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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 152/153
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Für Kandinsky
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers: ein Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0287

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August Macke
Linoleumschnitt


die er später in dem Begriff Künstlertum erkannte
und verehrte.
Von diesem Tage an war er der Musik ver-
fallen. Ein Tönen hob in ihm an wirr und mystisch
noch, aber in seiner Stärke und Beharrlichkeit er-
kennen lassend, daß es nie mehr schweigen werde.
Nun war ihm der Weg gewiesen. Die Lehrer, die
ihn für beschränkt gehalten hatten, schüttelten die
Köpfe und konnten nicht verstehen, daß ein Mensch,
der bis dahin auch nicht das geringste Interesse
für Musik bekundet hatte, plötzlich so tönereich
sein sollte. Sie sprachen mit dem Vater darüber
und gaben zu erkennen, daß sie das Ganze für eine
Selbsttäuschung des Knaben hielten. Der Vater
war vorsichtig und beobachtete seinen Sohn. Er
nahm eine auffallende Beweglichkeit an ihm wahr:
hatte er vorher stets still und in sich gekehrt dage-
sessen, war er selten zu bewegen gewesen, sich
in dem großen Garten, der hinten an das Herr-
schaftshaus stieß, zu tummeln, so bereitete es ihm
jetzt Schmerzen, den Garten verlassen zu müssen.
Einmal sagte er zürn Vater:
Ich horche in jede Blume und in jeden Busch;
nm ihre Musik zu vernehmen, mußt du wissen.
Der Vater verstand ihn nicht; und die Mutter
lebte nicht mehr. Sie hätte ihn wohl verstanden,
denn sie war eine zarte Frau voller Musik gewe-
sen. Sie hatte sich an stillen blauen Abenden an
ihren Flügel, der in einem großen, nach schlichter
Vergangenheit duftenden Saale stand, gesetzt und
in Tönen gedichtet, weil sie nicht in Worten zu
dichten vermochte.
Als der kleine Johannes im Hause seines Vaters
keinen Menschen fand, der das Tönen seiner Seele
verstand, flüchtete er sich zu der Mutter und
zwang sie kraft seiner schöpferischen Phantasie,
die zugleich mit der Musik in ihm erwacht war, an
jedem stillen blauen Abend aus dem Grabe zu
steigen und sich an den alten Flügel zu setzen und
ihn mit Tönen zu liebkosen. Er sah sie in ihrem
schwarzen, straffen Kleide durch die großen Zim-
mer wandeln, sah, immer ehrerbietig hinter ihr
herschreitend, wie sie hier eine Stutzuhr, dort die

Lehne eines behaglichen alten Ledersessels, dort
ein wundervolles Album auf einem der massiven
Tische streichelte, und lebte ihre wehmütigen Ge-
danken in seinen Kindergedankeu mit.
Sobald sie aber in den Musiksaal kamen,
streifte er seine ehrfürchtige Zurückhaltung ab und
begann wie ein gutes Kind, für das Behagen
seiner Mutter zu sorgen. Er eilte zu den Fenstern
und öffnete sie weit und freute sich, wenn er die
hereinströmende weiche Luft des blauen Abends
über sich hinstreichen fühlte. Er öffnete den
schweren Ebjenholzdeckel öes alten Instruments
und setzte den Drehstuhl zurecht; dann ging er zu
seiner Mutter hin, die an einem der Fenster ge-
standen und den Reichtum des Abends getrunken
hatte, nahm ihre schmale weiße Hand in seine
Knabenfinger und führte die zarte Frau mit dem
blassen Duldergesicht durch den großen Saal. Ihre
Schritte erstarben in den dunkeln Teppichen; der
Knabe hatte das Gefühl, sie schwebten beide durch
den freien Raum. Bevor sich die Frau vor dem
Flügel niederließ, küßte ihr der Knabe die reichen
Hände und dankte ihnen für den Genuß, den sie ihm
bereiten wollten. Denn er wußte, daß nach der
großen Aufregung des Spiels die Mutter sich in
Dunst auflösen und ihn allein in der Undurch-
dringlichkeit der Nacht zurücklassen würde. Es
erhob sich eine seltsame Unruhe in ihm. wenn er
sah, wie sich die Mutter langsam über die Tasten
neigte und mit den großen, in unheilbarer Krank-
heit strahlenden Augen über sie hinglitt. Der Knabe
mußte unaufhörlich diese wunderbaren tiefen Au-
gen anblicken. Er stand ganz unbeweglich neben
dem Flügel und stützte sich mit dem rechten Arm
darauf, während sein linker in der schwer zurück-
gehaltenen Erregung leise zuckte. Er stand ganz
unbeweglich, obwohl eine kaum zu dämmende Un-
ruhe in ihm flutete. Er trank mit seinen klaren
Knabenaugen die Augen der zarten, blassen Frau.
Jeder Gedanke an das Unwirkliche dieser Vor-
gänge war aus seiner Empfindung ausgeschaltet.
Seine Phantasie schuf dieses Bild der in Tönen
dichtenden Mutter, er glaubte an die Erschaffung;
und so ward sie für ihn Wirklichkeit.
Wenn dann die blasse Frau anhob, zu spielen,
kam das leise Sausen tiefer Wälder in das Zimmer
herein. Dem Knaben schien es, als wehe alles
Klagen und Schluchzen, das je aus Menschenher-
zen stieg, durch die weitoffenen Fenster und ver-
wandele sich in ein gedämpftes Jauchzen, das in
breiten Strömen hinausfloß in den blauen schwei-
genden Abend und über die ganze in Schauern
empfangende Erde. Selbst der Himmel, der wie
eine umgekehrte Schale den Abend überdeckte,
klaffte auseinander wie der Schoß eines empfan-
genden Weibes und nahm das gedämpfte Jauchzen
in sich auf. Und der Knabe erkannte in Verzückung
sein Zerfließen in das All. Er empfand mit einer
unsäglichen Wollust, wie sich sein ganzes Wesen
auflöste, auseinanderströmte, den großen, dämme-
rigen Saal erfüllte, die Wände niederlegte, über
Garten und Fluren und Wälder rieselte, alle
schweigende Feierlichkeit der blauen Stunde in
sicht einsaugte, endlich an das Meer gelangte und
sich in den Wassern der grünen Unendlichkeit ba-
dete, versank und selbst unendlich wurde. Er
lernte an diesen schwermütig-verzückten Aben-
den, die ihm wie Opferfeierlichkeiten vor der All-
macht eines Unendlichen erschienen, den Reichtum
seiner Seele kennen. Er stieg in sich selbst, in
sein noch kindhaftes Wesen hinab wie in einen
tiefen Brunnen und holte die Schätze, die da ver-
borgen lagen, zum Licht herauf. Auf diesen Schät-
zen, noch formlos und unverarbeitet, gestaltete er
die Welt seiner Verzückung. Aus dem Gold seiner
unermeßlichen Ahnungen goß er den schimmern-
den Palast der Unendlichkeit; die Perlen seines

starken, fröhlichen Glaubens an das Mysterium
des Sonnenaufgangs spannte er als schwere Gir-
landen von Säule zu Säule seines Palastes und
schmückte so die Schönheit der toten Wesen, weil
er noch keine lebendige Schönheit zu schmücixcn
hatte. Und inmitten dieses schimmernden, perlen-
bekränzten Palastes stand er und streckte seine
halbgeöffneten Hände aus, wie Schalen, die eines
reichen, köstlichen Inhalts harren. Es war für ihn
eine unaussprechliche Beseligung, daß er glauben
durfte. Er wollte nur glauben, nur allen Reichtum,
der zu ihm kam. aufnehmen ohne Fragen und For-
schen. Er gab sich ganz seiner Verzückung hin,
und in seinem tiefsten Innern tönte wie eine
lächelnde Melodie das Bewußtsein, daß alle diese
Seligkeit von der zarten, blassen Frau ausging,
die seine Mutter war, und daß alle diese Seligkeit,
beschwert mit der reichen Freude des Knaben, als
doppelter Segen zu ihr zurückkehrte. Das ver-
mehrte seine Verzückung und machte ihn dankbar ;
dankbar der Mutter und sich selbst, weil sie sich
so zu einem einzigen Wesen vereinigten und sich
wechselseitig ihre Seligkeiten schenkten, ohne arm
werden zu können.
Die zarte Frau mit dem blassen Duldergesicht
spielte wie eine Heilige. Ihre großen, kranken Au-
gen hingen an der Decke, die in der Dämmerung
zerfloß; ihre Hände schwebten über die Tasten,
fortwährend in einer aristokratisch ruhigen Bewe-
gung begriffen, die Töne hinhauchend. Der Knabe
sah die Feinheit dieser schwebenden Hände,
ohne sie anzusehen; er blickte nur zu den
Augen der Mutter hin und empfing aus diesem
wonnigen Anschauen das ganze Wesen der Künst-
lerin, das weiche Lächeln ihres blassen Mundes,
das ruhige Atmen ihres Busens, das vornehme
Gleiten ihrer schmalen Hände; die ganze über-
irdische Verklärung ihres Leibes und ihrer Seele.
Er lebte nur in ihr und empfand ihre tiefe Künst-
lerschaft.
Durch die Fenster kam der blaue Abend näher
und näher; das weiche Blau wurde tiefer und
härter; die Fensterhöhlen waren wie seltsame
Augen, die sich langsam verfinstern. Sobald der
Knabe aber nicht mehr an den verklärten Augen
der Mutter hing, trafen seine Blicke die dunkeln-
den Flächen, die die Fensterrahmen aus dem Him-
mel schnitten. Eine Reihe von Bildern zog in ihm
herauf und blitzschnell an seiner Seele vorüber.
Die erhabene Starrheit der Bäume, die der Allee
entlang standen, die Sonne, die hinter dem Hause
lag und träg den Horizont hinabschlich, das letzte
verschlafene Schluchzen und Jubeln der kleinen
Vögel in den Bäumen des Gartens, die ferne
Stimme eines Knechtes, der die Herden eintrieb —:
diese Farben und Töne wurden von den dunkeln-
den Fenstern an der Seele des Knaben vorüber-
gezaubert. Er wurde unsicher und wagte doch
nicht, schon an ein Ende der Opferfeierlichkeit vor
dem Unendlichen zu glauben. Er begann zu zit-
tern, wie der Kranke, der sich langsam aus einer
schweren Ohnmacht aufrichtet; eine unsägliche
Angst preßte ihm das Herz zusammen, die Angst
vor einem großen Verluste. Sobald aber diese
Angst eintrat, war es zu spät: dann hielten plötz-
lich die schmalen Finger der blassen Frau in ihrem
aristokratischen Gleiten ein, die Lider sanken wie
schwere Gitter über die strahlenden Augen und
löschten sie aus. Und der Knabe stand neben dem
Flügel und fühlte jede matter werdende Bewegung
der Mutter wie einen scharfen körperlichen
Schmerz. Er wollte laut rufen: Bleib noch bei
mir, Mutter, spiele noch deine schwermütigen Me-
lodien —, aber er vermochte es nicht. Ein Wür-
gen stand ihm am Hals und gab ihm die Stimme
nicht frei. Er war machtlos, die Buntheit seiner
Phantasie begann zu erblassen, die einzelnen Far-

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