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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 105
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April
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Altenberg, Peter: Besuch
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0006

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lert; Stadtverordneter Bräsel aus Stettin; Dr.
Herbert Eulenberg, Schriftsteller; Ernst Hardt,
Schriftsteller; Fräulein E. Hedinger, Malerin;
Dr. Ernst Heilborn, Schriftsteller; Seine Exzel-
lenz Admiral von Hollmann; Professor Albert
Ritter von Keller (Maler der Damenseele, im
Salon), Mitglied der Königlich bayrischen Aka-
demie der Künste; und natürlich: Ludwig Fulda
und Hermann Sudermann, beide Schriftsteller zu
Berlin. Das dürfte selbst den Ritualmord töten.

Die Frau in Haus und Beruf
Verkitschung des Warenhauses A. Wert-
heim. Alles verkäuflich. Die Frauen, die flechten
und weben, stellten überall irdische Rosen herum.
Die Kinder Florens machten einen recht betrüb-
ten Eindruck. Frau Hedwig Heyl wurde ä la
suite gestellt.

Der gestorbene Lyriker
Sehr witzig finde ich es, daß man beim Tode
des Herrn Geheimen Justizrats Albert Traeger
sein Gefühl dem „modernen Reirhgeklingel"
gegenüberstellt. Es wird Herrn Traeger allgemein
bescheinigt, daß er nie einen persönlichen Feind
besessen habe. Deswegen, meine Kollegen, war
er noch immer nicht ein Dichter. Zwar blieben
allen Nachrufenden die Hilfsverben vor
Rührung in der Feder stecken. Oder war es
Lyrik ? Lyrik von, Albert Traeger ? Wenn jemand
eine Mutter hat, so danke er Gott dafür, stelle
aber dies Ereignis nicht erst; in gereimten; Jamben
fest. Wenn jemandem eine Mutter stirbt, so
finden die Kollegen es äußerst gefühlvoll, diesen
Schmerz gereimt in die Spalten des Feuilletons
zu stecken. Aber Gefühle, Kollegen, werden
nicht durch Brüllen, sondern durch Gestalten
lebendig. Darüber hilft nicht einmal der Tod
hinweg.

Die lebende Lyrikerin
Aber sie ist uns noch erhalten, die brün-
stige Marie Madeleine. Nach Herrn Norbert Falk
erwärmt sich jetzt ein Greis für sie, Herr Sigmar
Mehring, vielfach genannter Verfasser eines
Reimlexikons. Es tut mir doch sehr leid, daß das
„Berliner Tageblatt" auf meine Anregung hin
seine Beilage „Literarische Rundschau" durch ein
neues Klischee sichtbar gemacht hat. Jetzt wird
das Gemüse womöglich mit Wohlbehagen ge-
nossen. Das ist ein tolles Weib, die Marie Made-
lem Herr Mehring orientiert: „Eine Steigerung
ersten Sammlung war nicht möglich, denn
diese zeigt uns schon die in heißester Sinnlich-
keit erregte, wollusttrunkene, ganz und gar ent-
schleierte Mädchenseele. Zu enthüllen gibt es
nichts mehr." Wenn sie nun schon einmal ganz
und gar entschleiert ist, bleibt keine Sensation
mehr zu erwarten. „Aber in dem neuen Buch
meldet sich' ein anderer Reiz, der des gereiften
Weibes. Das Weib nach seiner sorglos opfer-
vollen Hingebung, das Weib, das nun auch
fordert (Nun auch?), das Gunst um Gunst und
Lust um Lust tauschen will, tritt uns bewußt
entgegen." Uns bewußt. Die Sache wird
kritisch. Nämlich: „Wir kennen es bereits (wir?)
aus der Novellensammlung (ach so) ,Aber das
Fleisch ist stark'." Der Geist des Herrn Mehring
hingegen schwach. Sonst ist er aber sehr willig.
„Schon dort hat Marie Madeleine verraten, daß
die tolle Mädchenzeit hinter ihr liegt." Jetzt
„singt" das gereifte bewußte Weib:
Meines Frühlings schmerzliche Wonne
Zerstob jn Traum und Duft,
Nun leuchtet mir Sommersonne
In goldener Mittagsluft.

Der Dame wird immer heißer. Oder, wie
Herr Mehring sagt: das Weib in ihr löst sich
ganz in Lüsternheit auf. Dann singt sie so:
Und deines Mannes Urkraft rast und gibt . . .
Und gibt mir Seligkeit und gibt mir Schmerzen.
Jetzt scheint sie aber ganz wirklich gereift
zu sein. Das findet auch Herr Mehring und sie
selbst: „Ihr ganzes Leben ist Sinnenlust (Reife
vastehste), ihr kommt es selber seltsam vor:
Ich kann es ja selber nicht begreifen,
Aber es ist, als müßt' es so sein . . ." .
Ja, manche begreift es nie. Aber es erfüllt
sie mit stolzer Befriedigung:
Das Leben, das so viele darben läßt
In Gier und Groll, ... in tödlichem Ver-
i . schmachten,
Hat liebevoll mich an sein Herz gepreßt
Und stillte all mein Sehnen und mein Trachten.
Wenn ihr Sehnen und Trachten endlich
schon gestillt ist, so soll sie doch um der Lyrik
willen wenigstens das Dichten bleiben lassen.
Denn erstens heißt es schon Dichten und Trach-
ten, und zweitens erfüllt es uns nicht mit Be-
friedigung.
Das Fleisch ist willig, aber die Kunst ist
schwach.
Männchen
Die „Vossische Zeitung", von Staats- und
gelehrten Sachen, 1791 priveligiert und 1911
modernisiert, meldet von einem neuen Cafe:
„Gleich beim Eintritt fällt einem das Kaiserbild
von Professor Männchen ins Auge." Herr Männ-
chen hat doch durch den Umbau von A. Wert-
heim schon so viel verdient, daß er nicht noch
Kaiserbilder in die Augen zu schmeißen braucht.
Der Unfall geschieht nicht so sehr durch
Schmeißen wie durch Malen.
Die sexoeile Abstinenz
Der Bund für Mutterschutz arbeitet jetzt
mit Resolutionen, nachdem ihm die Sorge für
die Mütter vom Mutterschutzhaus abgenommen
worden ist. Man versammelte sich und faßte
nach Vorschlägen einiger Aerzte einen Beschluß.
Vorher wurde festgestellt, daß die Herren Goethe,
Wagner und Nietzsche bis zum dreißigsten
Lebensjahr sexuelle Abstinenzler gewesen sind.
Ich bin über das Liebesleben dieser Herren nicht
so orientiert 'wie die Damen. Aber sie werden
es schon wissen, und die Philologen und Ger-
manisten werden keine aktenmäßige Beweise für
das Gegenteil erbringen können. Die Unter-
suchung auf diesen Gebieten scheint mir über-
haupt post festum etwas schwierig. Man freute
sich aber allseitig, daß die sexuelle Abstinenz
diesen Herren sonst nicht geschadet habe. Hier-
auf faßte man den Beschluß, und ging dabei
von der Voraussetzung aus, die Herren seien
leben Outsider gewesen, und was für Goethe,
iWagner und Nietzsche richtig sei, brauche man
billig nicht als Regel hinzunehmen. Besonders
die Frauen waren gegen die Regel und be-
schlossen : „Die sexuelle Abstinenz sei im all-
gemeinen schädlich, besonders für die Frauen.
Doch könne in Anbetracht der erwähnten Fälle
eine sexuelle Abstinenz bis zum dreißigsten
Lebensjahre nicht direkt als schädlich bezeichnet
werden." Durch diese Resolution scheint mir die
sexuelle Frage endgültig gelöst zu sein. Es war
zwar schwer, aber man weiß, was man zu tun
hat. Man kann es nämlich so machen oder auch
anders. In dringenden Fällen wende man sich
an den Bund für Mutterschutz.
H. W.

O,
Du mein Engel,
Wir schweben nur noch
In holden Wolken.
Ich weiß nicht, ob ich lebe
Oder süß gestorben bin
In deinem Herzen.
Immer feiern wir Himmelfahrt
Und viel, viel Schimmer.
Deine Haare sind Goldnelken,
Heiligenbilder deine Augen.
Sage — wie ich bin?
Ueberall wollen Blumen aus mir.
Else Lasker-Schiiler

Besuch
Von Peter Altenberg
Mein Freund, der Doctor philosophiae aus
Heidelberg, schrieb mir, er sei in tief deprimierter
Stimmung, wolle in den „Frieden der Berge
flüchten", höchst moderne Ausdrucksweise, und
vor allem beim Dichter eine Art von „seelisch-
geistigem" Reinigungsbad nehmen. Als er an-
kam, begann ich daher von Rax und Schneeberg,
Pinkenkogel und Sonnwendstein zu schwärmen.
Er erwiderte: „Lasse gefälligst diese Marlittiaden
einer überwundenen Epoche und zeige mir lieber
eine Dame, mit der man stundenlang über Ibsen,
Hofmannsthal, Stefan George und ähnliche Ge-
schöpfe seine endgültigen Ansichten los werden
kann." Er war glücklich, als ich ihm mitteilte,
daß ich zufälligerweise gerade jetzt drei solcher
Damen hier auf Lager habe, leider aber eine
jede in einem anderen Berghotel. Er meinte,
er wolle gern den Wagen b( zahlen, und wir
sollten von einer zur anderen fahren. Auf dem
Wege könne man ohne weitere Schwierigkeiten
die Schönheit, den Frieden der Bergwelt, aber
ohne Exaltationen über jeden einzelnen Baum,
sondern in Bausch und Bogen, genießen. Dieser
annehmbare Plan wurde zu allgemeiner Zu-
friedenheit ausgeführt. Eine vierte Dame, die
sich anschloß, konnte wegen Zeitmangels nicht,
ins Gespräch gezogen werden über die Philo-
sophie in der Musik des Debussy. Der Doktor
sagte zu mir: „Ist es also wirklich wahr, daß
man nur bis elf Uhr abends hier Getränke be-
kommt?!" — „Nein," erwiderte ich, „das ist eine
Verleumdung, man erhält bis Mitternacht Limo-
nade und Soda-Himbeer!" — „Esel;“ sagte er,
„ich meine schweren Burgunder!" Er schlug
nun vor, schon um sieben Uhr abends anzufan-
gen, damit man bis zur Schank-Sperrstunde das
Nötige absolviert haben könne. Ich erklärte ihm,
daß ich seit anderthalb Jahren Antialkoholiker
sei und daher vor halb acht Uhr abends nicht
anfangen könne! Er sagte, er sei einverstanden,
da er mich von meinen schwer errungenen
Grundsätzen nicht abbringen wolle. Im Laufe
des Abends gesellten sich einige Herren zu uns,
die er in liebenswürdigster Weise anstänkerte,
indem er sie fragte, ob sie sich ernstlich von der
Bergluft und der Enthaltsamkeit eine Heilung
ihrer anscheinend doch unheilbaren Leiden er-
warteten? Bald waren wir allein, und später
erklomm er mit meiner Bergführerhilfe die
Treppe. Er sagte noch: Rax, Schnee—berg,
Sonn—wend—stein, Pin—ken—ko— gel . . .,
dann verschwand er hinter der gepolsterten Tür.

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