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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 152/153
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Walden, Herwarth: Zeitgeschichte
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Für Kandinsky
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers: ein Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0286

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len, nach Art anderer Wiener das Gute und
Unvergleichliche, das seine Vaterstadt noch immer
besitzt, vor ganz Europa in den Staub zu ziehen.“
Herr Hofrat Schlenther liebt es, das Schwarze
zu bestrahlen. Aber das hilft alles nichts: Wien
bleibt Wien. Und Schlenther Minor.
Empfohlenes Buch
„Anläßlich“ des Regiermigsjtibiläums gibt ein
Berliner Verlag ein Prachtalbum heraus: Der
Deutsche Kaiser im Film. Schon die Inhaltsangabe
veranlaßt mich, diese Pracht den Lesern ange-
legentlich, sogar warm zu empfehlen: „Heil
Kaiser Dir, Gedicht von Eugen Stangen, zu einem
vierstimmigen Männerchor vertont von Hofkapell-
meister Johannes Döbber. Merkworte und Sen-
tenzen mit Autogramme n von F ritz E n -
g e 1, H a n n s H e i n z Ewers, Alfred Holz-
bock, Geheimrat L a ut c n b u r g, Leo
Leipziger, Sigmar Mehring, Rudolf
Presber, Felix Salten, Julius Stet-
ten h e i m und F e d o r von Z o b e 11 i t z. Da-
zu noch literarische Beiträge von dem Sportredak-
teur des Berliner Tageblatts, zwei Direktoren und
Nanny Lutze. Alles zusammen für sechs
Mark.
Der Frackkunstkritiker
Herr Dr. Felix Poppenberg, Mitarbeiter der
durchaus vornehmen und überaus litterarischen
Neuen Rundschau und Kunstkritiker von total an-
gesehenen Tageszeitungen, dichtet jetzt nicht nur
Kritiken für die Schneiderfirma Hermann Hoff-
mann, nein, er dichtet, wie der Dämoniker Hanns
Heinz Ewers, Mitarbeiter am Buche der Deutsche
Kaiser im Film, auch für die Herrenfirma Edm.
Wünsch. Mit sehr vornehmen Frackzeichnungen
von u n s e r e m lustigen Leonard. Die B. Z. am
Mittag erweckt durch die Plazierung dieses
frackkunstkritischen Essays den Eindruck, als ob
es sich um bezahlte Reklame handle. Herr Dr.
Poppenberg fühlt sich kunstkritisch so gedrängt,
sich über den Frack zu äußern, daß er statt der
Scheine den Schein mit in den Kauf nimmt. Ilm
zwingt sein Gott, gratis zu sagen, was er unter
der unkorrekten Herrenkleidung leidet. Und mit
welcher farbigen Poesie umgibt Herr Dr. Poppen-
berg die schwarze Konfektion. „Der Frack ist eine
Abendschönheit, ein graziöser dunkler Nachtfalter
in der zärtlichen claire de la lune, oder lieber noch
das künstliche Licht suchend, das auf ihn aus
juponverhüllten elektrischen Lampen herabrieselt.“
Nun weiß man endlich, wozu jetzt die abgelegten
Jupons benutzt werden. Sie rieseln herab. Der
Frack verläßt Madame la lune, die juponlose.
..Die Linie von der Achselhöhle verläuft sichtbar
pointiert in die Taille hinein. Hier sitzt der
Lebensnerv des Frackes, hier liegen die starken
Wurzeln seiner Kraft.“ Unter der Achselhöhle
läßt sich die Wurzel vielleicht noch halten. Aber
die Wurzel auf der Taille scheint mir für den
Lebensnerv des Frackes doch nicht tief genug zu
sein. Dafür wird Herr Dr. Poppenberg desto tie-
fer: „Und auch in den leidenschaftlichen Momen-
ten bleibt er der ruhende Pol in der Erscheinun-
gen Flucht“ (Schiller!). Denn „das ist die Tugend
des gutsitzenden Frackes in allen Lebenslagen.“
Und dann „nie darf er weg sc h w i m m c n , ihm
steht keine vogelfrei flatternde Sonderexistenz
zu.“ Also nicht Fisch noch Fleisch darf er sein.
Worin hat der Frack seine Schönheit? „Der
Frack hat seine Schönheit in sich.“ Nun wird der
Kunstkritiker ganz Kunst. „Der Abendanzug hat
seine farblichen Reize. Sie stammen aber nicht
aus dem bunteren Bereich von Aquarell- und Oel-
bild, sondern aus der tonigen Sphäre der Gra-

phik.“ Bezugsquelle: Edm. Wünsch. Aber „der
wirklich gut angezogene Mann denkt beim An-
ziehen auch au das Ausziehen. Auch seine Des-
sous werden den Einklang wahren.“ Bezugs-
quelle Edm. Wünsch. Und nun erhebt sich Herr
Dr. Poppenberg bei den Dessous vom Kunstkri-
tiker zum Dichter: „Wenn er sehr kokett (man
achte auf das fehlende ist, höchster Lyrismus),
trägt er dann („dann“) am Ende unter dem stren-
gen Dreß seidene Kniehosen (am Ende?) und
lange Seidenstrümpfe und gewiß („gewiß“) ein
Hemd, das vorn ganz offen. (Achtung: ist fehlt.)
Ohne das grotesk-verzweifelt-herumangelnde
Strecken der Arme zum Himmel kann man es ab-
gleiten lassen, und es bleibt, —- weiß hinter uns
im wesenlosen Scheine . . .“
Weiße, wesenlose Scheine?
H. W.

Für Kandinsky
Protest
Siehe Nummer 150/151
Die Unterzeichneten erheben hierdurch gegen
die Beschimpfung des Künstlers Kandinsky im
„Hamburger Fremdenblatt“, vom 15. Februar, den
allerschärfsten Protest und sprechen dem Belei-
digten ihre Sympathie aus:
Egon Adler, München
Arthur Babillotte, Leipzig
Adolphe Basler, Paris
Bongard, Paris
Blaise Cendrars, Directeur de Hommes Nou-
veaux, Paris
S. Delaunay-Terck, Paris
Dr. Fritz Bahrmann, Jena
TL Hayden, Paris
Olivier Hourcade, Paris
Jean Jacques, Berlin
B. J. Kerkhof, Gennep-Holland
Alfred Loeb, Paris
Maurice Princet, Paris
Curt Seidel, Turin
Alexandre Smirnov, Professor an der Univer-
sität St. Petersburg
Oskar Stein, München
J. Stern, Paris
Erich Wichmann
Guillaume Apollinaire
Ich habe oft die Werke Kandinskys bei Ge-
legenheit Ihrer Ausstellung in Paris besprochen.
Ich benutze gern die Gelegenheit, meine ganze
Hochachtung für einen Künstler auszusprechen,
dessen Kunst mir eben so ernst wie bedeutend zu
sein scheint
Dr. Fritz Burger / Privatdozent zu München
Ich gebe Ihnen gern zur Veröffentlchung zur
Kenntnis, daß eine solche „Kritik“ nur eine dreiste
und dumme Beschimpfung von Seiten des Unver-
standes ist, der eben dort, wo er die Grenze sei-
ner angelernten Schulweisheit sieht, zu solchen
Mitteln greift, um den eigenen Rückzug zu mas-
kieren. Man kann ehrlich bekennen, daß man
Kandinskys Schaffen für verfehlt hält, aber das
Wesen jeder Kritik besteht darin, daß man sich
in der Welt oder auf dem Boden desjenigen be-
wegt, der kritisiert werden soll, um innerhalb sei-
ner Ideen zuzustimmen, oder zu verurteilen. Das
mag im vorliegenden Fall schwer sein, enthebt
aber die Kritik nicht von dieser selbstverständ-
lichen Verpflichtung.

Lothar von Kimowski
Ist Kandinsky a u f A b weg e n?
Sicher nicht. Er untersucht die Bildwirkung,
ohne Gegenstandsvorstellung zu geben.
Dazu bemerke ich: Man schneide 'aus einem
großen Bogen Packpapier größere und* kleinere
Vierecke und lege das Papier mit den Ausschnitten
am" bekannte Bilder. Man wird dann leicht Stel-
len aus den Bildern ausschnciden können, die gar
keinen erkennbaren Gegenstand zeigen.
Erweisen sich, diese Ausschnitte als anregend,
wertvoll und interessant im Sinne Kandinskys, dann
ist das Bild von Wert. Zeigt es in solchen Aus-
schnitten beliebiger Stellen Seife, Oel oder Schmutz
statt Handschrift und Farbe, dann stecke man es
mit gutem Gewissen in den Ofen.
Das ist meine Stellungnahme zu Kandinsky.
Professor Dr. Theodor Volbehr Kaiser-Fnedrich-
Museum der Stadt Magdeburg
Mir selbst ist Kandinsky in seiner Theorie und
in seiner Praxis außerordentlich interessant, ich
habe in verschiedenen Vorträgen dieses Winters
ihn zu würdigen versucht.

Die Sehwermut des
Genießers
Fortsetzung
Ein Roman
Von Arthur Babillott©
Als ihm zum erstenmal die Augen für die Bunt-
heit der Landschaften aufgegangen waren, hatte
er das Gefühl, in einen tiefen Schacht zu stürzen
und endlich in einer Blumenwildnis anzulangen,
über und über von Düften bedeckt. Er war ein
Knabe von zehn Jahren. Seine Lehrer wunderten
sich über die Teilnahmlosigkeit, in der er den
Schönheiten der Natur gegenüber verharrte, und
konnten nicht begreifen, daß ein Mensch bis in
sein zehntes Lebensjahr keinen Sinn für das, was
um ihn her wuchs und grünte und gedieh, be-
sitzen sollte. Sie waren geneigt, ihn für beschränkt
zu halten, und rieten seinem Vater, ihn nicht stu-
dieren zu lassen, sondern ihn in der Bewirtschaf-
tung des großen Gutes, das einmal sein Eigentum
wurde, tüchtig zu machen. Eines Tages aber trat
seine glühende Liebe zur Landschaft hervor. An
einem Morgen stand er auf der Freitreppe des
väterlichen Gutes und blickte die lange gerade
Pappelallee hinab, deren Ende ganz hinten in den
Himmel zu laufen schien. Er ahnte nichts, sondern
blickte ganz teilnahmios in den grauenden Tag und
hielt seine Gedanken ganz in sein Inneres ver-
senkt. Die Sonne ging auf und brannte ihm in das
Gesicht und erweckte seine Liebe. Er stand wie
ein Geblendeter und stieß einen leisen Schrei aus,
er meinte, plötzlich wesenlos geworden zu sein,
und fühlte doch bis zum Schmerz den Fall seines
Körpers in einen tiefen Schacht; er meinte, die
Kraft seiner Lungen verloren zu haben und atmete
doch den Duft der tausend und tausend Blumen.
Er hatte eine Vision, durch die er zum Leben er-
weckt und auf die Bahn gelenkt wurde, die ihm be-
stimmt war. Der Heraufstieg der Sonne am Ende
der Allee, den er seltsamerweise noch nie be-
obachtet hatte, wurde ihm zu Musik, zu einer Mu-
sik, so strahlend, daß sie ihn im ersten Augenblick
blendete, dann aber das Licht seiner Bestimmung
in ihm entzündete. Es war ein Mysterium, das er
in seiner Jugendlichkeit noch nicht begriff, das er
aber gläubig hinnahm als die Gnade einer Macht,

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