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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 121/122
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Walden, Herwarth: Deutsche Dichter und deutsche Richter: 2/Berlin
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [1]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutnant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0118

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■worden sei“. Der Sachverständige hat sich zwar
für das Landgericht, aber nicht für ihn bestimmt
genug ausgedrückt:
Da die Klägerin weiteren Beweis für die Hö-
he ihres Schadens nicht angetreten hat, war
anzunehmen, daß ein solcher nicht entstanden
ist. Steht aber fest, daß die Klägerin
durch den Beklagten nicht geschädigt worden,
ist, so ist nicht ersichtlich, inwiefern dieser
durch den Abdruck dieses wert-
losen Gedeichtes bereichert worden
sein sollte. Die Klage war demnach abzuwei-
sen. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klä-
gerin nach Paragraph 91 Zivilprozeßordnung
zu tragen.
Ebenso kurz wie literarisch. Herr Amtsrichter
Braun erkennt das Gedicht und den Schadenersatz-
anspruch nun einmal nicht an. Und die Klägerin
ihn nicht. Der Prozeß ging deshalb wieder an die
Berufungsinstanz. Er dauerte zwar nun schon an-
derthalb Jahre, aber vier Prozent Zinsen seit Kla-
gezustellung auf zehn Mark ist auch eine ganz
hübsche Sache. Vielleicht weiß es Herr Amtsrich-
ter Braun noch nicht einmal. Aber die einund-
zwanzigste Zivilkammer des Königlichen Landge-
richts I unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors
Wester mann erkannte endgültig für Recht:
Das Urteil des Königlichen Amtsgerichts
Berlin-Mitte Abteilung 8a vom 29. April 1912
wird aufgehoben und der Beklag-
te verurteilt an ‘die Klägerin
zehn Mark nebst vier Prozent
Zinsen seit Klagezustellung zu
zu zahlen und 'die gesammten
Kosten des Rechtsstreits zu
tragen.
In den Entscheidungsgründen wird festgestellt,
daß das erkennende Gericht den Klageanspruch
dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt hat.
Dem Betrage nach fällt es die Entscheidung auf
Grund des Sachverständigengutachtens. Paragraph
92 Absatz 2 Zivilprozeßordnung. Es führt weiter
aus, daß der Beklagte für die Gestattung des Ab-
drucks das angemessene Honorar hätte bezahlen
müssen, und daß daher durch den unbefugten Ab-
druck der Klägerin ein Schaden entstanden sei.
Ich habe erreicht, was ich erreichen wollte. Die
Wahrheit hat sich seit Beginn des Prozesses sehr
gehütet, Dichtungen aus dem Sturm abzudrucken
und in derb-ironischer Weise zu geißeln. Ich war-
ne die Herren in der Provinz nochmals, Gedichte
aus dem Sturm abzudrucken und sich dabei Humor
einzureden. Auch rate ich ihnen, die sogenannten
Eeuilletonkorrespondenzen erst zu lesen, bevor sie
sie veröffentlichen. Auf Grund dieses obsiegenden
Urteils könnte ich jetzt mit ziemlicher Sicherheit
auf Erfolg sechhundert Zeitungen auf Schadener-
satz verklagen. Das würde der Verfasserin immer-
hin sechstausend Mtrk einbringen. Und vier
Prozent Zinsen vom Tage der Klagezustellung.
Auf diese Weise können auch gute Autoren
wenigstens zu einem angemessenen Honorar
kommen. Im Namen des Königs.
H. W.

Menschen von Gottes Gnaden
Aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutenant Mie-
ville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
Von Karl Borromäus Heinrich
Clermond-Ferrand, Osterdienstag 1884
Zu spät! Hier, wie immer, bin ich zu spät
gekommen. Es ist mein Verhängnis, zu spät zu
kommen, und vielleicht bin ich auch zu spät ge-

boren. Wenigstens sagt man, daß meine Mutter
daran gestorben ist.
Ich bin zu spät gekommen.
Heute hat sich mein Freund Baron Frangart,
den ich vor zehn Jahren im Jesuitenkollegium ken-
nen und lieben gelernt habe, mit Komtesse Riom
verheiratet.
Er hat ihre Bekanntschaft auf Schloß Choiseul,
bei Clermont-Ferrand, gemacht. Die Frangart und
Choiseul sind seit langen Zeiten verwandt. Die
Choiseul und Riom sind seit noch längeren Zeiten
verwandt. Und so bleibt alles in der Verwandt-
schaft, hauptsächlich aber bei den Choiseul, die der
verwaisten Komtesse Riom hundertachtzigtausend
Franken für die ganzen Liegenschaften Riom be-
zahlt haben; nun, schließlich ist es ja auch ganz gut»
wenn der Alte auf Choiseul sein Stammgut auf bil-
lige Weise vergrößert. Die Frage bleibt nur. für
wen; denn eines Tages muß das ja doch wieder an
die Komtesse zurückfallen; denn daß es an die
Bourbonen übergehe, wird der alte Einsiedler kaum
verfügen, obwohl ja die Choiseul, und die Frangart
und die Riom, mit ihnen seit längsten Zeiten ver-
wandt sind. Das hat der Adel so an sich, die weiten
Verwandtschaften. Wenn zum Beispiel, ich sage nur
zum Beispiel (nur und „zum Beispiel“ macht
sich hier sehr gut!), wenn also der damalige Herr
von Choiseul nicht mit seiner Tochter vor dei^
Gier des Königs Francois II. nach Mailand hätte
flüchten müssen, hätte diese den Edlen von Fran-
gart nicht dort kennen gelernt. Und wenn, wiede-
rum nur zum Beispiel . . . Nein, es ist genug mit
dem einen.
Denn wenn nur dieses eine zur Tatsache ge-
worden wäre, so hätte ich zwar sehr wohl mit dem
Baron Frangart aus Südtirol bekannt werden kön-
nen, obwohl ich aus dem französischen Departe-
ment Puy-de-Döme stamme: weil ja das Jesuiten-
kollegium in Chamfort ganz unabhängig von allen
diesen Verwandtschaften existiert. Nun ja. aller-
dings, wenn der alte Baron Frangart nicht mit
französischen Familien verwandt wäre, hätte er,
in betreff der Erziehung seines Sohnes, vielleicht
gar nie an ein französisches Jesuitenkollegium ge-
dacht. Das stimmt. Aber wenn die Güte Gottes'
wollte, daß ich und der junge Baron Frangart
Freunde werden und uns so lieb gewinnen, — ach,
wie lieb hab ich den jungen Frangart! — dann hät-
te er ja seinen Vater ganz zufällig auf die Idee
führen können, seinen Sohn in ein französisches Je-
suitenkollegium zu geben, noch einmal, nur zum
Beispiel, nach Chamfort. Er wäre dann mein
Freund geworden, ohne der Gemahl der Komtesse
... Oh großer Gott, wie schrecklich ist das alles!
Ich werde verrückt.!
Eine andere Möglichkeit, eine leichtere Mög-
lichkeit, und für die Güte Gottes so leicht wie
nur irgend etwas: Der alte Choiseul ist zwar mein
Vormund; aber ich habe ja kaum dreißig Worte
mit ihm gewechselt. Und das war vor zehn Jahren,
als er mir auseinander setzte, daß ich das uneheliche
Kind der wohlhabenden Witwe Mieville und eines
unbekannten Vaters sei; daß ich von mütterlicher
Seite soundsoviel Vermögen besäße; und daß er
es sorgsam verwalten werde, wie seine eigene
Sache, und noch sorgsamer . . . Das hat er ja
auch getan, wenigstens ist es immer mehr gewor-
den. Aber er hat wirklich kaum mehr als dreißig
Worte mit mir gewechselt. Richtig — pardon, Al-
ter! — er hat mich in ein gutes Regiment hinein-
protegiert; freilich, ohne lang zu reden.
Wenn also der alte Choiseul, als ihm Baron
Frangart sagte, daß er mich zum Trauzeugen bitten
wolle, nur etwa obenhin gesagt hätte: „ach nein,
ich möchte lieber den und den . . .“ dann hätte
wenigstens ich die Komtesse Riom niemals kennen
gelernt. Aber hat nicht der Alte geschrieben: „Ich
hätte sie, verehrtester Herr Mieville, auch ohne

den besonderen Wunsch des Baron Frangart ein-
geladen“. — Ich setze hinzu: wenn er auch daü
nicht gewollt und nicht geschrieben hätte! Eine
Kleinigkeit, lauter Kleingkeiten für die Güte Gottes.
Und so hätte ch die Komtesse nie gesehen. Nie.
Vor einem Vierteljahr ist sie aus dem Kloster ge-
kommen, jetzt heiratet sie.
Hat geheiratet.
Komtesse Riom hat geheiratet.
Komtesse Riom ist schon verheiratet, verhei-
ratet an Baron Frangart, meinen Freund Baron
Frangart.
Vor sechs Tagen habe ich Komtesse Riom,
pardon, Madame la baronne Frangart, zum ersten
Mal gesehen. Und meine ersten Worte waren:
„Komtesse, ich beglückwünsche meinen Freund
Frangart, daß er eine Französin heiratet. Daß er
aber das Glück hat, Sie heimführen zu dürfen, Kom-
tesse, dazu wünsche ich ihm nicht Glück; denn ich
beneide ihn zu sehr darum“.
Das war eine höfliche Phrase oder eine phra-
senhafte Höflichkeit.
Jetzt ist es Ernst.
Pfui, man soll keinen Freund beneiden!
Aber ich hebe die Komtesse so sehr. Ich liebe
ihre kleine schlanke Figur, ihr blasses Gesicht, ih-
ren arlesischen Mund, ihre mandelförmigen, fast
chinesischen Augen. Ich liebe die Komtesse so sehr
. . . Im Ausdruck sehe iich ihr etwas ähnlich, mein-
te der alte Choiseul, und es ist wahr.
Ich verachte mich. Es handelt sich um die
Frau meines Freundes.
Schäme dich, Mieville!
Ach Gott, ja. Aber ich glaube, die Komtesse
Riom liebt mich.
Unsinn, Frangart, reg dich nicht auf! Ich spre-
che von, der Komtesse Riom, nicht von der Baro-
nin Frangart. Die liebt mich natürlich nicht. Und
auch als Komtesse Riom war sie zu gut erzogen,
um wegen eines sechstägigen neuen Gefühls einen
älteren Entschluß umzuwerfen.
Baron Frangart ist schön. Ein beweglicher
Mensch. So südlich sieht er aus. Und wie er
unser Französisch spricht! Man muß ihn lieb ha-
ben. Sie wird ihn lieib gewinnen.
Aber ich weiß, sie hat mich geliebt. Sie pflegte
ihre schmale weiße Hand, wenn ihr etwas gefiel,
auf meinen Arm zu legen. Unabsichtlich, versteht
sich.
Eine Komtesse Riom ist von zu gutem Blut, um
Absichten zu haben. Und vielleicht, wahrschein-
lich, nein, selbstverständlich wußte sie gar nicht,
daß sie mich liebte.
Mindestens weiß die Baronin Frangart nicht,
daß mich die Komtesse Riom geliebt hat.
Schäme dich, Mieville! Du bist ungalant!
Aber noch ein paar Tage Zeit, und die Komtes-
se Riom hätte empfunden, mit Bewußtsein empfin-
den müssen, daß sie mich liebt!
Ich habe die Komtesse zu spät kennen gelernt.
Zu spät! Ich komme immer zu spät!
Heute haben sie geheiratet.
Diese Nacht ist ihre Hochzeitsnacht. Diese
Nacht. Heute, jetzt! Eben jetzt! ... Oh Schrei
der Sehnsucht!
Oh Gott, hilf mir! Hilf mir vor diesem Ge-
danken !
Mein Herz schlägt so schnell, Oh Gott! Hilf
mir!
Es soll keine Komtesse Riom mehr geben, nur
mehr ... Oh Gott, hilf!
Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget
werde dein Name,zukomme uns dein Reich, dein
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