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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 121/122
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Walden, Herwarth: Das Senkblei ins Ewige
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Döblin, Alfred: Ueber Jungfräulichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0124

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Das Senkblei ins Ewige
Ueberall regt sich neues Leben. Oder wie der
Kollege sagt: Das, Blühen will nicht enden. Auch
in Cassel ist man am Werk. Der Casseler Orts-
ausschuß für eine deutsche Nationalbühne und der
Casseler Goethebu n’d versenden einen Auf-
ruf. Die deutsche Nationalbühne soll nun endlich
einmal wieder gegründet werden. Die Leute, die
das Bedürfnis nach der Nationalbühne und nach
den Heimatsspielen nicht länger halten können,
müssen kolossal viel Blei im Kopf haben. Sie rufen
keinen Satz auf, der nicht spätestens seit Emanuel
Geibel klischiert worden ist. Die Casseler über-
bieten alles. Im Auftrag der vereinigten Commi-
tees schreibt der Schriftsteller Louis Wolff, Wolfs-
schlucht 7 zu Cassel folgendes:
„Es ist Zeit, daß ein Turm des deutschen Idea-
lismus aufgerichtet wird. Die deutsche National-
bühne, nach der anderthalb Jahrhundertevergeblich
gerungen, soll endlich erstehen“. Das „haben“ ha-
ben die Jahrhunderte noch immer nicht errungen.
Dafür bekommt die deutsche Nationalbühne den
Turm des deutschen Idealismus. Er wird auch
farbig: „Ein höchster nationaler Kunststempel soll
aufgerichtet werden und in die Lande leuchten,
als bleibender Wallfahrtsort“. In diesem höchsten
nationalen Kunststempel wächst unnatürlich alles
Gute: „Die Blüte des gesprochenen Dramas ist die
erhabenste Blüte des intellektuellen und Gemüts-
lebens einer Nation4. Es werden Namen genannt:
Goethe und Schiller, Björnson und Ibsen. Aber
Herrn Wolff aus der Wolfschlucht 7 fehlt „die Stät-
te, wo solchem höchsten geistig-ethisch-aestheti-
schen Interesse der Nation bei uns mit willkomme-
ner Würdigkeit und in echt priesterlicher Auffas-
sung in schlackenfreien Darbietungen für jeder-
mann aus unserem Volk gedient wird.“ Die Stätte
fehlt, , Die Theater sind unwürdig. „Die priester-
lich Binde, die göttliche Berufung, die heilige Wei-
he, der große Zug, das Senkblei ins Ewige
ist überall vielmehr da befleckt, zerlöchert, ver-
kleinert, herabgezogen., tausendfältig restringiert,
beschränkt, verklebt, verk’aubt, verschattet nur —
oder garnicht einmal vorhanden“. So sind die
Theater. Die priesterliche Binde ist befleckt, die
göttliche Berufung zerlöchert, die heilige Weihe
verkleinert, der große Zug herabgezogen, das
Senkblei ins Ewige tausendfältig restringiert, und
zu beschränkt, verklebt, verklaubt verschattet
oder garnicht einmal vorhanden ist das Subjekt
voller Schrecken davongelaufen. „Es ist ein un-
bedingtes Bedürfnis, daß die Stätte nunmehr ge-
schaffen würd“./’ Herr Wolff wünscht die Stätte,
wo „ohne jegliche Konzessionen an ein Unwürdiges
noch an ein Fremdländisches der edelsten Kunst
gedient werden kann“; Herr Wolff verleiht den Her-
ren Aischylos, Sophokles, Shakespeare, Moliere,
Björnson und Ibsen das deutsche Bürgerrecht für
edelste Kunst. Von deutschen Dichtern, denen in
diesen nationalen Tempel mit dem Turm des
deutschen Idealismus gedient werden soll, werden
vorläufig erst Goethe und Schiller mit dem Senkblei
ins Ewige beschwert. Herr Louis Wolff hat na-
türlich „mit allen einsichtigeren und das Bessere
wollenden Geistern unserer Nation Fühlung ge-
nommen *. Sie sind sich alle einig darin, daß „der
Kunst und dem Volke die Bahnen zum Höchster-
reichbaren in unserem Kulturleben weit und frei-
öffnendes nationales Bühnenhaus jetzt geschaffen
werden muß“. Von dem Bühnenhaus werden die
Rutschbahnen zum Höchsterreichbaren gehen. Und
vom 'Turm des deutschen Idealismus fällt „das
Volk“ den das Bessere wollenden Geistern auf den
Kopf, der ja aber Gott sei Dank aus Blei ist. Also:
„Bauen wir daher jetzt ein Haus solcher Art, das
für alle Zeiten den wichtigster Brennpunkt
des nationalen Kulturlebens darstellen muß.

— —-Auf dem Brennpunkt geht es dann heiß
her: „Solch’ Haus, in dem einem jeden, Volksge-
nossen wie nirgends sonst wo im weiten Bezirk
des völkischen Daseins die Empfindung rein und
kräftigen Herzens sich regen darf: Herr Gott, ich
danke Dir, daß ich ein Deutscher bin!“ — Heute,
zum ersten Male; Die Orestie des Aischylos.
Aber das Jekl. Herr Louis Wolff hat es. Er
macht einfach eine Nationallotterie. Außerdem
verfügt er über „ein intensiv ausgedachtes und
ausgedehntes Abonnementssystem“. Der Besuch
der deutschen Nationalbühne wird „durch ein über
alle Provinzen sich erstreckenden Eintrittskarten-
absatz erleichtert und begünstigt“. Aber Cassel
ist mitnichten ehrgeizig. „Der mitunterzeichnete
Ortsausschuß betrachtet und empfiehlt mit nichten
Cassel als den alleinseligmachenden Ort für die
Nationalbühne“. Nun ist alles da. Bis auf die Co-
miteemitglieder der Nationalbühne. „Damit d i e-
setbe zur baldtunlichen Verwirklichung in dei
besten Weise gelange, beehren wir uns auch Ew.
Hochwohlgeboren aufzufordern, in das allgemeine
deutsche Comilee zur Schaffung der Deutschen
Nationalbühne geneigtest eintreten zu wollen, und
uns durch gefl. (gefl.) zustimmende Rückäußerung
alsbaldigst zu erfreuen. Das in Tätigkeit tretende
Comitee könnte vielleicht in Bälde schon zusam-
menkommen und möchten wir uns • .. . “. Da
wird Herr Louis Wolff sein Herz ausschütten: „Be-
stimmtere Vorschläge für die ganze Einrichtung
der Bühne haben wir in petto, möchten die-
selben jedoch hier nicht ausbreiten“. Man muß
also nach Cassel reisenl Hoffentlich wirft bis dahin
Herrn Wolff niemand in die Wolfsschlucht. Aber
auch das würde ihm nichts schaden. Er wohnt
bereits auf Nummer 7.
So etwas nennt man in Cassel den Goethe-
b u n d. Viele Städte liegen im weiten Bezirk des
völkischen Daseins. Aber der Casseler Goethe-
bund schmeißt das Senkblei ins Ewige.
H. W.

Ueber Jungfräulichkeit
Von Alfred Döblin
Die Ehe als geseflschafliche Einrichtung, geht
nicht hervor aus der Sexualität selbst, hat
zwar die Sexualität, genauer die Heterosexualität
der Partner, zur Voraussetzung und Basis, aber
ihre gesellschaftliche Natur läßt sie weit über die
bloße Sexualität hinausgehen.
Die Wirkungsweise. Die Ehe ist kein Spezial-
geschäft für Sexualität, sondern ein Warenhaus, in
dem viele vieles, manche alles kaufen können.
Statt in die Tiefe zu gehen, geht sie in die Breite,
entfaltet ihre Reichtümer. Wenn die Ehe sich
zur Alleinform und sichtbaren Ausdruck geschlecht-
licher Beziehungen aufwerfen will, so zeigt sie
sich damit ohne Bewußtsein ihrer eigenen Natur;
denn sie hat es nicht wesentlich mit Sexualität zu
tun. Und ebenso töricht ist die Forderung, alle
Sexualbeziehungen im Rahmen der Ehe zu erfüllen»
als wollte man verlangen, nur zur Mahlzeit und
in besimmten Lokalen Hunger zu haben. Man
soll keine fremden Vorstellungen in den Ehe-
begriff tragen; Sexualität ist die Voraussetzung der
Ehe; ihre Befriedigung nicht Zweck der| Ehe; man
soll jene fast kolossale Lächerlichkeit nicht aus-
sprechen, daß Ehen auf Liebe sich aufbauen müs-
sen, wofern sie „wahre Ehen“ sein sollen. Das
zeugt nur von mangelnder Unterscheidungsfähig-
keit zwischen zwei klaren Begriffen./ Ebenso be-

urteilt sich das Verlangen, jungfräulich in die Ehe
zu treten. Soziales Pflichtbewußtsein, Vertraut-
heit mit den Haupt- und Nebensachen der Ehe sol-
len die Partner haben, bei zweckmäßigem nicht
triebmäßigem Handeln.
Derselbe Gedankenfehler bringt Verwirrung in
den Begriff der Jungfräulichkeit selbst. Es scheint
vielen, als ob die Sexualität woge zwischen zwei
Polen: Jungfräulichkeit und Prostitution, also
Kongreß mit keinem und vielen, und als ob danach
zu gruppieren sei. Eine Uebersicht über „Typen“
ist hier leicht, gesetzt daß man 0, 1, 2, 3, etc. zäh-
len kann. Diese Meinung muß als wertlos und
oberflächlich abgelehnt werderu Sexualität hat
mit Arithmetik nichts zu tun. Die Frage ist viel-
mehr: Jungfrau warum?
Wo keine Einsicht und keine Vorstellung vom
spezifischen Beziehungsakt besteht, wird dieser un-
möglich stattfinden können; das uneinsichtige und
darum untätige Individium kann Jungfrau heißerrj
Bei Menschen, die von Geburt blöde, idiotisch,
imbezill, kretinistisch sind, kommt solche Unwis-
senheitvor. Ist ein erwachsener, sonst normaler
Mensch nicht über den Sinn seiner Organe orien-
tiert, so ist seine Jungfräulichkeit ein Intelligenz-
defekt. Der Typus der dummen Jungfrau reiht sich
in die sexuellen Vor- und Mißformen.
In diese Fehlformen gehört auch die Frigide.
Das Unvermögen verleiht hier den Charakter der
Jungfräulichkeit.
Die vorsichtige Jungfrau gehört einem gewis-
sen weiten Kokottentyp an, der psychologisch die-
jenigen zusammenfasst, welche den Kongressus
üben aus nichtsexuellen Gründen, ein weiter Be-
griff, zu dem neben der Geldkokotte die Figuranten
der strenggesellschaftlichen Ehe rechnen müssen.
Während dort die Beteiligten den Kongreß üben un-
ter der Wahrung: ,„nur mit Erlaubnis des Geset-
zes“. üben die vorsichtigen Jungfrauen ihn nicht,
weil eben diese Erlaubnis fehlt. Noch mehr: sie
üben ihn nicht, um durch solch Verhalten einen
Zweck zu erreichen, oder zu vermeiden etwa als
unvorsichtige Jungfrauen minderwertige Eheware
darzustellen. In dieser Ausbildung stellt die Vor-
sichtige direkt das Pendant zur Geldkokotten, zum
reinen Typ, der den /Kongressus als Mittel für vul-
gäre Zwecke ansieht. Man kann sich auch prosti-
tuieren, indem man sich jemandem nicht gewährt.'
Die Nonne, der strengste Jungfrauentypus,
entzieht sich dem Sexualverkehr, um dadurch
zu einem Ziel beizutragen, sie fällt auch unter die
Kokottenkategorie.
Die Jungfrau wider Willen schließlich, die
Jungfrau aus Mangel an Gelegenheit, die nicht dem
Kongressus auswich, während er ihr auswich,
ist unter die Notformen zu nehmen, die durch das
Unvermögen sich charakterisieren.
Hier zeigt sich also, daß die „Jungfräulichkeit“’
allemal entweder Ausdruck einer Hemmungsmiß-
bildung oder eines Kokotteninstinktes ist, sie be-
gründen die Form der „Jungfrau“.
Wir fragen jetzt positiv: .Worin kann dann
aber Jungfräulichkeit liegen, welches Verhalten
kann als jungfräulich angesehen werden? Ebep
wurde die verbreitete Ansicht darüber hingestellt:
jungfräulich ist der Mensch, der noch nie Partner
eines Kongressus war. Die Jungfräulichkeit wird
also durch eine einmalge Handlung beseitigt, durch
eine äußere Bewegung. In diesem Begriff der?
Jungfräulichkeit wird nichts ausgesagt über den
Zustand des jungfräulichen Menschen. Sie ist
demnach kein Charakteristikum, keine Eigenschaft
dises Menschen, sondern eine gleichgiltige stati-
stische Bemerkung von dem Range: ein Mensch,
der noch keinen Schlips getragen hat. .
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