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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 136/137
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Scher, Peter: Bankroffts Erlebnis
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Zech, Paul: Sackträgerin: Antwerpener Impression
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Wagner, Hermann: Die rote Flamme, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0213

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Gelassenheit, ein Klägliches von sich schieben.
Seine Seele war wie ein Kristall. Es sprach in ihm
eine Stimme (und er sah mit heiteren Augen auf die
Tote nieder): Ja, nun erst bist du mir ganz und
für immer gewonnen, du kleine Mädchenseele, der
ich mit meiner großen Inbrunst den einzigen tiefen
Gedanken deines Lebens eingegeben habe! Sehn-
sucht und Erfüllung — wo ist ein Anfang — wo ist
Ende! Wie bin ich beglückt, daß ich dies alles er-
leben durfte!
Der Arzt machte mit jähem Ruck eine ab-
wehrende Bewegung mit der Schulter und wie auf
ein gegebenes Zeichen brach die Verzweiflung von
neuem wieder aus.
Der Ehemann hatte sich erhoben, war schlep-
pend näher gekommen und fragte nun den Arzt,
indem er immer bedacht war, der Toten den
Rücken zu kehren, mit tiefer feierlicher Stimme:
„Herr Doktor, soll das heißen, daß ich — nichts
mehr — zu hoffen habe?“
Bankrofft wiegte den Kopf.
Er stand noch einen Augenblick an ihrem Lager.
In ihm war ein tiefes, stilles Gleiten. Geliebte!
sprach eine dunkle Stimme aus der Tiefe seiner
Seele. Dann entfloh er dem lauten Schmerz, der
aufs neue um ihn zu wüten begann.
Als er in seinem Zimmer war, fühlte er den Re-
volver in seiner Tasche. Er legte ihn vor sich auf
den Tisch und lächelte.
Bis zum Morgen saß er rauchend und lesend am
Tische. In seinem Gesicht war ein Leuchten wie
nach einem großen Erlebnis. Er neigte dann und
wann horchend den Kopf zur Seite. Er hörte das
hilflose Stammeln eines Kindes und ein warmes
helles Frauenlachen.
Mit einem Mal fiel ihm die angefangene Satire
ein. Er ging mit großen Schritten auf und ab. Seine
Lippen bewegten sich.
Er blieb den ganzen nächsten Tag in seinem
Zimmer. Als er am zweiten Tage morgens hin-
unterging, um Briefe nach der Post zu bringen,
traf er den Ehemann mit einem glänzenden Zy-
linderhut und einem Flor um den Arm im Hause.
Er nahm die Beileidsäußerungen der Nachbarn ent-
gegen. Er war feierlich und vernichtet.
Bankrofft grüßte und ging schweigend an den
Leuten vorbei. Niemand dankte ihm; alle sahen ihm
verletzt, kopfschüttelnd nach.

Sackträgerin
Antwerpener Impression
I
Sie schwankte wie ein Rohr den Damm entlang,
Der schwarzbevölkert war von Ausgesperrten:
Frohnplagen, die an dumpfen Fesseln zerrten
dran Glied um Glied wie schnödes Glas zersprang.
Sie bog das ungeschnürte Schenkelpaar
dem Rhythmus zaghaft hingesetzter Schritte
und tat behutsam, daß nicht niederglitte
die Last auf dem zurückgestrichnen Haar.
Doch ihre Augen rissen die Gesichter
der Tagelöhner w;e zwei Fackeln auf
und hinter den halboffnen Lippen stand
ihr rotes Herz wie zum Verkauf.
Und allen die geblendet waren vom Spiel der
Lichter,
warf sie es lachend in die offene Hand.

Sie tanzte wie ein Stern den Damm entlang
und so, daß jeder Blick ihr folgen konnte,
den sie im gleitenden Vorüberschwang
zärtlich entzündete und grell besonnte.
Sie hielten all ihr rotes Herz umkrampft,
bis der zermürbte Tag herunterbrannte;
dann sind sie stumm ins Tal hinabgestampft
wie Trunkene und wie Weltabgewandte.
Nur ein Blutjunger schlich in das Haus
der Trägerin, auf daß sie nicht entrönne
und auch kein anderer sie zuerst gewönne.
Er blieb darin und liebte bis ein Strauß
Purpurner Rosen alle Giebel krönte
und trug ein Glück mit fort, das seinen Tag
verschönte.
111
Sie riß den blauen Vorhang von den Scheiben
und schob den Riegel sacht aus den Verschluß,
und ließ den Morgenwind in breitem Fluß
durch des Gemaches dumpfe Schwüle treiben.
Und ihre schmalen lustzerrissnen Lippen
tranken den Morgenduft wie kühlen Wein;
doch ihr Gesicht blieb hart verschlossen wie
Gestein
und nur das Herz schlug heftig an die Rippen.
Schlug noch den letzten Takt der Liebestänze,
getanzt mit dem Geliebten auf dem Pfühl
das nun dahin welkt wie zerpflückte Kränze.
Dann raffte sie die Kleider vom Gestühl
und trug das Unversehrte ihrer Brüste
unter der Last der Frohnen wiederum längst
der Küste.
Pau! Zech


Die rote Flamme
Von Hermann Wagner
Irgendeiner von denen, die alles wissen, hatte
mir einmal den richtigen Namen der beiden Unzer-
trennlichen verraten.
Der Dicke mit dem gutmütigen, stets rosigen
Vollmondgesicht und der riesigen, wie polierten
Glatze hieß Joachim Richter, der Magere und
Bleichsüchtige, der immer wie ein Leichenbitter
aussah, Theodor Kruse.
Es kannte sie nämlich ein jeder nur bei ihren
Vornamen und sprach von ihnen schlankweg als
vom Herrn Joachim und Herrn Theobald.
Die Art aber, wie man den Ton auf das „Herr“
zu legen pflegte, brachte deutlich zum Ausdruck,
mit welchem Respekte man ihnen, bei aller Ver-
traulichkeit, begegnete. So würdig und ehrbar
sahen sie aus, obwohl sie nur zwei alte minder-
wertige Advokatenschreiber waren, die für das
Geringfügige, das sie leisteten, eine Art Gnaden-
brot aßen. s
Man traf sie eigentlich sehr selten.
Sie lebten wie abgeschieden von der Welt, fast
einsiedlerisch.
Gingen sie aber aus, dann konnte man darauf
schwören, daß sie es gemeinsam taten.

Der eine ohne den anderen war gar nicht denk-
bar. Man hatte, wenn man sie einzeln sah, das
Gefühl einer Lücke. Als ob etwas nicht in Ord-
npng sei. Oberflächlich betrachtet, machten sie
freilich den trostlosen Eindruck von schlaffen Phi-
listern. Von Leuten, die dem ewigen Gestern leb-
ten, von Leuten ohne Leidenschaft und tiefere
Wünsche.
Ob auch sie je jung gewesen sein mochten!
Jung, mit Feuer in den Augen, strebend, handelnd,
draufgängerisch?
Der Gedanke war absurd. War schlechterdings
nicht auszudenken,
Jugend in den Fleischmassen des Herrn Jo-
achim, der mit seinem Zuviel an Fett, seit man sich
erinnern konnte, schon unter Atembeklemmung ge-
stöhnt hatte! Oder gar in dem hageren, knöcher-
nen Körper des Herrn Theobald, der wie mit gel-
bem Pergament überzogen war und bei jeder Be-
wegung zu knarren schien, wie ein schlecht ge-
ölter Automat!
Undenkbar.
Aber auch, daß die beiden alt werden könnten,
so richtig alt, greisenhaft und gebrechlich, lag
gleichsam außer dem Bereiche jeder Wahrschein-
lichkeit.
Denn sie blieben sich stets gleich.
Wie alt sie in Wirklichkeit waren, wußte nie-
mand zu sagen. Wohl um die hohen Fünfziger her-
um. Tatsache war, daß sie sich in den zwanzig
Jahren, die sie nun, von irgendwoher draußen her-
eingeweht, in der kleinen Stadt lebten, so gut wie
gar nicht verändert hatten.
Und das nicht nur in ihrem Aeußeren, ihrem
Körper.
Auch innerlich blieben sie noch zwei echte
Biedermeier. Verharrten im Großen und Ganzen
noch auf jenem Niveau, zu dem sich die Klein-
bürger des Städtchens, immer langsam und be-
dächtig, etwa in den sechziger Jahren emporge-
schwungen hatten.
Trug man ihnen etwas Neues oder Großes zu,
taten sie immer sehr erstaunt und nahmen davon
mit einem dünnen Lächeln Notiz, innerlich voller
Skepsis und überzeugt, daß alles nur Humbug sei.
Sie verstanden das Neue nicht und wollten es
nicht verstehen.
War es wirklich möglich, daß die Zeit an je-
mand so spurlos vorüber gehen konnte?
Zweifelnd fragte sichs mancher und mußte
schließlich einsehen, daß es so war.
Und hatte er nur einige Phantasie und tiefere
Einsicht, dann entging ihm gewiß nicht der Zug
jener halb komischen, halb tragischen Romantik,
die wie ein Schleier um das Wesen der beiden
Freunde geworben war: wie die Ueberbleibsel
einer längst entschwundenen Zeit, einer Zeit, die
sagen- und märchenhaft wirkt, sah er sie in das
Getriebe des modernen Lebens hineinragen.
Als Schreiber in der kleinen Kanzlei eines Pro-
vinzadvokaten waren sie, wenn auch sehr unwahr-
scheinlich, gerade noch möglich.
Als Buchhalter oder Korrespondenten eines
kaufmännischen Kontors, auch des kleinsten, wären
sie schon unmöglich gewesen.
Du lieber Gott, sie boten den jungen Leuten,
deren Kollegen sie ja immerhin waren, sehr viele
Angriffsflächen: sie waren zweifellos höchst ko-
mische Figuren. Und nichts war leichter, als sie
lächerlich zu machen. Ihr immer ernsthaftes, ge-
messenes Getue, die Wichtigkeit, mit der sie die
nichtigsten Dinge behandelten, die langsame, ge-
radezu peinlich ängstliche Art, wie sie mit ihren
altmodischen Federkielen Seite auf Seite der gro-
ßen Foliobogen bekratzten, Bagatellklagen und
Mahnbriefe mit einer Exaktheit abschrieben, als
handle es sich mindestens um Staatsverträge —

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