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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 136/137
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [11]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutenant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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Scher, Peter: Bankroffts Erlebnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0212

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wenigstens für die nächste Zeit alles geregelt zu
haben.
Langsam fand der junge Baron diesmal seine
Beherrschung wieder. Dann gingen sie ins andere
Zimmer, zu dem Jungen, hinüber. „Das ist jetzt
dein Vater!“ — sagte Frangart, schmerzlich
lächelnd, und wies auf Schlagintweit. Und sie ver-
abschiedeten sich voneinander.
Gebrochen warf sich der junge Baron auf den
Divan. Ein furchtbares innerliches Schluchzen er-
schütterte seinen jugendlichen grazilen Körper. So
lag er lange. Als er sich erhob, glühten seine hei-
ßen trockenen Augen in einem verderblichen Feuer.
„Das war Mieville!“ flüsterte er vor sich hin, „das
war noch einmal der Schrei der Sehnsucht . . .
Aber der ist jetzt auch verklungen, ganz verklun-
gen, erstorben, mit dem Werk der Liebe erstor-
ben . . .“
*
Dieses Erlebnis, aus welchem Schlagintweit,
der vielleicht einmal Erzieher werden wollte, die
praktische Lehre zog: „Ich soll Kinder nicht zu
mir, sondern zu ihnen selbst erziehen!“ war für
das Befinden des halbgenesenen Baron Frangart
leider von den traurigsten Folgen begleitet. Die
Aufregung brachte ihm, dem die Ruhe Gewohnten,
das Fieber verstärkt zurück. Lange heiße Phan-
tasien durchzogen quälend das erhitzte Gehirn des
Kranken.
Als er einigermaßen gekräftigt war, beschloß
er, nach dem Süden zu gehen, nach dem heimat-
lichen Schloß, das er so lange, aus dunkelm Wider-
streben heraus, gemieden hatte.
Schlagintweit, den er bat, in einem Monat,
wenn er wieder mehr bei Kräften sei, dorthin
nachzukommen und einige Wochen als sein Gast
zu bleiben, erschrak vor seinem Wesen. Das war
nicht mehr das strenge Ansichhalten eines in
Selbstbeherrschung und im Schweigen geübten
Menschen; es war schon eine unheimliche mar-
ternde Totenstille. Und dazu diese glühenden
Augen . . . Schlagintweit verließ ihn mit tiefem
Kummer.
Schluß folgt in nächster Nummer

Bankroffls Erlebnis
Von Peter Scher
Als Bankrofft die Allee zu seiner Wohnung hin-
unterging, dachte er: Es ist ärgerlich, daß ich ge-
rade heute diesen Unsinn von Satire zu Ende
bringen muß!
Wie ist es doch? Ein Herr Y. hat sich bei einer
— ich gebe es zu — bemerkenswerten Gemeinheit
ertappen lassen. Immerhin nur einer schlichten
bürgerlichen Gemeinheit von ganz gewöhnlichem
Format, wie man deren hundert und etlichen be-
gegnet, wenn man über die Straße geht. Aber er
hat sich erwischen lassen. Und was tue ich, Ban-
krofft, Mitmensch und überlegener Zeitgenosse?
Ich verarbeite das Faktum dieses Reinfalls zu
einer — Satire. Ich tue es, weil ich leben muß und,
wenn ich es nicht täte, meinen alten Ueberzieher
noch ein Jahr länger tragen müßte.
Er brannte sich eine Zigarette an. Der An-
blick des bläulich zarten Rauches, der in einer
sanften Schwenkung um seinen Kopf entglitt,
brachte ihn auf andere Gedanken. Er lächelte.
Und heute, vielleicht in diesem Augenblick, viel-
leicht in einer Stunde wird es geschehen! Wie von
ungefähr aus dem Nichts wird eine kleine Seele
erwachen. Ein dünnes, hilfloses Stimmchen wird

sich in den Chorus der Lebensstimmen mischen.
Aus gesunden Lungen wird es mit hellen kräftigen
Schreien den Triumph des Mysteriums der Geburt
verkünden. Und in der ergreifenden Ahnungslosig-
keit dieser Lebensschreie wird der Dank an die
Mächte des starken Willens liegen, der es herbei-
gesehnt hat.
Und er, Bankrofft, wird der Vater sein. In
schweigender Seligkeit wird er, dessen Inbrunst
die Erfüllung des tiefsten Wunsches der Geliebten
den Mächten abgerungen hat, an der geschlossenen
Tür vorüberschleichen. Und sein Herz wird Still-
stehen vor Glück, wenn ein helles Lachen von
ihrem Munde sich in das hilflos lustige Plärren des
Kindes mischt.
Der andere aber, der Gatte, wird mit Vater-
stolz die Glückwünsche der Freunde entgegenneh-
men, indes Bankrofft zu seiner armseligen Jung-
gesellen wohnung hinaufsteigt, um sich über einen
Herrn Y. satirisch zu ergehen, dessen er bedurfte,
um zu einem neuen Winterüberzieher zu kommen.
Bankroffts Gesicht verzog sich. Plötzlich sah
er auf.
Was war das? Eine gedrungene alte Frau
hastete mit hochrotem Gesicht, laut aufweinend
und gestikulierend, die Allee herauf, ihm entgegen.
Sie rief in abgerissenen Sätzen die Entgegen-
kommenden an, lauter fremde Menschen, die sich,
gerührt von ihrem Schmerz, mit ihr einließen, um
ratlos, achselzuckend weiter zu gehen
Bankrofft blieb erstarrt stehen. In ihm sagte
eine Stimme: O Gott! O Gott! War das nicht die
kleine dicke Frau, die ihn nicht leiden mochte, weil
er einmal eine gemütlose Aeußerung über ihren
Hund getan haben sollte? Ihre Mutter!
Er stürzte zu der alten Frau hin, ergriff ihre
Hände, sah ihr ins Gesicht. Sie schrie: „Wo ist
denn der Arzt? Wo ist er denn nur? Es geht zu
Ende — oh, oh! Es ist ja schon vorbei!“ Sie
stampfte in der Hilflosigkeit ihres Schmerzes mit
den Füßen und biß in ihr Taschentuch.
Bankrofft war es, als würde vor seinem Gesicht
ein schwarzer Vorhang zugezogen, plötzlich, mit
einem Ruck. Seine Hände waren kalt und zitter-
ten. Die alte Frau hielt seinen Arm umklammert. Er
riß sich los und rannte ohne Besinnung in das
Zigarrengeschäft. Sein Hut war heruntergefallen;
er merkte es nicht.
In dem Laden erwischte er das Telephonbuch,
blätterte verzweifelt, rief einen Arzt an. Er
müsse sofort kommen, es koste, was es 'Wolle.
Wie? Wieso? Jawohl, ein Automobil! Aber so-
fort Gott sei ihm gnädig, wen er eine Sekunde
zögere. Wie? Ja, ja!
Er war so erschöpft, daß er sich am Ladentisch
festhalten mußte. Durch das Fenster sah er, wie
sich Kinder und Frauen vor dem Hause sammelten.
Vor dem Hause, in dem sie — vielleicht schon
nicht mehr war.
Er ließ sich Zigarren geben, vergaß zu be-
zahlen, rannte den Weg zurück und kam vor dem
Hause an, als im offnen Fenster ihrer Wohnung
eben, blaß und die Hände ringend, der Mann sicht-
bar wurde.
Vor dem Hause standen im Halbkreise Er-
wachsene und Kinder, mit offenen Mäulern, ent-
schlosssen, sich keine Einzelheit des Vorganges
entgehen zu lassen.
Bankrofft brach sich wütend Bahn und stürzte
ins Haus. Hinter ihm fielen zwei Kinder hin und
heulten; eine alte Frau schimpfte.
Die Treppe herunter stolperte, wie ein Kind
stammelnd und weinend, der Ehemann. Er knickte
in die Knie, raffte sich mit einer schlotternden
Drehung auf und sank, gerade vor Bankrofft,
wieder zu Boden. Er hatte einen Revolver in der
Hand, den er ihm aufdrängte: „Nehmen Sie — ich

weiß nicht, was ich tue — ich — ich fürchte mich!“
Seine Stimme brach kraftlos und verröchelte in
einem weinerlichen Husten.
Bankrofft steckte den Revolver in die Tasche.
Einen Augenblick sah er zu dem Manne nieder, der
wie ein Haufen leerer Kleider vor ihm lag. Er
preßte die Lippen zusammen, hob den Mann em-
por. Es fuhr ihm durch den Kopf: Was ist mir
dieser Mensch? Plötzlich standen ihm Tränen in
den Augen. Er faßte den Kraftlosen fest unter den
Arm und fragte mit einer merkwürdig ruhigen
Stimme: „Ist es vorbei?“
Der Mann wußte keine Antwort. Er stotterte
sinnlos vor sich hin. dann schrie er wieder gellend
auf: „Mein Weib! Mein Weib!“
Bankrofft erbebte vor Unwillen unter dem
lauten Pathos dieses Schmerzes. Warum schrie
dieser Mann: Mein Weib!
Er begleitete ihn in die Wohnung, vor der sich
in beklommener Neugier die Nachbarn aufgestellt
hatten. Im Zimmer, in dem sie lag, war alles in
Verwirrung. Die Hebamme, im weißen Kittel, mit
hochrotem Gesicht, lief ratlos hin und her. Die
kleine dicke Frau, die Bankrofft nicht leiden konnte,
erfüllte den Raum mit dem rasenden Gebahren
ihres Schmerzes. Der Mann hockte mit abge-
wandtem Gesicht auf einen Stuhl.
Auf dem Bette lag die junge Frau — nackt,
schmal, mit wächsernen Gliedern.
Bankrofft stand am Ende des Bettes.
Einen Augenblick war es ganz still.
Aus dem Nebenzimmer kam ein leise gluck-
sender Laut. Die Hebamme nahm Bankrofft, dessen
starre Ruhe ihr imponierte, beiseite. Er wischte
sich über die Stirn und mit einem Mai — er wußte
nicht wie es ihm kam und wurde sich dessen gar
nicht bewußt — mußte er lächeln. Die Frau zeigte
ihm das Kind. Wie ein winziges rotes Klümpchen
lag es in seinem Korb und brummelte vor sich hin.
Aus Bankroffs Augen fiel eine Träne mitten in
das kleine Gesicht, das sich komisch verzog. Er
lächelte abermals. Die Hebamme sah ihn vorwurfs-
voll an.
Es klingelte. Der Arzt stürzte herein, warf seine
Sachen hin und befühlte die Tote. Alle schwiegen
atemlos; sogar die kleine dicke Frau weinte nicht
mehr.
Der Arzt verzog keine Miene. „Reiben —
rasch reiben!“ kommandierte er. Bankrofft riß in
größter Hast irgend etwas vom Kleiderhaken und
fing an, die Beine der Toten krampfhaft zu reiben.
Die anderen folgten seinem Beispiel. Einen Augen-
blick war es, als ob sie alle dieses stumme ver-
zweifelte Ringen um ein schon entflohenes Leben
einte.
Nur der Mann hockte noch immer mit abge-
wandtem Gesicht in der Ecke. Er ächzte dann und
wann und wagte es nicht, nach ihr hinzusehen.
Bankrofft sah mit weit geöffneten Augen ge-
radeaus.
Er sah den Ehemann vor einem wächsernen
Bein mit nicht sehr gut gepflegten Zehen klagend
auf dem Boden liegen, das Haar zerrauft und einen
säuerlichen Geruch wie von abgestandenem Bier
um sich verbreiten.
„Dieses Bein gehörte mir!“ weinte er mit einer
wunderlich glucksenden Stimme, „mir, mir — und
nun ist es dahin!“ Die Stimme erstarb in einem
heftigen Husten und Schnauben. Aber sie erhob
sich von neuem zu gellender, anklagender Kraft:
„Hatte ich es nicht rechtlich erworben? Hab ich
es nicht gehegt und gepflegt? Und nun? Gott, o
Gott!“ Die Klagen erstarben in den Tiefen eines
an Mund und Nase gepreßten Taschentuchs.
Bankrofft machte mit der Hand eine Geberde,
als wollte er, lächelnd zwar, aber mit verstehender

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