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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 130
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [6]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutnant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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Rivière, Jacques: Baudelaire, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0169

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einem Burschen also, der mit solchen Errungen-
schaften eine Zeitlang sein Staatsbürgertum zu be-
schönigen hoffte. Und von einem Dutzend „an-
derer Lausbuben“, die mit der Zeit ihrem Brot-
instinkt gemäß ihre Krippe schon finden konnten:
der Eine beim Militär mittels reicher Partie, der
Andere mittels sonst einer vierprozentigen Bür-
gerstochter . . . „Aber schließlich noch gehen sie
an, für Sie freilich nicht mehr, Herr Baron, aber
für mich. Nun, das heißt, auch nicht immer; aber
wenn mich einer um etwas bittet, schlage ich es
ihm nie ab . . . Weil ich nicht kann. Sehn Sie,
da haben wir noch einen Fehler von mir, grad zum
Schluß; ich kann nicht anders, ich muß auf alle
Bitten ja sagen. Herrgott, bin ich dumm!“
Sie waren an dem Hotel angekommen, wo
Baron Frangart seine Mahlzeiten einnahm. Er sah
müde ans, als er sich von Schlagintweit, der ihm
die Hand hatte geben wollen, mit leichter Verbeu-
gung trennte. „Sagen Sie, Baron, wollen Sie viel-
leicht nachmittags lieber zu Haus bleiben?“ —
„Ja, geht denn das?“ — „Das machen wir ein-
fach so: Ich habe Sie nach Haus begleitet, es ist
Ihnen schlecht geworden, Sie werden diesen Nach-
mittag wohl nicht kommen. So werde ich in der
Schule sagen. Lassen Sie mich nur machen, auf
meine Verantwortung. Für einen Nachmittag, das
ist das Oute, brauchen wir kein ärztliches Zeugnis.
Also, Sie kommen heute Nachmittag nicht?“ —
„Nein, ich danke Ihnen, Herr Schlagintweit.“
—• „Auf Wiedersehen morgen!“ — „Guten Tag.“
Baron Frangart aß im Restaurant des Hotels,
wo außer ihm sehr wenige Menschen speisten.
Üm drei Uhr, als er es verließ, um dank der Güte
Schlagintweits spazieren zu gehen, senkten sich
bereits wieder die schweren grauen Nebel über die
Straßen. Verstimmt rief er einen Wagen heran und
fuhr sofort nach Hause. Dort warf er sich in ein
Fauteuil und blieb bewegungslos stundenlang
sitzen, Seine Gedanken waren nicht zu enträtseln;
und vielleicht dachte er nichts, sondern „genügte
sich einfach selbst“.
Abends ging er in ein Konzert. Aber da eine
Dame im Reformkleid den Platz neben ihm inne-
hatte, eine Dame, der er schon ansah, daß sie mit
ihrem „zuckenden Ich, ihrer modernen Seele, ihren
ringenden Gefühlen“ (Ausdrücken, die er mit
Schaudern in dem Buche einer Emanzipierten ge-
lesen hatte) seinen eventuellen Genuß stören
würde, entlief er noch vor Anfang des Konzerts.
Er fuhr nach eingenommenem Diner gleich wieder
heim, setzte sich wieder in das Fauteuil und
träumte . . .
Fortsetzung folgt

Baudelaire
Von Jacques Rivtere
Uebertragung aus dem Französischen von Jean-Jacques
Schluß
Der „Spleen“ oder der „Aerger“, diese schwere,
verzweifelte Leidenschaft, die die Temperatur ver-
jagt oder mit sich führt, ist keine einfache Me-
lancholie, keine gewöhnliche Traurigkeit. Aber die
Seele bäumt sich plötzlich auf; sie kann mit dem
Gefwichte ihrer Unvollkommenheit nicht mehr in
einem irdischen Bannkreise leben:

Ah! Seigneur! donnez-moi la force et le courage
De contempler mon coeur et mon corps
sans degoüt.r)

1) „Un voyage de bythere“, p. 321

Unmöglichkeit zu existieren. Eine Erinnerung
quält die verirrte Seele.1) Sie trauert bei dem
Gedanken an Würde, von der sie sich herabge-
stiegen sieht:
Une Idöe, une Forme, un Etre
Parti de l’azur et tombö
Dans un Styx bourbeux et plombe
Oii nul oeil du Ciel ne pönetre;
Un Ange, imprudent voyageur
Qu’a tente l’amour du difforme,
Au fond d’un cauchemar önorme
Se döbattant comme un nageur. 2)
Nach und nach merkt der Dichter, wie sein
Schmerz wächst. Er ist ihm nicht mehr persön-
lich. Die Klage der ganzen Welt geht in sein
Herz. Er wird von dem Gewissensbiß um das
verlorene Paradies gemartert. Er verfällt der Er-
innerung.3) Verschwommen sieht er die Voll-
kommenheit, die das All für immer geraubt hat
und die er dennoch wieder erfassen will. Auf die
Dauer wird die Erinnerung, die ihn in seinem Ab-
grunde aufsucht, genauer. Wie dem Schiffbrüchi-
gen der Trost der Fata Morgana gewährt wird,
so liegt auf dem Grunde seines Gedächtnisses bei
ihm das irdische Paradies.4) Es ist schlank und
nackt wie die hellen Bäume der Inseln; es gleicht
dem lauen, gemäßigten Meer der warmen Zonen,
wo die Schiffe schwimmen, die sich wollüstig auf
die Hüften der Wogen stützen:
J’irai lä-bas oü l'arbre et l’homme pleins de söve
Se päment longuement sous l’ardeur des climats;
Fortes tresses, soyez la houle qui m’enleve!
Tu contiens, mer d’ebene un eblouissant reve
De voiles, de rameurs, de flammes et de mäts. 5)
Manchmal, verführt durch eine weniger starke
Hoffnung, das heißt durch eine leiser tönende
Stimme, mit einer Art Bedauern ohne Erregung,
ruft der Dichter sein Glück:
Dis-moi, ton ceur, parfois, s’envole-t-il, Agathe,
Loin du noir ocöan de l’immonde eite,
Vers un autre ocean oü la splendeur eclate,
Bleu, clair, profond, ainsi que la virginite?
Dis-moi, ton coeur, parfois, s’envole-t-il, Agathe?
Comme vous etes loin, paradis parfume.
Oü sous un clair azur tout n’est qu’amour et joie,
Oü dans la volupte pure le coeur se noie!
Comme vous etes loin, paradis parfume!6)

1) „Er hat, sagte Claudel, die einzige Leidenschaft
besungen, die das neunzehnte Jahrhundert auf-
richtig empfinden konnte: das Gewissen“.
2) L Irremödiable, p. 242
3) „Von Schmerz und Gewissensbissen übersättigte
Wollust“. (Oeuvres Posthumes, p. 93)
4) Derriere le decors
De l’existence immense au plus noir de l’abtme
Je vois distinctement des mondes singuliers.
(La Voix, p. 225)
Vergleiche:
Mais les tenöbres sont elles-memes des toiles
Oü vivent, jaillissant de mon oeil par milliers,
Des etres disparus aux regards familiers!
Und:
Promenant sur le ciel des yeux appesantis
Par le morne regre des chimöres absentes.
(Bohömiens en voyage, p. 104)
In den „oeuvres Posthumes“ kann man lesen:
„Es gibt Augenblicke in der Existenz, in denen
die Zeit und die Ausdehnung tiefer sind, und das
Gefühl der Existenz unendlich vergrößert ist.“
(p. 86)
5) „La Chevelure,“ p. 119. Vergleiche „Parfum
exotique, p. 118:
Une Ile paresseuse oü la nature donne, etc.
6) „Moesta et Errabunda,“ p. 184 und 185

Dennoch, wenn es unsere Liebe erreichte:
Tout y parlerait
A l’äme en secret
La douce langue natale.
Lä, tout n’est qu’ordre et beaute,
Luxe, calme et voluptö. *)
So wird der Dichter von dem unendlichen
Sehnen nach Vollkommenheit gemartert. Er er-
innert sich der Ursprünge. Manchmal, von irgend
einer glücklichen Laune bis zu den Grenzen des
Paradieses getragen, betrachtet er es in nächster
Nähe, belebt es mit seinen Augen, zwingt es, alle
seine Wunder blühen zu lassen. Manchmal ver-
liert er es aus den Augen und ruft es klagend in
der Dunkelheit des Alls. Aber niemals vergißt er
es, niemals verläßt ihn der Gedanke dessen, was
vollkommen, friedenbringend, ewig ist. 2)
*
Indessen, welche Liebe zu der ohnmächtigen,
ungewissen, dem Untergange geweihten Realität.
Ebenso stark wie die Liebe zum Vollkommenen,
die Liebe zu den Dingen, denen es fehlt.3) Mit
der Betrachtung des Unveränderlichen, der Ge-
danke an das Sterbliche, ein unendlicher Respekt
vor allen unvollkommenen Dingen, eine wortlose
Bewunderung, ein Schweigen vor ihnen, die so
leidend, so verstümmelt, so schwach sind. Das ist
nicht nur Mitleid, auch nicht der Ruf nach gött-
lichem Erbarmen, sondern eine liebevolle Betrach-
tung, die Demut eines Herzens, das die Schwäche
mit Begeisterung erfüllt hat.
Von den geringsten Existenzen, von den Gegen-
ständen selbst spricht der Dichter mit aufrichtiger,
zärtlicher Besorgtheit. Es scheint, als ob er sie
nicht zu berühren wagt. Mit ganzer Vorsicht hebt
er sie empor. Mit höchster Verwunderung hüllt
er sie in seine Verse. Er fühlt das Wunder, das
darin liegt, daß sie gerade so und nicht anders
sind. Mit Vorliebe beschreibt er Wohnungen,
spricht er von der Farbe der Tapeten, von dem
Duft,* der den Möbeln entströmt. Mit Verehrung
spricht er von der Unordnung, die die Vergangen-
heit langsam in den Schränken anrichtet:
Un gros meuble ä tiroirs encombre de bilans,
De vers, de billets doux, de proces, de romances,
Avec de lourds cheveux roules dans des
quittances. 4)
Er kann von den schrecklichsten Dingen
sprechen, und sein gewaltiger Respekt wird ihm
hohe Dezenz verleihen. Mit einem warmen und
düsteren Gleichnis, zart wie die Huldigung der
Liebe, die der Tod nicht entmutigt, zeigt er sanft
in einem unbekannten Zimmer das abgeschnittene
Haupt einer „Märtyrerin“. 5)

1) „L’invitation au voyage,“ p. 167
2) Seine „Muse malade“ anrufend (p. 98), sagt er:
Je voudrais qu’exhalant l’odeur de la santö
Ton sein de pensers forts füt toujours frequente,
Et que ton sang chretien coulät ä flots ryth-
miques
Comme les sons nombreux des syllabes antiques,
Qü regnent tour ä tour le püre des Chansons,
Phoebus, et le grand Pan, le seigneur des mois-
sons.
3) „Je songe,“ sagte er,
A quiconque a perdu ce qui ne se retrouve
Jamais! jamais! ä ceux qui sabreuvent de
pleurs .... (Le Cygne. p. 260)
Siehe:
Pauvre grande beaute! Le magnifique fleuve
De tes pleurs aboulit dans mon coeur soucieux.
(Le Masque, p. 115)
4) „Spleen“, p. 119. Vergleiche:
Je n’ai pas oublie, voisine de la ville, eto.
(p. 282)
5) „Une Martyre“, p. 309 und 310

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