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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 117/118
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Dallago, Carl: Karl Kraus / Der Mensch
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Ehrenbaum-Degele, Hans: Gedicht
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Tichauer, Grete: Mein grünes Kleid
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [10]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0095

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Und der Künstler zieht sich noch mehr in sich
zurück und treibt seine Wurzeln in die Tiefe einem
Baume gleich, dessen Stand ausgesetzter wird.
Und verschwistert sich dem Sturmwind und freut
sich dessen klärender Kraft. Und mag es auch
vorkommen, daß diese Kraft ihm da und dort sein
Zweigwerk knickt, was tut es? Er wird neu trei?
ben — stärker, vielleicht auch höher, mit den Wur?
zeln noch tiefer. So lernt er immer mehr Stand
fassen. Und die Aussicht bleibt ihm frei. Er sieht
sich auf sich selber stehen — keinen Halt um sich.
Aber den Himmel über sich und eine Gesetzlich?
keit in sich. Es wird ihm noch bedeuten: Ein
Ewiges über sich — das Ewige in sich!
Gedicht
Meiner rauhen Gebärde trotzige Gegenwart
Wurde längs des Meeres ein versonnener Gang.
Was mein Blut durchklirrte, kampfheiß und hart,
Ist nun zu seligen Inseln leiser Nachtgesang.
Mein verwildertes Haar lieben die Abendwinde.
Alle Gärten atmen mein erblühtes Geschick.
Wenn ich Rosenfülle reich um die Schläfe winde,
Hab ich aller Sterne Glück und Geleucht im Blick.
Und die Wunder des'Tags haben mich tief geweiht:
Mit verwunschenen Wolken in die Fernen getragen,
Schweb ich ohne Ziele über verträupite Zeit,
Schimmernd überschimmert von den goldenen
Tagen,
Ohne Ziele über verträumte Zeit.
Haus Ehrenbaum?Degele
Mein grünes Kleid
von Grete Tichauer
Ich dachte meine ganze Liebe in dies Kleid hinein.
Vormittagen im Fieber angesichts meiner hellgrü?
nen Steppdecke. Es sollte nur scharfgrün mit weiß
sein, und ich wollte es in Kristiania tragen, wenn
ich zu Jens fuhr und Christian Kr. und Sigrid U.
besuchte. In Kristiania sollte platter Sonnenschein
sein, und ich wollte mit Jens in einem lachenden
Auto sitzen.
Ich dachte meine ganze Liebe in dies Kleid hinein.
Dann mußte ich zwar nach Görbersdorf in die
Lungenheilanstalt.
Das Kleid kriegte ich aber doch. .
Ganz scharfgrün nur mit weiß. Oben runder Kra?
gen, an den Aermeln ein wenig, und vorn auf der
linken Brust in der Tasche ein Tuchzipfel als wei?
ßer Fleck. Der Rock geschlitzt bis zur halben
Wade. Süßes Kleines=Mädel=Kleid.
Das erste Mal steckte ich (statt des weißen
Flecks) die Tasche mit einer herrlich roten Rose
zu. Ich habe bis jetzt nur vier solche Rosen ge-
sehen. Drei bekam ich von der Schauspielerin
Aagot D. (weil ich so jung war) und jene vierte
legte mir mein Kaukasier breithändig eines Mor?
gens auf meinen weißen Bauch.
Ich hatte ganz dünne schwarze 'Seidenstrümpfe
auf meinen Beinen, über die G. G. schreibt, daß
sie ihn zu einer (Philosophie inspiriert haben.
Ich merkte gleich, wie ich das Kleid anzog, daß
es mich königlich machte. Ich war vorher noch
blaß, hatte eine große Nase und nebeneinanderste?
hende gleichgültige Augen.
9.2

Aber das Kleid war Erotik; durchtränkt!
Mein blondes Haar fing an rotgelb zu leuchten,
und ich wurde im Augenblick wunderschön (Augen,
kleine Nase, roter starker Mund). Da schmiegte
ich mich in das Kleid und küßte es.
Jedesmal wenn ich das Kleid anzog, wurde ich
so schön und konnte tanzen, blamierte mich in kei?
ner kleinsten Bewegung und hatte Macht über
alle. Briefe, die ich in diesem Kleid schrieb, wirk-
ten augenblicklich und zuckend, und Blumen, die
ich in diesem Kleid gepflückt habe, sind nicht ver?
welkt.
Das Kleid schenkte mir einmal den einzigen voll-
kommenen Genuß. Ich ging zu K. ins Zimmer und
hatte das Kleid an. Darunter trug ich einen dünnen
(Mädelchen?) Unterrock aus puren Valencienne?
spitzen, Hosen aus durchsichtigem Batist von sü-
ßem Schnitt oberhalb der Kniee und flatternder
Stickerei, das Hemd bis unterhalb der Brust durch-
brochen und lange schwarze Seidenstrümpfe mit
hochhackigen Schuhen. Nur der Strumpfkalter
war nicht nett. Zwar aus weißer Seide und nichts
dagegen einzuwenden, aber Strumpfhalter sind im-
mer häßlich. Mein Haar war glänzend und sharm
pooniert. Das Kleid formte meine Brüste zu Wun-
dern und meine Schenkel zu wütenden Männer?
schreien. Ich habe nie das An= und Ausziehen so
genossen wie dies eine Mal.
Die Sieghaftigkeit des Kleides ist heute nach vier
Monaten noch ebenso stark wie damals, als ich es
schuf, fieberkrank in Wollüsten nach Jens.
Aber jetzt geht es allmählich kaput, es ist so
dünner Stoff. An den Armen ist es schon ganz
durchgeschubbcrt. Aber ich habe es mit Seide zu*
sammengezogen, daß man nichts sieht.
Jetzt habe ich mir ein Samtkleid gestaltet,
schwarz schleppend, mit hellem Tuchunterkleid und
tiefem Spitzdekolletee, weil mein Hals und Rücken
hier so schön geworden ist. Weihnachten soll
Alexo daraus Champagner trinken.
Der schwarze Vorhang
Roman
von Alfred Döblin
Sie lachte, sie lachte.
Die Nacht war hereingebrochen, die Luft heim-
lich geworden.
Da sah Johannes ihre Fenster am Gartenhaus
leuchten, Er lief durch die Gartenwege mit halb-
geschlossenen Augen, ohne gegen die Schwärze der
Bäume anzurennen, den Kopf zurückgeworfen, mit
reifen Lippen. Er lief und zitterte, zitterte; — Ro-
stige Tore muß ich auf tun. — Er lief, wünschte
halb, daß ihn jemand festbände, oder von hinten
über den Haufen schösse.
Ihr; Haus mit den glühenden Fenstern glich
einem Ungeheuer, Charybdis, die ihn mit einem
langsamen machttollen Zuge einschlürfte.
Durch die verschlungenen Gänge, Wege, über
den Kies, knirschte und klirrte sein Schritt.
Irene saß zusammengekauert auf einem Sessel,
wich nicht zurück. Sie hatte nicht den Kopf gedreht
und nicht die Augen vom Boden abgwandt, als die
Tür klang. Die Hände waren gehoben, die Hand-
teller abwehrend nach vorn gewandt. ,,Irene, geht
alles verloren.“

„Noch schütz ich mich, Johannes“ — „Ich habe
dich in Blut verlassen, deine Lippen blieben wund“.
Seine Stimme keuchte über die fahlrote hinweg.
In Qual starrte er sie an, die den Kopf zu ihm hob.
In ihren Augen begann ein stilles Feuer zu glü«
hen, ihre Brust wogte. „Irene, Wüste, Wüste ist
alles in mir geworden“.
Er riß sie an den Handknöcheln zu sich auf. „So
durfte ich nicht zu Dir kommen. Unsere bösen
Feinde wollen es. Wenn ich meine Finger bewege,
geschieht nur ihr Wille, nur ihr Wille. Oh wie hätte
ich zu dir kommen sollen.“ Irenes Sehnen und
Muskeln spannten sich drohsam, sie reckte sich
zu ihm auf. Ihr Blick traf ihn; er leuchtete hassend;
aber Johannes schloß nicht geblendet die Augen.
Er sprach nicht mehr; eine Verwandlung ging mit
ihm vor. Sein Gesicht schien zu erkalten; die
Mundwinkel blieben breitgezogen und die gespann-
ten Kaumuskeln traten unter der Wangenhaut her?
vor. Irene erstarrte nicht. Sie flehte, während sie
den Griff seiner Hände an ihren Arm fühlte „Oh
du mußt sterben, ich sehe es an deinen Augen. Du*
— aber töte mich.“
Sie blühte in seinen Armen auf. Inbrünstig und
hingerissen flüsterte sie: „Schlage mich,'Johannes.“
„töte mich, ich fleh dich an. Du hast das Recht und
sonst niemand.“ Sie sah immer auf das erstorbene
Gesicht, das sie noch nie gesehen hatte und
das sie so glücklich fand. Seine starken Hände pack5
ten ihre runden Schultern, die jubilierend aufbeb?
ten.
Irene, dein Hals ist so weiß, ist so weiß — du
lößt mich, — wie heiß sind deine Lippen. Was tust
du mir?-
Er ging taumelnd. Irene folgte ihm mit dem
Blick durch den frühlingsknospenden Garten.
Als sie wieder im dunklen Zimmer lag, atmete
ihre Brust wild und tief, flog vom Dunkel gedeckt,
über ihr Gesicht ein höllisches Lächeln. Sie war
ihm gewachsen. — Johannes ging stumm durch
den Garten und die Straßen, mit breiter Stirn und
schluckte oft. In ihm gings nicht so seelisch vor, ihn
erfüllte nur das Gefühl seines Körpers, das Auf?
stampfen der Füße, das Wiegen der Arme. Er hatte
die Empfindung, als müsse er einen Felsblock mit
den Schultern heben, oder langsam vor sich heb-
drängen. Dann achtete er auf sein schnaufendes
Atmen nud war in seinem stillen, mondhellen Zim?
mer.
Ihn gelüstete nach Schmerz; er sehnte sich un-
klar nach Erwachen und Besinnung. Ihm war als
müsse er aus irgend einem Elend aufschreien.
Ungewiß, was er tun sollte, schaute en auf die
stummen, in sich zurückgezogenen Dinge an der.
Wand und im Zimmermitten, schlug mit den Knö?
cheln gegen die scharfe Tischkante und warf sich
auf den harten Fußboden. Ein hoher Haufen von
Blättern und losen Bognn fiel vom Tisch auf ihn
herab und flatterte wie trockene, starre Frauen-
haare über sein Gesicht. Er schleuderte die Blätter
auseinander, wühlte, begrub sich in ihnen, und sei-
ne Hände zerrissen und zerrieben sie, während das
düstere rettungslose Gesicht unbeweglich blieb
und aus dem offenen Munde dröhnende Laute ka-
men.
Er wälzte sich in den Papieren. Als seine Finger
einen- Glassplitter am Boden fasten, presste er ihn
tief in seine Lippen, schluckte, indem er sich auf-
richtete und ganz erhob-, mit trunkener Ruhe das
heiße Blut, das tropfenweis auf seine Hand fiel und
dessen Glut und feuchtes Purpurrot ihn erzittern
ließen. Er atmete rascher nd unruhiger, trocknete
seine Hände ab und betrachtete sich im Spiegel,
aus dem ihn ein mondweißes, scharfschattiges frem?
des Gesicht anstarrte.
 
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