Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

DOI Heft:
Nr. 121/122
DOI Artikel:
Scheerbart, Paul: Mitternachtsbesuch
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0121

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Mitternachtsbesuch
Von Paul Scheerbart
In der Nähe von Insforuck gibt es ein altes
Schloß, in dem alte Geister herumspuken sollen.
Die Gräfin C„ die im vorigen Jahre in Innsbruck
war, wollte natürlich in diesem Schlosse wohnen,
um die alten Geister kennen zu lernen.
Und der Kastellan des alten Sclosses ließ sich
nun auch allmälich rühren — und richtete der Grä-
fin C. drei alte Zimmer mit Empiremöbeln aus dem
Jahre 1780 wohnlich ein und ließ die Dame da woh-
nen.
In den ersten acht Tagen passierte gar nichts.
Dann aber kam die Gräfin an einem Sonntage
sehr spät des Abends nach Hause und fand auf ih-
rem Schreibtisch eine große Karte — auf der stand
mit großen Lettern:
„Meine Gnädigste, gleich nach zwölf Uhr werde
ich dreimal an Ihre Tür klopfen. Wenn Sie „Her-
ein“ rufen, werde ich hereinkommen. Wenn sie
aber laut „Draußenbleiben“ rufen, werde ich drau-
ßen bleiben. Ich bin im Jahre 203 vor Christi Ge-
burt im alten Ephesus geboren und war damals
Bildhauer“.
Die Gräfin holte ihren geladenen Revolver aus
der Schublade ihres Schreibtisches heraus und leg-
te den Revolver auf die Karte des alten Bildhauers.
Dann schlug die 'Kastenuhr langsam und be-
dächtig zwölfmal, und danach klopfte es an der
Tür langsam und bedächtig dreimal.
Die Gräfin sah ihren Revolver an. lächelte und
rief „Herein“.
Da wurde die Tür heftig aufgerissen, und ein
hochgewachsener bartloser Grieche trat ins Zim-
mer.
Das hellblaue, sehr dünne Faltengewand des
Griechen zeigte an den Rändern feine Goldsticke-
reien, die schwarzen, lockigen Haare und die fun-
kelnden Augen gaben dem Gesicht einen räuberi-
schen Anstrich.
Und nun zog der Herr aus Ephesus einen klei-
nen blitzenden Hammer aus seinem hellblauen Fal-
tengewande heraus und ließ dabei seinen nackten
sehnigen Arm sehen, der auch braun aussah.
Die Gräfin spannte ruhig den Hahn ihres großen
Revolvers auf und sagte lächelnd:
„Komödiant!“
Der Grieche jedoch verbeugte sich höflich und
sagte:
„Mein Name ist Megasinthes! Darf ich hier
bleiben — oder — soll ich wieder gehen?“
„Setzen Sie sich!“ erwiderte die Gräfin.
Herr Megasinthes setzte sich.
„Sie sind also“, begann die Gräfin C. zögernd,
bereits über zweitausend Jahre alt. Sie haben
sich sehr gut konserviert. Das ist nicht zu bezwei“
fein. Mit welchen Mitteln haben Sie sich Ihre Ju-
gend so gut eriialten können?“
Her Megasinthes erwiderte schnell:
„Wir dürfen leider keine Zeit verlieren, da ich,
wie Sie wissen, doch ein Geist bin, der nur für eine
kurze Zeit den Augen der Menschen sichtbar
bleibt“.
„Dann fassen Sie sich kurz!“ gab die Gräfin
zurück.
Und der Herr Megasinthes sprach:
„Meine Gnädigste, Sie werden sich wundern,
daß ein Geist in so dringlicher Art sein Anliegen
anbringt. Aber —- die Sache ist auch sehr inter-
essant und bedeutsam. Ich habe Sie, meine Gnä-
digste, vor drei Wochen in einem Gespräch mit
drei Bildhauern beobachtet und belauscht. Sie wa-
ren da der Ansicht, daß die Darstellung des nackten
menschlichen Körpers das Endziel aller plastischen
Kunst sei. Um das zu beweisen, führten Sie die
Plastik der alten Hellenen vor. Ist es nicht so?“

„Ja!“ rief die Gräfin C.; „wollen Sie sich dage-
gen auflehnen?“
„Allerdings“, versetzte der Herr aus Ephesus
lächelnd, während er sich in seinen Sessel zurück-
lehnte, „ich muß es zunächst bestreiten, daß die
griechische Kunst die Darstellung des nackten
menschlichen Körpers bevorzugte. Die Zahl der
weiblichen Gewandstatuten ist so groß,, daß dage-
gen die Frauengestalten, die im alten Hellas von
den Bildhauern nackt dargestellt wurden, gar nicht
in Betracht kommen. Der „männliche“ Körper ist
wohl öfter nackt dargestellt. Aber — daß die grie“
chischen Bildhauer in diesem nackten menschlichen
Körper das Endziel ihrer Kunst erblickten -— das
darf nicht einmal eine Gräfin in Innsbruck behaup-
ten — das geht zuweit. Wissen Sie nicht, wie oft
wir Centauren dargestellt haben? Wissen Sie
nicht, welche Rolle die bocksfüßigen Faune in unse-
rer Kunst spielten? Vergessen Sic den großen Per-
gamonfries, in dem fast alle Titanen Beine haben,
die zu Schlangenleibern geworden sind? Der
menschliche Körper schien uns eben nicht vielsei-
tig genug — er mußte durch die Körperformen der
Tierwelt ergänzt und bereichert werden“.
Die Gräfin C. besah den Herrn Megasinthes
durch ihre Lorgnette und sagte mit weicher Stimme*
„Nun — ich kann nicht umhin, zu behaupten,
daß die menschlichen Körperformen doch reicher
und vielseitiger sind als die tierischen Körperfor-
men; der Mensch hat doch einen Körper, der in-
folge seiner geistigen Ausbildung höher entwickelt
ist. — als der Tierkörper“.
„Diese höhere Ausbildung des Geistes“, er-
widerte Megasinthes, „kommt doch im Kopfe des
Menschen und allenfalls noch in den Händen des
Menschen zum sprechenden Ausdruck“.
Die Gräfin C. sah eine Weile nachenklich auf
die Spitzen ihrer Lackschuhe und sagte dann:
„Aber das Fell des Menschen ist nicht so be-
haart“.
„O“, rief der Grieche, ;,dann rasiere man die
Löwen und Tiger; wie man Pudel rasiert, und dan11
wird man in den Gliedmaßen dieser Tiere mehr
Muskel- und Sehnenspiele sehen — als in den Kör"
pern der menschlichen Athleten. Als ich in Ephe-
sus lebte, hat man zu diesem Zwecke die wilden
Tiere rasiert. Und man hat dann die Körper
dieser wilden Tiere weicher und ausdrucksvoller
gefunden, als die Körper der kraftvollsten Men-
schen. Glauben Sie denn, daß mein Arm interes-
santer ist als ein Pferdebein?“
Der Bidhauer zeigte seinen Arm und erklärte
seine Vorzüge und Nachteile und anderseits die
Vorzüge der Pferdebeine.
Die Gräfin C. behauptete nun, daß die künstle-
rische Tätigkeit der Hände doch einen Einfluß auf
die Armbildung haben könnte.
Davon wollte der Bildhauer nicht viel wissen;
er meinte, daß ein Pantherbein doch mehr zum
Zupacken und Festhalten gebraucht würde, als ein
Menschenarm — und daß die geistige Tätigkeit im
Arme des Menschen doch einen greifbaren Aus-
druck bislang noch nicht gefunden hätte.
Dann sagte die Gräfin, um dem Gespräche eine
andere Wendung zu geben:
„Es erscheint mir gar nicht normal,. wenn die
Menschen nicht im Menschen das Herrlichste er-
blicken wollen“.
„Oho!“ rief da heftig der alte Hellene, „wir
können doch nicht die Selbstverherrlichung zum
normalsten aller Dinge machen; die Chinesen und
Japaner bilden mit Vorliebe Drachen und Blumen,
der Indier hat seine Götter mit mehreren Köpfen
und sehr vielen Armen -— wir hatten in Ephesus
Aehnliches. Denken Sie'auch an das Fratzenhafte
in der japanischen Kunst, das durchaus über die
menschlichen Gesichtsformen hinauskommen möch-

te. Denken Sie an die Plastik der Aegypter und
Assyrer!“
„Wollen Sie“, fragte da die Gräfin erstaunt,
„die Kultur der Aegypter und Assyrer niedriger
stellen als die Kultur der Hellenen?“
„Als ich“, versetzte der Grieche hart; „in
Ephesuss lebte, im zweiten Jahrhundert vor Ihrer
Zeitrechnung, da dachte kein Mensch daran, die
Kultur der Aegypter und Assyrer, niedriger zu
stellen als die der Hellenen; vergessen Sie doch
nicht, daß wir damals sehr fest zusammenhingen
und längst vergessen hatten, die älteren Kultur-
völker für barbarische in Ihrem Sinne zu halten“.
Die Gräfin C. stand auf und ging heftig im Zim-
mer herum, starrte dann den alten Griechen lange
an und sagte: „Aber die moderne europäische Pla-
stik haben Sie doch noch nicht kennen gelernt“.
„O doch“, antwortete stotternd der Herr aus
Ephesus, „ich habe einen Teufel von Thomas The-
odor Heine gesehen — der hatte keinen mensch-
lich gebildeten Leib. So was gefiel mir sehr. Das
war fast „alte Ephesusrichtung“. Sehen Sie,, wir
wollten damals nicht gern erinnert werden daß wir
Menschen sind“.
Die Gräfin C. setzte sich wieder und sprach:
„Erzählen Sie mir mehr von der alten Ephesus-
richtung, die Geschichte interessiert mich sehr“.
„Die Gelehrten Europas“, versetzte der Herr
Megasinthes langsam, „werden meine Bemerkungen
für leeren Humbug halten, da meinen Worten nicht
die entsprechenden plastischen Zeugen an die Seite
zu stellen sind“.
„Das tut nichts.“ sagte die Dame „sprechen
Sie nur!“
„Wir waren,“ sagte der Herr aus Ephesus,
„vielfach bemüht, die alte Götterwelt der Aegyp-
ter und die Vorderasiens in neuer phantastischer
Weise herzustellen — und verbanden daher viele
Tierformen mit den Körperformen des Menschen.
Das meiste davon ist später durch religiöse Eiferer
zugrunde gegangen. Aber entstanden ist davon
sehr viel —- und wär’s hier — so würden Sie er-
kennen, daß die hellenische Zeit weit davon entfernt
war, im menschlichen Körper den Gipfel der pla-
stischen Erscheinungswelt zu erblicken. Wenn
Sie die modernen Bestrebungen der allermodern-
sten Europäer so kennen würden, wie ich, so wä-
ren sie bald der Meinung, daß auch im heutigen
Europa die Plastik bald andere als menschliche
Pfade wandeln dürfte“.
„Sie erzählen mir,“ rief die Gräfin heftig; „die
allergrößten Neuigkeiten. Was will man denn dar-
stellen — wieder die alten ägyptischen und vor-
derasiatischen Gottheiten in neuer Auffassung?“
„Ich weiß nicht/4 flüsterte der Geist müde und
wurde dabei merklich blasser; „es gibt heute auch
Bilhauer, die den Marsbewohner plastisch in die
Erscheinungswelt der Erdbewohner führen möch-
ten. Da werden denn ganz neue Organe konstru-
iert, und von diesen neuen Organen ist vieles viel
interessanter als alles das, was wir in Ephesus zu-
sammenhauten. Vergessen Sie auch nicht, daß der
alte Böcklin mit seinen 'Tritonen und Seeungeheu-
ern einen großen Einfluß auf die moderne Plastik
ausübte. Ich muß aber gehen — denn ich vergehe
schon. Ich erlaube mir, Ihnen meinen Hammer als
Andenken hier zu lassen“.
Herr Megasinthes erhob sich und ging schwair
kend zur Tür, öffnete sie leise und machte sie leise
wieder hinter sich zu.
Der Hammer lag auf dem Teppich.
Die Gräfin griff nach ihrem Revolver und be-
dauerte, nicht nach dem Geiste geschossen zu ha-
ben.
„Dann hätte ich doch“, rief sie erregt; „gleich
erfahren: ob dieser Geist ein Komödiant war oder
nicht“,

118
 
Annotationen