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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 152/153
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Für Kandinsky
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers: ein Roman
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Meyer, Alfred Richter: Enges Zimmer
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Reth, Alfred: Meine Ausstellung im "Sturm"
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0288

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ben schwammen ineinander über und wurden
trüb; das Tönen, das ihn wie ein undurchdring-
liches Netz umsponnen hatte, da er das Bild seiner
Mutter am Flügel schuf, löste sich, und endlich
fielen die Maschen ganz von ihm ab —. Ein Nebel
sank über ihn; die dunkelblauen Fensterhöhlen
erloschen in dichter Nacht . . . Der Knabe litt
in diesen Augenblicken so empfindlich, daß er die
Nacht, die um ihn her war, wie die Berührung
feuchter Finger auf seinem Gesicht fühlte. Ein
Grauen schüttelte ihn und warf ihn auf die Knie.
So lag er, den Kopf an das Ebenholz des Flügels
gepreßt, voller Angst vor der tönelosen Nacht und
doch unfähig, ihr zu entfliehen. Dies waren die
Stunden, in denen er für die höchste Seligkeit, die
ihm die blaue Stunde gewährt, büßen mußte.
Wenn die Nacht den großen Musiksaal völlig
in Besitz genommen hatte, schien es, als wäre der
Reichtum, der an den Wänden, auf Tischen und
Tischchen, an der Decke und auf dem Fußboden
in vornehmer Linienreinheit ausgebreitet war,
plötzlich verblaßt und wertlos geworden. Die
Nacht hatte den strahlenden Reichtum in matte
Armut verwandelt. Und vor dieser Armut, die er
fühlte, entsetzte sich der Knabe. Er liebte den
musikalischen Rhythmus der kostbaren Gemälde,
die erlesenen Motive orientalischer Teppiche, die
schlanke Schlichtheit altertümlicher Stutzuhren,
das Gleißen großer Kronleuchter. Er liebte die
aristokratische Linie und den vornehmen Reich-
tum in allen Dingen, die ihn umgaben.
... Er war allein mit seiner Seltsamkeit. Er
besaß nur einen Menschen, dem er sich hätte an-
vertrauen können, und diesen einen verstand er
nicht, diesen einen verleugnete er sogar in den
Stunden seiner wollüstigen Entrücktheit. Er ver-
mochte die geradlinige Nüchternheit seines Vaters
nicht zu verstehen; er konnte nicht begreifen, wie
ein Mensch ohne Bedürfnis nach Schönheit sein
könne, und fürchtete sich vor der Erkenntnis, daß
sein Vater weder die Schönheit der Stimme, des
Schreitens, des Körpers, noch die höhere Schön-
heit der Gedanken, der Wünsche, der Seele be-
sitze. Er erkannte früh, daß sein Vater Guts-
besitzer und nichts weiter war. Als er darüber
nachzudenken begann, sah er sich vor dem Rätsel
seiner Herkunft und drang allmählich in den Ge-
danken ein, daß seine Mutter eine große Künst-
lerin gewesen sein müsse, eine viel größere
Künstlerin als er bis dahin in den Entzückungen
der blauen Stunde geahnt und geglaubt hatte. Welch
einen Reichtum an Schönheit mußte sie besessen
haben, da sie ihn noch so überschwenglich damit
bedachte! So wurde seine Verehrung der Mutter
tiefer, je höher sich sem Bedürfnis nao Schönheit
entwickelte. Und so spann er sich immer enger in
die musikalische Allheitswelt seiner Phantasien
ein und war lange Zeit in Gefahr, den Fluch des
Träumers durch sein ganzes Leben schleppen zu
müssen. Er verlor sich immer bedingungsloser
an die Lockungen seiner Seele, gab mit immer
schwächer werdendem Widerstand dem Verlan-
gen, in allen Erscheinungen Symbole zu sehen,
nach und fühlte sich in den Unwirklichkeiten seiner
in Verzückung erschaffenen Welten heimischer als
in den Wäldern und Gärten der Heimat. Immer
heißer ersehnte er in den Mprgen- und Mittag-
stunden das sanfttönende Glück des Abends; und
die Nächte marterten ihn endlich so schrecklich,
daß er bleich und hohläugig wurde und am Tage
umherging wie ein Gestorbener, der keine Ruhe
finden kann. Seine Seele verzehrte sich in einem
ungestümen Fieber.
Fortsetzung folgt

Enges Zimmer
Nun gehen die Nebel wieder in weißen Mänteln aus,
wohlige Dämmerung lullt tiefer die Tage ein
und Stürme fassen mit derben Fäusten das Haus,
fauchen im Ofen und flackern im Lampenschein,
gucken durchs Fenster wie rußige Schornstein-
feger
mit weißen Augen und melden für morgen den
ersten Schnee.
Vom Turme klingt eine Glocke leiser die Stunden
. ab —-
da blicken wir beide heiter von unsern Büchern
hoch
und wissen, daß draußen das Leben noch nicht
gestorben ist.
Alfred Richard Meyer
Aus einem Gedichtband Das Buch Hymen von
Alfred Richard Meyer, das dieser Tage im Verlag
A. R. Meyer, Berlin-Wilmersdorf erscheinen wird.
Die Gedichte sind in ihrem Wert sehr ungleich.
Aber dieses Bändchen enthält das außerordentlich
schöne Gedicht Interieur, das zuerst in dieser Zeit-
schrift Nummer 50 veröffentlicht wurde.
II W.


Meine Ausstellung im
,Sturm'
Mein Bild aus Varengeville (1,) ist eigentlich
jenes Werk, das ich als mein erstes betrachte. Es
entstand in einer Zeit, in der ich ganz und gar
blind dem Instinkt folgte, ohne die Kontrolle des
Geistigen anzulegen. Aber der Künstler kommt
notwendig auf einen Punkt, an dem er beginnen
muß bewußt zu arbeiten. Das Bild 5 hatte ich im
Salon d’automne ausgestellt. Es machte in den
großen Sälen bei einer anderen Beleuchtung als der
von mir persönlich bevorzugten auf mich den trau-
rigsten Eindruck. Ich fand es sehr schwach in
Farbe und Komposition. Ich antwortete mir mit
dem Bild 6 in der Ausstellung der Independants,
es wurde genau das Gegenteil des vorigen. Dieses
Bild bedeutet eine große Veränderung in meiner
Arbeit.
Ich merkte, daß es falsch wäre, den sogenannten
„Charakter“ der Dinge zu geben; das ist zum Bei-
spiel: die längliche Form eines Flaschenhalses zu
den genau entsprechenden Proportionen des dicken
Bauches; der dicke große Stamm eines Baumes
mit den dünnen breiten Zweigen, das Verhältnis
des großen Leibes zum kleinen Hals beim Men-
schen.
Von dieser Zeit an schuf ich nur Kompositionen;
ich war bemüht, rein das Verhältnis der Massen
untereinander darzustellen. Das Problem lag darin,
die absolute Allgemeingültigkeit der Form zu finden,
jedoch gleichzeitig durch die Anordnung der
Verhältnisse die Form in jedem Einzelfalle
als einmalig und persönlich erscheinen zu lassen.
Jedesmal wenn ich meine Arbeiten unbefriedigt
betrachtete, und das herauszuholen versuchte, das
mir einzig von Ausdruckswert zu sein schien, stieß
ich auf ein ganz bestimmtes Formverhältnis.
Die bildenden Künstler, die ernsthaft arbeiten,
kommen sehr oft nach vielen inneren Mühen, auf
solche Formverhältnisse; aber sie pflegen ihre
Entdeckung, ihre innere Regel, meist zu ver-
schweigen aus Furcht, man könnte sie für reine
Theoretiker des Raisonnements halten.
Da ich glaube, daß der bewußte Arbeiter sich
auch äußern kann, will ich ruhig von den mir nahe-
liegenden numerischen Formverhältnissen reden:

Es ist das Verhältnis 2 zu 7. Und ich habe gefunden^
daß, wenn man die große Kunst der Primitiven
untersucht, man auf dieselben Proportionen stößt.
Ich glaube nicht, daß die Wurzeln der Kunst zeit-
lich sehr unterschieden sind. So bin ich der Mei-
nung die Kunst unserer Zeit unterscheide sich von
der großen. Kunst der früheren Epochen nicht
durch 'die Qualität, sondern durch Pflicht aes
Künstlers, seine Erkenntnisse bewußt .
wenden. — Erkenntnisse, die ein primitiver Meister
vielleicht instinktiv ■ traf, geleitet und an Entglei-
sungen gehindert allein durch bestimmte Mittei-
lungen der Religion und Kultsitte seiner Zeit.
In dieser Epoche entstanden die Bilder 14 bis
24. Aber ich fand, daß auch diese Bilder noch
viel zu sehr Anlehnungen an die direkte, materielle
Natur waren.
Ich bin des Glaubens, daß die Kunst nicht iti
einem Wettstreit mit der Natur steht, mit Stim-
mung, Psychologie, Empfindung, sondern daß es
Sache der Kunst ist, räumlich die Vorstel-
lungen auszudrücken, die der menschliche Geist
von den Dingen hat So gewiß es keine malerische
Dichtkunst oder Musik und keine literarische oder
musikalische Malerei geben kann, so gewiß jeder
Versuch der Vermischung oder Verschiebung der
Künste unsinniges hervorbringt, so gewiß ist auch,
daß die Tatsache der Produktion, des Schaffens in
Kunst, dieselbe Wurzel im menschlichen Innern
hat. Und so gibt es allerdings auch ein Moment
der Malerei, das den anderen Künsten entspricht,
wie es auch ein Moment der bildenden Kunst gibt,
das der Natur entspricht.
Die Dichtung und die Musik haben ihren Anfang
in der Zeit. Das Zeitliche scheint bei der bildenden
Kunst ganz ausgeschaltet zu sein; aber das scheint
nur so. Man gestehe sich ein, daß es durchaus un-
möglich ist, ein Bild mit einem einzigen Blick zu
umfassen, wie ein volkstümlicher Ausdruck lautet.
Instinktiv nimmt das Auge seinen Anfang und glei-
tet in einer bestimmten Zeit über das Bild. Nur
die illusionistisch-naturalistische Perspektivmalerei
wünschte über diesen Vorgang zu täuschen.
Eine wichtige Aufgabe des bildenden Künstlers
ist es, das Auge des Schauenden zu leiten. In den
fünf Bildern 32 bis 36 habe ich bewußt versucht,
rein durch die Formverhältuisse diesen Anfang in
der Zeit für unser Auge aufzustellen.
Hier tritt dann auch wieder die rein geistige
Parallele auf, die in der bildenden Kunst den Ver-
hältnissen in der direkten Natur wahrhaft ent-
spricht. Wie nämlich in der Natur etwa das
Schwebende, Unbestimmte einer Landschaft, das,
was wir Milieu oder Stimmung nennen, eine
menschliche Gestalt in ihr erst wirklich klar als
lebendigen Organismus erscheinen läßt; so sind es
auf dem Vorstellungsbilde unseres Geistes gewisse
vag gefärbte, nicht bestimmt konturierte Formen,
die andere entschieden umrissene Formenmassen
um so energischer als die bedeutungsvollen Kon-
struktivelemente der geistigen Anschauungswelt
hervortreten lassen.
Und ich glaube, daß das bewußte Aufdecken des
undenkbar großen Unterschiedes zwischen der
Kunst und der Natur innerhalb des Schaffens, die
Kunst erst wahrhaft befreit von der Vereinzelung
ihrer Stellung in unserer Zeit und sie zu einer
wirklichen Angelegenheit unseres Lebens machen
kann. Unseres Lebens, das uns bestimmt als In-
stinktwesen des Geistes.
Alfred Reth
Uebertragen aus dem Französischen
Verantwortlich für die Schriftleitnng:
Herwrarth Walden / Berlin W 9

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