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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 129
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Tichauer, Grete: Gedichte
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Döblin, Alfred: Tänzerinnen
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Rivière, Jacques: Baudelaire, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0163

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Saschas Tod
Sascha mit den blanken Negerfäusten
und dem Blick aus Apatit
starb.
Mein kleiner Sascha starb.
Mit meinen kranken Fieberarmen
lacht ich seinem Kopf entgegen
(auf dem Bett lag der ganz kalt und gelb).
Sascha war mein kleiner guter Junge.
Mit den Kinderschenkeln
und dem Hals,
der ewig jung
und fleischern war.

Sascha war mein kleiner, guter Junge.
Lagen manche Nacht Wir Hand in Hand
Hand in Hand die ganze Nacht
und Sascha ließ nicht los.
Sascha hatte blanke Negerfäuste
und die Narbe auf der rechten Brust
Sascha war mein Sascha.
Sascha starb,
Satrap.

Tänzerinnen
Wir haben genug von den schlechten Tänze-
rinnen. Eine Tanzkunst, die nicht akademisch ist,
ist darum noch nicht gut. Hupfen, Drehen, ent-
zücktes Puppengesicht, Donauwellen in jedem
Wald- und Wiesental wird nachgerade fad. Ihr
könnt nichts, liebe Kinder, mögt Ihr Euch akade-
misch oder frei gebärden. Es wäre alles ganz gut,
wenn die Tänzerinnen nur nicht so gebildet, natur-
froh und sonst was wären. Eine gesunde Zote ist
mir lieber, so eine schöne, ruhige, runde Sache.
Da habt Ihr’s: die Literatur läßt Euch glatt fallen.
Ueberhaupt die Tänzerinnen. Ich zitiere einen
hervorragenden Autor über dieses Thema, einen
gewissen Alfred Döblin, aus den etwas länglichen
„Gesprächen mit Kalypso44. Ein sehr Alter sagt
da zu einem sehr Jungen: „Von einer Kunst will
ich zu dir sprechen, die ich so stammeln und seuf-
zen höre. Verehrst du die Tanzkunst? Sie muß
deinem Herzen näher stehen: denn so seid Ihr von
heute: frauenhold, tänzerinnenhold. Wir beteten
keine Frauen an; wir spielten mit ihnen, lebten
aus, gingen einen klirrenden Schritt. Kam uns ein
Weib sehr nahe, so begehrten wir es, schätzten
es als unser Eigentum, waren ihm vielleicht dank-
bar, weil es zum Schaffen und Kämpfen kräftigte.
Daß die Künste jetzt vor die Weiber gekommen
sind, daß sogar die Tanzkunst eine Kunst der Tän-
zerinnen wurde, besagt nur, daß die Männer des
Weibes voll sind und nicht des Kampfes, Schaf-
fens. Denn wie eine verlangt die Tanzkunst der
Männer, diese hoheitsvolle, strenge Kunst, die die
Zähmung des Willens betreibt, die Unterjochung
des Leibes unter den Willen, die gottvolle, tief-
fromme Kunst. Aber Eure Tanzkunst zeigt nicht
den gezüchteten frommgewordenen Körper, son-
dern das gezüchtete Weib oder den Frau gewor-
denen Mann; sie zeigt Eure Unzucht. Vom Leibe
faselt Ihr; die Geschlechtlichkeit wuchs Euch zu
dem wichtigsten, wohligsten Rätsel aus, wurde
Euer Geheimstes, Echtes, Ernstes; sogar Eure
Denker säuseln von dem „Brennpunkt des Da-
seins“. Ich glaube, es geht Euch Memmen zu

üppig; Ihr dürftet vieles vergessen. Ihr ließt Euch
den Tanz aus den Händen reißen, kennt nur den
Locktanz der Geschlechter, nicht den Eintanz,
kaum den Vieltanz, den Tanz und die Phantasie der
Männerkörper. Ihr Ueppigen, Schweren, Blöden!“
Ich muß nach Anhörung dieses bedeutenden
Autors versuchen, wieder mein Niveau zu gewin-
nen. Gelegentlich ist jedenfalls, das muß ich gegen
ihn bemerken, auch der Locktanz nicht zu ver-
achten, es kommt nur drauf an, wer ihn exekutiert.
Mir ist aber tatsächlich jede Cynik — Bemer-
kungen, wie ruhige etc. Sache — vergangen bei
zwei Tänzerinnen neulich. Erstens gelingt’s ihnen
nicht, Sie wissen schon was. Die eine ist ein
solider, muskulöser Mensch weiblichen Ge-
schlechts, mit Knochen, Gliedern. Dagegen und
hinwiderum die andere dünn, wie das beinah nicht
mehr schön ist. Sie scheint mir ein lederüber-
zogenes Klappergestell weiblicher Signatur; manch-
mal zerbrach ich mir den Kopf, wie so was mög-
lich sein kann, wie derartiges stattfinden kann.
Der Herkules tanzte einmal einen „Festtanz“; fest
war es, fest, ganz fest, mit wuchtigen Ellenbogen,
massiven Schultern, trittfähigen Beinen; der Her-
kules freute sich ersichtlich; das Ding ging nur so,
wie geölt, schräg über die Bühne weg. Aber sie,
das Ledersofa, das Klappergestell, diese konnte
etwas. Ich weiß nicht, was von ihr an den Tän-
zen war, an diesen exotischen Kuriositäten, aber
das Ledersofa machte es gut. Schon die sozusagen
Idee hat’s in sich: Mal nicht Stimmung, mal nicht
entblößte Auf- und Abrundungen, — mal alles drum
und dran: Schleier, Masken, Federn, Lichter, Tep-
piche. Nicht lyrische Monologe, sondern Vis-a-vis,
Sachlichkeiten, Gestaltungen (reiß ich aber das
Maul jetzt auf!).
Wenn ich jetzt eine posthume Gerechtigkeit üben
soll, so finde ich es geradezu sinnvoll und leuch-
tend, daß sich hier ein munterer Schlächtergeselle
und ein Fauteuil ergingen. Weil es nämlich auf
einen Protest gegen die Schönheit ankam, ver-
nunftgemäß, und der springende Biceps einerseits,
das fehlende Fettpolster andererseits charakte-
ristisch, originell waren innerhalb des Charakte-
ristischen, Originellen. Das Meisterstück der einen
(Led.-sof.), Tanz einer jungen Koboldin: das Klap-
pen und Winken der Hände, die unschönen plötz-
lichen, schlenkernden Beinbewegungen, das Rasen
und Wühlen der Schultern. Sie kann etwas, — ich
weiß wie gesagt nicht, was sie vielleicht von da
unten hat —, reichlich tänzerische Einfälle, richtig
gehende körperliche motorische Gedanken, moto-
rische Gedanken, motorische Witze, motorische Ab-
surditäten. Sie sind wirklich, ernsthaft, originell
und sehenswert, aber ich bin von Natur im Aus-
druck etwas drastisch.
Alfred Döblin

Baudelaire
Von Jacques Riviere
Uebertragung aus dem Französischen von Jean-Jaques
Jedes Gedicht Baudelaires ist eine Bewegung;
es stampft nicht, es ist keine unbewegliche Be-
schreibung, es steigert nicht durch Wiederholungen
und Ueberbietung ein einmal gewähltes Thema. Es
ist ein gewisser Satz, Frage, Anruf oder Widmung,
die einen Sinn hat. Es ist ein kurzer Satz, der aber
von Gleichnissen gestützt wird, die, sich anlehnend,
einander von gleichem Eifer beseelt halten:

A la tres chere, ä la tres belle
Qui remplit mon coeur de clart-e,
A länge, ä Fidole Immortelle,
Salut en immortalite!
Sachet toujours frais qui parfume
Lätmosphere d’un eher reduit,
Enclesior oublie qui fume
En secret ä travers la unit. ’)
Diese Bilder entfernen uns nicht etwa von dem
Worte, das sie begleiten, sondern im Gegenteil,
sie führen uns ungemein zu ihm hin. Statt es zu
entwickeln und zu illustrieren, vertiefen sie es,
beugen es und lassen es innerlich widortönen. Sie
haben keine „poetische“ Bestimmung, sie suchen
nicht, unserem Vorstellungsvermögen zu schmei-
cheln; sie sind weit und durchgearbeitet wie die
Biegsamkeit der Stimme, wenn sie unbeirrt weiter-
tönt. 1 2) Aber die Bilder, die das Wort umgeben,
sind mir eine Verkündigung; sie machen es ver-
traulich für mich persönlich; sie machen den Ein-
druck, als ob es nur an mich gerichtet ist; sie zwin-
gen mich, es mit seiner ganzen Bestimmung zu er-
tragen. Ihre Sinnlichkeit ist niemals entfaltet. Sie
behalten sie, kondensiert, wie ein Getränk, das
das Erinnern bezaubern soll. So kommen sie unser
Gedächtnis versuchen, das Herz mit der Hart-
näckigkeit der Wogen zu bekämpfen; sanft er-
zwingen sie unsere nie geahnten Geheimnisse; sie
erwecken unsere nie zugestandene Vergangenheit,
erwecken mit ihrer Beschwörungsformel unser
ganzes ungelebtes Leben; sie fordern eine Aufer-
stehung von etwas, das niemals war.3) Wie ein
Wort, das unser Ohr erreicht, in einem Augenblick,
da man nicht darauf gefaßt war. So spricht der
Dichter plötzlich, ganz nahe bei uns: „Erinnerst du
dich? Weißt du noch, was ich sagte? Oder sahen
wir es zusammen, wir, die wir uns nicht kennen?
Du hast sie also betreten, jene Gestade; bis dorthin
hat dich also deine Reise schweifen lassen.“ Und
diese Stimme sang:
. . . chantait comme le vent des greves,
Fantöme vagissant, on ne sait d’oü venu,
Qui caresse l’oreille et cependant l’effraie. 4 5)
Sie singt, diese Stimme, und das anbetungs-
würdige Lächeln des Bedauerns:
Mais le vert paradis des amours enfantines,
Les courses, les chansons, les baisers, les
, bouquets,
Les violons vibrant derriere les collines,
Avec les brocs de vin, le soir, dans les bosquets,
Mais le vert paradis des amours enfantines,
L’innocent paradis, plein de plaisirs furtifs,
Est-il dejä plus loin que Finde ou que la Chine?
Peut-on le rappeler avec des cris plaintifs.
Et länimer encor d’une voix argentine
L’innocent paradis, plein de plaisirs furtifs? s)

1) „Hymne“, p. 221
2) „Le surnaturel comprend la couleur genSrale et
l’accent, c’est-ä-dire intensitö, sonoritö, Hmpi-
dite, vibrativite, profondeur et retentissement
general dans l’espace et dans le temps“. (Oeuvres
posthumes. Librairie du Mercure de France,
p. 86)
3) „De la langue et de l’ecriture, prises comme
operations magiques, sorcellerie ivocatoire“.
(Oeuvres Posthumes, p. 86) „Le mystfcre, le
regret sont aussi des caracteres du Beau“ (Ibi-
dem p. 85) „ . . . Tocsin des Souvenirs
amoureux, tönßbreux, des anciennes annöes“.
(Ibidem p. 84.) „Evocation de l’inspiration. Arts
magiques. (Ibidem p. 135)
4) „La Voix“, p. 225
5) „Moesta et Errabunda“, p. 185 i ,

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