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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 123/124
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [2]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutnant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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Ehrenstein, Albert: Gedichte
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Scheerbart, Paul: Das Ozeansanatorium für Heukranke: Telegramm-Novelette
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0131

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farblosen Felder herab,, in dächten schweren Flok-
ken. Die nahen Berge wurden in verschwomme-
nen Umrissen sichtbar; auch sie waren ganz mit
Schnee bedeckt. Ach, dieser rauhe einförmige
deutsche Winter! Das Blut des Romanen regte
sich in ihm und erbitterte sich gegen die Monotonie
der Landschaft. Dann wieder bezwang er sich und
verfiel in Nachdenken. Ja, ein solches Klima mußte
rauhe, tapfere und genügsame Menschen erzeugen.
Er erinnerte sich einiger Deutschen in seinem Or-
denshaus. Welch strenge, unbeugsame und doch
im Gehorchen so bewundernswerte Menschen!
Ihre Heimat ist unwirklich und erlaubt ihnen nicht,
sich schnell zu verbrauchen. Sie sind so langsam
im Genuß und in der Entwicklung — mehrere Jahr-
huderte hinter den romanischen Rassen Zurück,
die sich um soviel schneller verzehren als sie
schneller leben . . . .» Wie gerade und zielbewußt
war der Weg,, den diese Deutschen eben jetzt gin-
gen! Wie machtlos erschienen ihm in diesem
Augenblicke, trotz ihrer Gewandtheit, die Roma-
nen, gegen diese kriegerische deutsche Nation, die
sich mit der zermalmenden Langsamkeit ausbreiten
würde, mit der sie schon einmal, nach dem römi-
schen imperium, die leichtlebigen verglühenden
südlichen Völker überwunden hatte . .' . .
Sein Auge füllte sich mit Tränen. Oh, es war
alles umsonst, es war nicht mehr anzukämpfen ge-
gen dieses gelassene streng erzogene Volk! Was
half alle romanische Geschmeidigkeit, aller elain
gegen das schwerfällige, aber unerbittliche Vor-
dringen dieser immer noch jungen Nation! ... Er
dachte an die anarchischen Zustände Frankreichs
und an die bettelhafte Fremdenindustrie Italiens.
Und wieder traten ihm Tränen in die Augen.
Der Zug verließ Innsbruck. Und während er
den Brenner hinauffuhr, in langsamen keuchenden
langweiligen Windungen, dem Auge des Romanen
die ganze widerwärtige Häßlichkeit der unge-
schlachten weißgrauen Bergmassen preisgebend,,
knüpften sich Bonaventuras Gedanken fort. Er
schaute zurück in die deutsche Geschichte^1 Wel-
ches merkwürdige Schauspiel! Die Germanen
hatten die römische Weltherrlichkeit zerstört. Aber
war es nicht ein Symbol ihrer vornehmen Aner-
kennung einer vornehmen, älteren Kultur, daß sich
Karl der Große vom Pabst die deutsche Kaiser-
krone verleihen ließ? ....
Oh die katholische Kirche! Ihre Organisation
war das verfeinerte, zu längstem Leben bestimmte
Erzeugnis römischen, romanischen Geistes. Und
vor ihm hatten sich die Germanen, trotz poli-
tischer Uebermacht, gebeugt! ... Wie gut ver-
stand er auch jenen armen jungen deutschen Kaiser
den sie den Römling nannten! Wie fühlte er ihm
nach, daß er alle Machtfülle für nichts achtete
gegen die überlegene Geistigkeit einer älteren
Kultur! . . . Lange umarmten die Gedanken des
Abbe voll Mitleid das Geschick jenes deutschen
Kaisers, der sein Herz im Süden hatte und seinen
Tron im Norden.
„Der abscheuliche Brenner“ (wie ihn der Abbe
in Gedanken nannte) war endlich überwunden.
Schneefrei, farbreichere Bergspitzen wurden sicht-
bar. Der Himmel bläute sich und erschien höher
als vordem. Bäume, Häuser und Menschen ge-
wannen erst Form und Ausdruck in der durchsich-
tigen reinlichen Luft,, die hier wehte. Und als der
Zug in Franzensfeste hielt, sah Bonaventura mit
tiefster Rührung zu der warmen strahlenden Sonne
empor.
Oh der Süden! Der klare, ausgebredtete, far-
bige, plastische Reichtum des Südens! Und zum
dritten Mal während dieser Fahrt, in deren weiß-
graue und grauweiße Dürftigkeit er mit Schaudern
zurückblickte, fühlte sich Bonaventura dem Wei-
nen nahe, aus jenem heimatlichen Gefühl der Dank-
barkeit heraus, mit dem er die satte, lebensfrohe,
südliche Landschaft als blutsverwandt, als roma-
128

nisch umarmte ... Er stand an der Mauer des
Bahnhofes, schloß in seligem Taumel die Augen
und ließ sich von der mächtigen triumphierenden
Sonne mit reinstem Licht überfluten. „Du armer
junger deutscher Kaiser!“ murmelte er, „ich ver-
steh dich so gut! . . . Wärest Du hier, ich würde
Dich streicheln, Dich liebkosen, Dich umarmen. Ich
würde zu Dir sagen: laß diese nordische Macht,
dieses schläfrige Ansehen, das Du dort genießt!
Was liegt noch am Ansehen, wenn es einen friert!
was liegt an der Macht, wenn sie sich über graue
Länder erstreckt! Komm, hier hast Du heimgefun-
den! Ja, richte Deine Augen aufwärts! Hier ist
der Himmel nicht so niedrig, daß man mit dem
Kopf anstößt, wie drüben. Hier ist es warm; hier
strahlt die Sonne wie hunderttausend Diamanten.
Hier wölbt sich der Himmel so hoch, daß Du ihn
nicht ermessen kannst. Hier leuchten Farben, Far>
ben! Hier schlummern noch Rätsel. Hier kannst
Du noch irr gehen; niemand nimmt es übel. Hier
darfst Du noch weinen, lachen, schreien, singen! 4“
Bonaventura hielt voll seelischer "Bewegung
inne in seinem Gespräch. Er genoß immerfort die
weiche Luft!und die liebevollen Strahlen der Son-
ne; aber zugleich starrte er betroffen, wie als ob
er eine ferne oder nahe Gefahr sähe, in die Leere.
. . . Schließlich schüttelte er heftig den erhitzten
Kopf; denn er wußte keineswegs, woran er mit
sich war -—.
Er wußte es auch noch nicht, als er wieder in
den Zug einsteigen mußte, der nun gegen den Sü-
den weiterging. Wie um sich zu erlösen, lenkte er
seine Gedanken wieder ins Allgemeine. Der heiße
leidenschaftliche mystische Charakter der roma-
nischen Frömmigkeit erhob sich vor seiner Seele;
und, in natürlicher Verbindung mit dem kalte«
Bild des Brenners, die Gestalt des deutschen prote"
stantischen Reformators, der den Gottesdienst
vereinfacht, erklärt und ernüchtert hatte. Er ver-
glich im Geist katholische und protestantische Kir-
chen: den von allen Seiten mit jahrhundertelanger
Begeisterung geschaffenen Reichtum der einen, und
die gewollte rauhe, nackte Armut der andern? Nein,
er als Romane, würde die Protestanten nie verste-
hen! Aber er verstand, daß diese Art der Vereh-
rung Gottes bej den Deutschen Boden gewinnen
konnte. Und er erschrak einen Augenblick vor der
herben preußischen Größe, vor ihrer unwirtlichen
Einfachheit, vor dhrer kalten Ruhe . . . Und mit
einem Male war es ihm, als ob er eines der Grund-
gesetze der religiösen Entwicklung europäischen
Rassen entdeckt hätte: der romanische Geist, ins
Glühen gebracht durch die reiche lachende Sonne
des Südens, suchte nach allen Geheimnissen, nach
allen Verwicklungen der Seele; die Germanen
aber, denen eine immerfeuchte Luft die Sonne und
den Himmel verdüsterte, strebten nach Klarheit,
nach Vereinfachung . . . Von da aus glaubte er
lebhaft und deutlich einen ewigen Unterschied zwi-
schen romanischer und germanischer Kultur zu er-
kennen; denn schließlich war doch für ihn das re-
ligiöse Leben die Quelle aller Kultur . . . Jetzt
also, gingen seine Gedanken weiter (und seine mil-
den, dunklen Augen umflorten sich), war die Zeit
gekommen,'wo die Germanen ein zweites Mal den
Primat in Europa übernehmen sollten .... Ach,
sein romanischer Stolz ertrug diese Vorstellung
nicht! Er flüchtete sich int die ihm heilige Idee
eines Imperiums der katholischen Kirche. War die
katholische nicht dn Europa die Kuturmacht mit der
längsten, reichsten Tradition! Vielleicht lag es im
Willen Gottes, durch die ungebrochene Jugend der
germanischen Rasse jenen Geist des Materialismus
überwinden zu lassen, der sich im vergangenen
Jahrhundert der romanischen Staaten gleich einer
verheerenden Perversität bemächtigt hatte! Und
wer war berufener als die Deutschen, dieses ein-
fache 'kriegerische Volk, jenen zersetzenden Geist
niederzukämpfen,, der ihm selbst noch so fremd

war! Dann aber, wenn diese weltgeschichtliche
Aufgabe gelöst war, — war dann nicht der Boden,
bereitet für die allgemeine Versöhnung der Rassen,
die er nur im religiösen Sinn begreifen konnte! Und
wessen Aufgabe konnte hinwiederum diese weite
religiöse Versöhnung sein, wenn nicht die der ka-
tholischen Kirche, der „ecclesia triumphans“, wie
sie geweissagt war . . - Und überwältigt von die-
ser Vision, an die er als Romane glaubte und als
Katholik glauben mußte, hob er wie segnend die
Hände über die in der heiteren südlichen Sonne
ausgebreitete, farbenreiche, plastische Landschaft.
Fortsetzung folgt!

Gedichte


Von Albert Ehrenstein
Verzeihung
Im Bette lag sie,
bleich, ausgehärmt
und arg zerlitten
von des Lebens
Tag auf Tag.
Aus ihren armen Augen
starrten meine Sünden
mir entgegen
Mal an Mal.
Und aber, da ich mich
zu ihren Faltenhändchen
beugte, neigte
sie sich über mich
und ihrer Seele
letzter Hauch
segnete mich,
wie eine Rose
gelb und welk
im Fallen noch
den Boden küßt.

Traum
Als ich die Nacht durchwachte,
kam mir die Zeit herein,
hin glitten sachte
Träume und Tode mein.
Der Knabe, der im Sande
mit Muscheln Spiele trieb,
mit manchem Tande
die Zeit vorüberhieb,
derselbe stets zu sein!
O weh der Muschelspiele,
du lange Weile,
ihr ewig gleichen Ziele —
nur nicht auch tot derselbe sein!

Das Ozeansanatorium für
Heukranke
Telegramn-Novelette
Von Raül Scheerbart
An Lika Lee, San Franzisko.
Hier wieder gräßliches Heufieber. Werde
Schnupfen und Niesen nitht los. Aerzte sagen:
dorthin gehen, wo kein Gras wächst. Die Aerzte
haben leicht reden! Sollen wir im Sommer am
 
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