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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 148/149
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Bommersheim, Paul: Die Überwindung der Perspektive und Robert Delaunay
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Hatvani, Paul: Wagner-Feier
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Scher, Peter: Das Herz der Else Lasker-Schüler
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0271

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zu erhalten. So die perspektivische Anschauungs-
weise. Nie betrachtet sie das Verhältnis des Ein-
zelnen zum Ganzen, sondern nur des Teiles zum
Teil. Alan hat eine Linie; nun „fixiert“ man —
auf das Fixieren komme ich gleich — und be-
stimmt den Winkel, den eine zweite Linie mit der
ersten bildet, ihr Längenverhältnis usw.
Ich kann aber auch eine Linie im Verhältnis
zum Ganzen einer Figur oder meines Sehfeldes
betrachten. Freilich besteht zwischen diesen Be-
trachtungsweisen noch ein tiefgehender Unter-
schied: beim „Fixieren“ steht jenes kleine Teil-
chen ganz in der schärfsten Bestrahlung des Be-
wußtseins. Je bestimmter und klarer aber das
Bewußtsein einen Gegenstand erfassen kann, desto
kleiner muß: er sein. ' Und umgekehrt, je größer
der Gegenstand ist, desto unbestimmter faßt es
ihn (als Ganzes). Der Unterschied der beiden Be-
trachtungsweisen^ er mechanistischen und der —
ich möchte sie vitalistische Betrachr
tungsw eise nennen, ist also ein Unterschied
der Bewußtseinsfunktion. Bei der mechanistischen
eine Summe kleiner Teile, aber jedes dieser in
schärfster Bestrahlung; bei der vitalistischen ein
großer, einheitlicher Gegenstand, aber nicht in der-
selben Schärfe. Je mehr aber die Schärfe des
Bewußtseins im Beobachten abnimmt, desto mehr
wächst das subjektive, gefühlsmäßige Element.
Und hier eröffnet sich für die moderne Malerei
eine unermeßliche Weite und Fülle. Weiter ist es
bezeichnend für die Lebensfremdheit der Perspek-
tive, daß nach ihr der Betrachter stehen bleibt.
Wir haben aber die Schönheiten sehen gelernt
bei der B e w e g u n g des Betrachtens, beim
äehen, in der Elektrischen, in der Eisenbahn, im
Äüto. Wenn ein Bild das andere verdrängt, oder
ein Bild sich mit einem anderen verbindet, oder
wenn“ sie durcheinander huschen. Ebenso kennt
die Perspektive keinen bewegten Gegenstand.
Grausam muß das Bewegte in irgendeinem Punkte
erstarren. In Wahrheit sehen wir einen solchen
Punkt so wenig, wie sich Bewegung überhaupt
aus einer Summe von Ruhelagen zusammensetzt.
Was wir sehen, ist vielmehr ein eilendes, sich
überstürzendes Gedränge von Bildern. — Was
früher fester und starrer Gegenstand war, wird so
hingerissen in ein flutendes Werden, in tausend-
fache Verbindung, in tausendfache Beziehung, in
tausendfache Verschlingung.
Es hat seinen Sinn, daß die Perspektive kam,
als die mystisch-religiöse Art des Geistes durch
die rationalistisch-mechanistische abgelöst wurde.
Es hat seinen Sinn, daß gerade heutedie Perspek-
tive überwunden wird, wo sich auch im Denken
das starre Sein in Werden auflöst, wo man selbst
die festen Begriffe verflüssigen möchte, wo um das
Leben die Gedankenarbeit immer mehr kreist.
Ueberdies ist die vitalistische Sehweise, die des
täglichen Lebens. Schon die Farbe verändert die
Perspektive. Eine weiße Fläche erscheint größer
als eine farbige zum Beispiel. Wenn man auf
weißes Papier ein Rechteck zeichnet und die eine
Hälfte färbt, die andere weiß läßt, so scheinen sich
die Linien nach der farbigen Seite zu nähern.
Ebenso wird der Eindruck einer Linie oder Figur
durch die Linien und Figuren der Umgebung be-
einflußt. Das ist nur die optische Seite. Für das
Erleben der modernen Malerei wichtiger ist aber
die psychologische Seite. In jenem Bewußtseins-
zustand, in dem das Innenleben überschwingt, wird
die strenge, perspektivische Raumordnung voll-
kommen gestört: Ich gehe auf der Straße. Alles
bewegt sich um mich. Die Häuser biegen und
stemmen sich gegeneinander. Manchmal huscht
in schiefem Fenster eine Gestalt vorbei. Lichter
tanzen vorbei. Ferne beugen sich die Wände über
die Straße . . . Das könnte nun erscheinen wie
Schlaffheit, wie matte Duseligkeit. Aber nein.
Ein Beispiel: das Haus gegenüber. Ich denke in

jenem Bewußtseinszustand: „Wie streckt es sich
in die Länge“. Und ich sehe die mehr oder min-
der Horizontalen dahinsausen; bis zur Starrheit
klar vor mir; die Vertikalen beugen und krüm-
men sich und ziehen sich wie zerknittert zusam-
men; was nicht der Horizontalrichtung folgt, biegt
sich oder verschwindet. Ich denke: „Wie ragt das
Haus so hoch“. Alle Vertikalen stemmen sich steil
auf. Die Fenster werden ganz schmal, ganz
schmal, aber um so länger. Kaum merke ich noch
ganz kurze Horizontalen; so drängt sich alles zu-
sammen um sich in die Höhe zu recken . . . Ich
wählte dies einfache Beispiel, weil es nur das
zeigt, worauf es mir hier ankommt. Nämlich: hier
wird der Mensch zum Herrscher, hier gestaltet er
souverän (natürlich auch in einem ungleich-kom-
plizierteren Sinne, wie in jenem psychologisch-
einfachsten Beispiel). Ein solcher Herrscher ist
Robert Delaunay. Und jenes Gestaltende in seinen
Bildern, das ist das, was man seine Ideen ge-
nannt hat.

Wagner-Feier
Von Paul Hatvani
I
Die Begeisterung, die die Philiströsität zu einer
Feier aufraffen wird, ist ein Abglanz des Anlasses,
Das Pathos, das den Anlaß gebar, mag die Begleit-
erscheinung eines Naturereignisses gewesen sein.
Dieses Naturereignis, das Dasein eines Künstlers,
aber war eine Stilverquickung: das neunzehnte
Jahrhundert, — o, welch ein Jahrhundert! — hätte
eines Helden nicht mehr bedurft. Manchmal kitscht
auch die alte Natur. Und manchmal muß sich die
große Ursache der kleinen Wirkung schämen,
einer Wirkung, die sich Welt nennt und die der
Ursache immerhin eine Sorge bereitet hat: sie aus
dem Wege zu schaffen, um leben zu können.
Die Philiströsität hat sich selbst überwunden:
man kennt den Unterschied nicht mehr, der Phi-
lister hat sich zum Bohemien entkleidet, die blaue
Blume seiner Einfalt ist verwelkt, er hat sowohl
Nietzsche als auch den Hermann Bahr überwunden
und die Abendröte, bei der sich’s so schön träu-
men ließ, ist erblaßt. Keine einsame Träne fließt
mehr und manche, die vordem noch nicht wußten,
was soll es bedeuten, rufen sich heute (hinter der
Bühne, durch ein Schallrohr) „Hojotohoh, Heia!“ zu.
II
Ja, Ungeheuerliches hat sich begeben: eine
Menschheit, die nicht mehr weiß, wo Gott wohnt,
betet zum heiligen Gral. Es scheint wie ein Hara-
kiri der Begeisterung zu sein; einer Begeisterung,
die immerhin einer urweltlichen Extase entsprin-
gen mag, einer Extase, die es wagen durfte, ihre
Helden durch den Flammenring zu einer Walküre
reiten zu lassen. Heute geht es wohl einfacher,
obwohl es auch mit den Zirkusreiterinnen von
gestern schon fast zu Ende ist. Die waren wahr-
lich nicht schlechter, und mancher unter den wah-
ren Männern mag da und dort gefühlt haben: der
Scheinwerfer beleuchtet ein Weib. Ein Weib, am
Gipfel einer Weiblichkeit. —
Bei Gott — glaubt er wohl noch an seine
Menschheit — bei Gott, es war ein weiter Weg,
den Gog und Magogs Söhne gegangen sind. Zu-
erst kamen sie durch einen Wald, da waren Vögel,
die sangen Psalmen und Eulen saßen auf den
Aesten. Da waren Schlangen und waren Bäume
der Erkenntnis. Dann wurde es lichter und sie
traten in eine Ebene. Und sahen Wolken, und die
waren Weiber, Speere schwingend und auf Pfer-
den reitend. Und ein Gott schwang einen golde-
nen Hammer. Und als sie weiter kamen, da sahen

sie ein Kreuz aufgerichtet und daran war ein
Mann, der blutete. Und die Männer blickten zu
Boden und die Weiber heulten, wie sie ihn sahen.
Und als sie ans Meer, ans Meer kamen, das saß
Einer und sang. Das hat sie verwirrt. Die Män-
ner zogen ihr Schwert und siehe, es war aus
Pappe. Die Weiber legten Rüstung an, und siehe,
ihre Brüste wurden dürr und die Leiber verküm-
merten darunter. Und sie gingen den Gral zu
suchen, den Gral, der sie nicht erlösen kann. Und
sie sahen, daß es nicht schwer sei, ihn zu finden
und stimmten ein Lied an und tanzten einen Tanz.
. . . Wird bald ein Ende sein? Die Natur
lehnt ab, sie will nicht mit. Das Spiel geht weiter.
Die Kunst entflieht, denn man hat ihr ein System
gebaut aus Traum und Wahn. Mein Gott, wer
wird wieder ein Lied singen? Es ist, als ob aller
Gesang verstummt wäre, als sie zu heulen began-
nen. Die Sänger hängen die Harfen auf. Da sit-
zen sie bei den Flüssen Babylons und trauern.
Denn die Musik ist ein verbotener Gesang.
III
Die Musik ist ein verbotener Gesang: man
wird sie vergessen. Richard Wagner, ein Mu-
siker, dem die Heldenpose ein Mittel zur Kunst
war, wird in die Netze einer Weltanschaung ge-
sponnen, die das Geräusch seiner Musik entlehnt.
Heutzutage gibt es überall Leitmotive; das ist
eine Art von Individualisierung der Typen.
Daß er Musiker war, ist heute schon Ne-
bensache. Und deshalb muß er zum Apostel einer
neuen Philiströsität taugen. Ach, es ist eine kunst-
feindliche Philiströsität, denn sie nimmt sich. für
die Kunst in Anspruch. Sie hat ja auch Harmonie-
lehre und Kontrapunkt studiert und kann die Me-
lodie nicht mehr hören. Was sie sucht, sind Leit-
motive, was sie schafft, sind Leitartikel und was
sie lebt, ist ein Libretto.
Wird es Menschen geben in diesen Wagner-
feiern, die der Musik wegen feiern? Die das
„innere Ohr“, von dem Arnold Schönberg spricht,
— ein Musiker zur Zeit der Musikanten —, der
Musik öffnen? In Wagners Musik gibt es auch
Schönheit . . ., und cs ist wieder einmal nicht
mehr sentimental und naiv, darauf hinzuweisen.
Musik: ein extatischer Ausdruck, formloser In-
halt, inhaltslose Form, ein Chaos, dem Urzustände
jeder Kunst entspringend. Das Verhältnis des
Einzelnen zur Musik ist ein einsames, denn Musik
ist die unsozialste aller Künste.
Eine Welt, die sich nicht langweilt, weil sie
Virtuosen hat, die ihr vorspielen können, hat kein
Recht mehr auf Musik. Sie entweicht ihr in un-
gestörte Ecken, mögen nun die Musikanten kom-
men und die Welt erobern! Mögen sie uns eine
Musik-fremde, Musik-feindliche Welt schaffen!
Eine, die den Fliegenden Holländer nicht mehr von
einem Aviatiker unterscheiden kann! Ein Pilger-
chor paßt nicht mehr in diese Zeit — man entsage
einer Intelligenz und einer Stimmung, die dazu an-
getan ist, die ganze Instrumentation zu ver-
stimmen.
Aber da reiten die Walküren durch die Lüfte,
Geschicklichkeit ist keine Feuerzauberei, und die
Menschheit, — ihrer Bibel längst entwachsen. —
blättert weiter in der Partitur.
Das Herz der
Else Lasker-Schüler
Es gibt Schriftsteller, die das Herz haben, sich
zu entkleiden — und weiter nichts. Sie verwech-
seln die Lust am Vorgang des Entkleidens mit der
Absicht, ihr Herz zu zeigen.
Exhibitionisten.

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