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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 115/116
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [9]: Roman
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Mürr, Günther: Marie
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Pick, Otto: Der Selbstmord eines Katers
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0088

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ten, vor ihr Haus „Ich habe ein Recht auf dich, denn
du warst mein. Neu bin ich, verwandelt. Unser Ver*
brechen zu sühnen brach ich auf; das Künftige soll
mächtiger sein als das Vergangene. Nun bin ich:
sieh mich doch, Irene —
Oh, du läßt mich schwer büßen. —
Während er unten mit zusammengesunkenem
Rücken auf der Bank saß, rang um Irene jener
Freund, den ihr die Worte zwischen Spiegeln und
Kronleuchtern geworben hatten. Die Hände des
Mannes wollten nicht von ihren Händen lassen. Die
rothaarige sah kalt in seine Augen. Es wehte aus
dem Garten herauf. Da ists über sie gekommen.
Sie hat nicht aufgeschrien, die Angst hat nicht das
glückliche Gesicht verzerrt. Sie presste die Hände
an die Brust, willenlos einer grausigen Gewalt
preisgegeben, die aus den scharzen Baumwipfeln
auf sie zuschritt; kauerte dann, sich besinnend hin
und starrte auf das Dunkel des Fensters zu. Ge-
wimmert hat sie leise und ist zaghaft auf den Freund
zugewichen immer die Augen verschlossen. Dann
ihr höhnender Triumpfschrei gegen den Wipfel, und
sie ist von seinen Armen umschlungen worden.

Ich habe nie gelebt; soll nie leben. Worte und
Zufälle lebten für mich, starre Gewalten. So mächtig
ist das Vergangene. Während er mit traumblöden
Augen auf die Wanduhr sah und der Schwingung
des Pendels folgte, der wie ein Henkerbeil über
Sekunde und Sekunde fiel, beschlich ihn das Gefühl»
als ob ihm etwas fehle. — Die Uhr, er hörte die Uhr
nicht mehr! Im Erwachen schlug seine Hand schwer
gegen den Tisch: den Schlag hörte sein Ohr. Er
sprang ganz auf, starre auf den Pendel. Die Uhr
ging, der Pendel hob und senkte sich, — aber er
hörte das Ticken nicht mehr. Er spannte seine Auf-
merksamkeit, behorchte alle Geräusche seines
Atems, seiner Schritte, des Straßenlärms, er rütteh
te am Fensterkreuz: konnte den Schlag der Uhr
nicht mehr höhren „Ich spüre die Mächte, die für
mich leben, die sich mir verbergen wollen; am
hellerlichten Tage spüre ich sie.“ Er brütete in er-
neuter Wut. In dumpfer, wirrer Hitze bäumte er
sich auf, schrie nach Gewißheit, nach einem Gottes^
urteil. — „Nun soll ich nicht leben dürfen“ Mit fie-
berndem Kopf ging er fort. Er wußte nur, daß er
sich Gewißheit holen, der dunklen Mächte erwehren
müsse.
♦ *

Hohl ging ein Sturm durch die Straßen, über
die ein. Gewitter hungerte. Eine schmale Kluft er-
kletterte er hinter der Stadt. Seine Haare flatter-
ten; der aufheulende Wind riß ihm den Hut voim
Kopfe; seine Augen glühten. Oben auf der Platte
toste der Sturm. Die Windsbraut pfiff und lockte,
riß den Wald an den Haaren, wollte ihn in die Höhe
heben. Er lachte. Er trat an einen Felsblock, kauerte
an ihm nieder, umschlang ihn von unten, zu sich
flüsternd: Du, laß das Träumen sein. — Bald werde
ichs wissen. Seine Augen starrten zum grauen Hiim
mel, zerrissen und gejagt flogen die Wolkenfetzen.
„Wenn das Licht kommt, will ich es grüßen. Ich
oh ich.“
Ein gelbes Leuchten, ging über den Himmel;
zuckendes Licht fiel über den Block, „Geliebtes“ —
Er schrie zum ersten Male, neigte sich und rang
mit dem Stein ihn zu heben, kein Gott stand ihm
bei Den Kopf in den Nacken zurückgeworfen. Die
Blicke klammern sich am Himmel fest, lassen ihn

nicht. Er schrie zum zweiten Male. „Verlaß mich
nicht“ — Ein Grauen flog über sein Gesicht; seine
Arme heben den Stein nicht. Das helle Jauchzen der
Windsbraut schnitt durch die Luft. Der Stein rührte
sich, polterte in die Kluft, Ein letzter Schrei kam
aus seinem Munde; er stürzte mit ausgestreckten
Armen über den Boden hin. Mit Gellen, Stöhnen,
und zerreißendem Singen ging die Luft über das
Gebirge.
♦ #

Er taumelte. Laß sie nur über meinen Kopf
hinwegheulen. Sie mögen gewaltig sein, mir bleibt
das Gelächter. Ich kann nur die Achseln zucken
über sie. —
Was ist doch der großen wilden Trauer enger
Sinn ? Ein Gefühlswicht brünstelt hinter einer Mäd-
chenfratze, die ihm verloren ist. War einer, der
nur eine lieben kunnt. Meine erinnerungstrunkene
1 rägheit putzt sich „unentrinnbaren Zwang“, und
ist doch die schmachtende Trägheit das einzige,
dem ich nicht entrinne — meine Trägheit oh die
putzsüchtige: sie nennt sich auch Gewissen. —
Dann fiel er zusammen. Seine Qual dachte an Irene,
die alles verschuldet hatte. Sie haßte er ohnmäch-
tig und streckte nach der stolzen, sicheren, droh-
ende Hände aus. Was wollte er aber von ihr? Er
konnte sie nicht lieben, nur erobernd war ihm Irene
in die Seele gedrungen.
Was hatte sein Schmachten geträumt? „Sie soll
meine Schwermut trösten. Sie reizt mich, sie höhnt
mir. Hoho man kehrt zur ersten Liebe zurück. —
Sie hat mir ein Stück Seele gestohlen Gerade sie
will ich. Sie soll mich trösten und trösten. Ich
glaube, ich verlange nur nach Liebe, um mein
dumpfes Blut mit gutem trostvollem zu mischen,
ohne daß ich nicht leben kann.
Vor meinem kleinen Menschendurst mach ich
den großen Lärm: — Liebe —.
Er lächelte, -— der Glaube erlosch; aber die
Sehnsucht ist geblieben. Spät und schwer habe ich
sprechen gelernt. Meine Stummheit hat in Ehr*
furcht und Inbrunst vor den Worten gelegen, bis sie
mir die Riegel lösten. Demütig, zart habe ich sie
gemieden und gaben dann mir ihre letzten ver-
schwiegenen Wunder hin, nahmen an dem scheuen
Liebhaber eine selige Rache. Die großen Worte,
der erhabene Irrsinn der Worte: alle Schönheit und
Entsetzen haben sie doch über mein Leben gebrei*
tet. Oh, diese Windsbraut von Glück, die aus dem
Wörtchen Liebe an meinen Mund schlägt. Die Zu-
fallsschranken soll ich durchbrechen, auch Lilith
töten, nicht mehr einsam sein. —
Wie kann ich nur atmen ohne Liebe, gleich
einem Panter, der in seinem Käfig rennt? — Wo ist
Irene? — Sie muß mich trösten, streicheln. Ich
muß sie wieder haben, ich fordere mein Eigentum,
sie hat kein Recht zu leben ohne mich. —
Etwas in die Arme schließen und zerbrechen,
ich möchte etwas langsam, langsam zerknirschen,
Rippe um Rippe, Glied um Glied — Ach, Blut sehen,
mit dem Munde Blut schlürfen. —
Er hob die Arme als wollte er etwas hinstür*
zen, wie er früher seinen Hund hingeschleudert
hatte.
„Irene“ schrie alles in ihm auf. Sie hatte mir
Liebe versprochen, mir meine Seele abgelogen, ab-
gezogen die stolze Buhlerin. —
Er schrak zusammen, lenkte seine Gedanken ab,
sah um sich und zog sich scheu zurück.

Ihm war, als wenn er sie wild lachen gehört
hätte. — „Schlafen, in die kühlen Kissen mich
legen, die mir nicht wehtun. Ein Sarg, der einen
brütenden, sterbesüchtigem Menschengeist lockt
und immer von neuem täuscht; ihn über Nacht,
Nacht um Nacht, doch wieder spiel* und vergessens-
froh macht.
Aber heute wäre ich ihm für alles dankbar. —
Alles hier, Kissen, Bett, Tisch, Stuhl und Decke, ah
les lebte, blühte, kroch und schwamm einmal in Eim
samkeit, Tier oder Pflanze Hat sich doch alles nun
zu Staub und Holz beruhigt. Nur in mir, dem Herrn
von Luft, Staub und jedem, muß sich das Leben
noch ballen und angstvoll krampfen. Was lacht
Irene so?

Nur in mir krampft das Leben, mich einsam und
feindselig zu machen. Wie sie lacht, oh, wie sie
lacht! Johannes lag auf seinen Kissen ganz der
Schwere hingegeben und diese dumpfe Gewalt ge-
nießend. Er fühlte sich gewaltsam in den Willen
der Schwere hinein, in den leichten Druck zwang
er seine Gedanken, den sein Körper, sein Rücken
und seine Glieder auf das Lager übten. Johannes
bewegte sich nicht und so spürte er es bald nicht
mehr leise ziehen und fallen. Ein Ersterben schlich
über Glieder und Leib; er schwebte frei.
In seiner bangen Schwüle war er wieder allein.
Die Elemente hatten ihn ausgestoßen.
* *
*
Fortsetzung folgt!


Marie
In bunten Scherzen nebelnde Traurigkeit,
Spielen mit Worten, wie mit gläsernen Scherben.
Sehnsucht nach hübschen Füßen von Zeit zu Zeit.
Der Mond ist schön, aber er steht so weit.
Lebensverachtung und zitternde Angst vorm Sterben
Nebeiverwisch tes, grünfleckiges Hügelziehn.
Quälend endlose Kleinigkeits-Plätscherwellen.
Ruhige Musik von herzdurchschönten Frauenhän*
den.
Aus gilbenden Kornfeldern Heimweh nach Cafe-
musik und Spiegelwänden.
Augen, die aus sich selber in braune, weiche Haare
fliehn

Günther Mürr

Der Selbstmord eines Katers
Karl Tubutsch war Ehrensteins erstes Selbst-
portrait. Als Lebensverächter hat er sich den Le-
sern seines ersten Buches vorgestellt. Aber damals
schon (es ist nur wenige Monate her) fanden sich'
Leute, welche die seltsame Beschaffenheit dieser
Tubutsch-Maske erkannten, indem sie einfach die
Flüche des Karl Tubutsch für Unmutsäußerungen
nahmen, sein Grinsen für ein bitterböses Lächeln,
seine Verzweiflung für Enttäuschung, kurz,, indem
sie das Negative seiner Lebensanschauung um einen
kleinen spitzen Winkel verrückten und die verkapp-
ten wärmeren Gefühle ihrer rein verstandesmäßi-
gen Uebertünchung entkleideten So zeigte sich
Tubutsch-Ehrensteins Antlitz als das eines Men-
schen, der nicht so sehr Menschenfeind als ein
Freund der Dinge und Tiere ist, der dem Leben nur
so lange flucht, als es ihn mit (bösen Zumutungen
behelligt, der sich aber indifferent davon abweriden
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