,
laut und frei lachen hätte er können!
„Sie sind ein lieber Mensch.“ sagte sie und sah
ihn mit großen und erstaunten Augen an, „ein
eigentümlicher Mensch . . . Warum haben Sie
eigentlich keine Frau?“
„Warum ich keine Frau habe? Das ist sehr
einfach. Ich habe keine gefunden, die mich hätte
haben wollen —“
Fräulein Hermine schüttelte den Kopf.
„Das glaube ich nicht,“ sagte sie und in dem
Tone, wie sie es sagte, lag soviel aufrichtige
Schätzung, daß Herr Theobald sich beschämt
fühlte.
Er wich daher schnell aus.
„Reden wir doch von Ihnen, liebes Fräulein,“
sagte er. „Warum denken Sie nicht daran, sich
irgendwo ein ruhiges und festes Leben zu sichern?
Sie sind doch noch jung!“
„Ich bin nicht mehr jung,“ sagte sie, und Herr
Theobald sah sie das erste Mal traurig.
Es war aber keine heiße Traurigkeit, die klagt,
sich windet und stöhnt, sondern ein dumpfer, alter
Schmerz, den die Zeit stumpf und gleichgültig ge-
macht hat, der es verlernt hat, Grimassen zu
schneiden, der zynisch geworden ist und grinsen
und lächeln kann . . .
Herr Theobald blickte dem Weibe in das Ge-
sicht und war ergriffen.
Und doch durchströmte ihn eine geheime
Freude.
Sie ist schwach, sie ist am Ende, sie braucht
Hilfe, durchzuckte es ihn.
Daß sie schwach war und Hilfe brauchte, er-
füllte ihn mit Freude! . . .
„Mit mir ist es aus . . .“ fuhr sie fort, und man
konnte erkennen, daß es ihr eine qualvolle Last
war, zu reden. „Noch ein paar Jahre, — dann
bin ich hin!“

Sie lachte kurz und trocken.
„Sprechen Sie nicht so,“ bat sie Herr Theo-
bald.
„Sie sehen zu schwarz. Es ist noch nicht alles,
was Sie verloren haben! Wollen Sie mir, — Sie
werden sehen, es wird dann alles anders!“
Sie lächelte ihn an.
„Wenn man Sie reden hört, könnte man fast
glauben, es sei wirklich so leicht. Sie sind wie
ein Kind, Herr Theobald! O, ich bin viel, viel
älter als Sie! . . . Das Leben draußen ist ganz
anders!“
Herr Theobald erschauerte.
Wem sagte sie das?
Wer wußte es besser als er, daß das Leben
grausam und häßlich war, er, der sich nie mit ihm
im Einklang befunden hatte.
War diese da auch eine, die brünstig gegangen
war, eine Seele zu suchen, und die auf dem har-
ten Pfade des Lebens zusammengebrochen war?
Warum sollte sie es nicht sein.
War es schließlich nicht ein jeder Mensch ein-
mal in einem Momente seines Lebens, und kam es
nicht nur darauf an, diesen Moment zu er-
kennen? . . .
Herr Theobald war so von Mitgefühl und Liebe
durchglüht, daß er hätte die Arme ausbreiten
mögen, um die ganze Welt, die ganze leidende
Welt zu umschließen.
„Glauben Sie nicht, daß Sie allein abseits gehen,
liebes Fräulein,“ sagte er und seine Augen leuch-
teten.
„Ein jeder von uns hat wohl etwas, was an
ihm frißt ... Ich habe schon einmal gedacht: es
geht nicht mehr weiter-ich habe mich durch
die Tage geschleppt, ich war wund und stumpf...
und sehen Sie. es ist immer wieder gegangen ...
Da drinnen muß es sitzen, da, inwendig . . . hören
Sie hinein! Dort, wenn der Schmerz am ver-
zehrendsten brennt, dort singt etwas, eine Alelodie
klingt, eine leise, süße Melodie . . .“
Und er vergaß sich ganz, lehnte sich in den
Stuhl zurück, schloß halb die Augen und sprach
immerzu. Es floß von seinen Lippen so leicht,
niemals fehlte ihm der richtige Ausdruck.
Träume flogen ihm zu, von einer unerhörten
Schönheit und Größe, er nahm sie in sich auf,
durchtränkte sie mit dem, was ihm eigen war,
und breitete sie vor ihr aus: wie ein schweben-
des Stück Leben eilte alles an ihr vorbei . . .
Woher hatte er das alles? Woher hatte er es
doch? Er wußte es nicht, war erstaunt, zu Tode
erschrocken darüber, und doch war ihm auch, als
müsse es so sein, als hätte es schon immer so in
ihm gelegen und als dränge es sich nur heute
jauchzend und sausend heraus —
Langsam wurde er stiller und wehmütiger, und
seine Augen füllten sich mit Tränen.
Er erzählte ihr von seiner Liebe und von seiner
Sehnsucht, und davon, daß alles immer ein Traum
geblieben sei . . .
Ach, sie möge nicht glauben, daß er dieserhalb
ein Enttäuschter sei, einer, dem das Leben nichts
mehr zu geben habe!
Er sei glücklich!
Glücklich und reich sei er!
Wer könne sie ihm rauben, seine Liebe?
Wer könne das?
Niemand I
Kein Mensch und kein Gott!
Die trüge er mit sich herum:
Sie erfüllte sein ganzes Wesen, durch sie sähe
er die ganze Welt!
Ja, darauf käme es an:
Die Welt durch das zu sehen, was man an
ihr liebe!
Ob sie nicht den Baum da draußen sehe, mit

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