Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

DOI Heft:
Nr. 150/151
DOI Artikel:
Für Kandinsky
DOI Artikel:
Marinetti, Filippo Tommaso: Supplement zum technischen Manifest der Futuristischen Literatur
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0277

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Sie haben mich, sehr geehrter Herr Walden,
nm meine Meinung über Kandinsky befragt. Hier
ist sie. Machen Sie von meinen Mitteilungen den
Freunden des „Sturms“ gegenüber und denen, die
es werden können, den Gebrauch, den Sie für
nützlich halten.
Ich wünsche Ihrer entschlossenen Arbeit allen
Erfolg und begrüße Sie mit herzlicher Hochachtung
als Ihr ergebener
Wilhelm H a u s e n s t e i n

Oskar Kokoschka
Das Buch von Kandinsky könnte solchen
Journalisten die Augen öffnen, die bis jetzt gedacht
hatten, nur über den Kontrapunkt in der Malerei
dürfe man nicht schreiben. Wenn die Öffentlich-
keit wirklich von der Privatmeinung eines Jour-
nalisten geleitet wird, dann scheint sie vielleicht
nicht das maßgebende Forum zu sein und Kan-
dinsky kann sich mit der Würdigung der Freunde
seiner Arbeit zufrieden geben.

Arbeit befreit sich plötzlich der schöpferische
Geist vom Gewicht aller Hindernisse und wird
gleichsam das Opfer einer merkwürdigen spon-
tanen Auffassung und Ausführung. Die schrei-
bende Hand scheint sich vom Körper zu lösen
und sich ins Freie zu verlängern, weit, weit weg
vom Gehirn, das ebenfalls losgelöst vom Körper
ätherisch geworden ist und von oben mit er-
schreckender Klarheit die unerwarteten Sätze be-
trachtet, die der Feder entfließen.
Betrachtet dieses herrschende Gehirn unbe-
weglich oder lenkt es wirklich die Sprünge der
Einbildungskraft, die die Hand erschüttern? Es
ist unmöglich, sich darüber Rechenschaft abzu-
legen. Ich habe — physiologisch — in solchen
Augenblicken nur ein leeres Gefühl im Magen be-
merken können.
Unter „Intuition“ verstehe ich einen fast voll-
kommen intuitiven und unbewußten Zustand, unter
„Intelligenz“ einen fast vollkommen intellektuellen
und bestimmt wollenden Zustand des Gedankens.
3/ — Die ideale Poesie, von der ich träume,
und die nur die ununterbrochene Reihe der zwei-
ten Analogieausdrücke wäre, hat nichts mit der
Allegorie zu tun. Die Allegorie ist allerdings die
Reihe der zweiten Ausdrücke mehrerer Analo-
gien, aber diese sind alle logisch verbunden.
Die Allegorie ist manchmal auch der zweite ent-
wickelte und peinlich beschriebene Ausdruck einer
einzigen Analogie.
Ich will hingegen die unlogische weder appli-
kative noch intuitive Reihe der zweiten Aus-
drücke zahlreicher, unverbundener, entgegenge-
setzter Analogien geben.
4/ — Alle begäbe Stilisten haben mühelos fest-
stellen können, das Adverb ist ein unveränder-
liches Wort, das das Verbum, das Adjektiv oder
ein ein anderes Adverb modifiziert, es ist sogar
eine musikalische Agraffe, die einzelne Töne einer
Periode aneinanderklemmt.
5/ — Ich halte es für nötig, Adjektiv und Ad-
verb wegzulassen, weil sie gleichzeitig oder nach-
einander die bunten Fesseln, die nuancierten Dra-
perien, die Sockel, Brückengeländer oder Balu-
straden der traditionellen lateinischen Periode
sind. Durch einen klugen Gebrauch von Adjektiv
und Adverb erhält man das melodiöse und ein-
tönige Gleichgewicht des Satzes, seinen fragen-
den oder gewichtigen Ton und seinen ruhenden
und abgestuften Fall wie das Anlaufen der Wel-
len auf den Strand. Mit dem identischen Ein-
druck, der immer derselbe bleibt, behält die Seele
ihren Atem, zittert ein wenig, fleht um 'Frost und
atmet auf, wenn die Flut der Worte zurückläuft
mit ihrer Kieselsteininterpunktion und ihrem
Schlußecho.
Adjektiv und Adverb haben eine dreifache Be-
stimmung: erklärend, dekorativ und musikalisch.
Dadurch geben sie den schweren oder leichten,
langsamen oder schnellen Wert des Substantivs
an, das sich im Satz bewegt. Sie sind die Stöcke
und die Krücken des Substantivs. Ihre Länge
und ihr Gewicht regulieren den Schritt des Stils,
der so immer unter Vormundschaft ist, und sie
hindern ihn, den Flug des Vorstellungsvermögens
wiederzugeben.
Wenn zum Beispiel dasteht: „Eine schöne und
junge Frau, geht rasch über Marmorfliesen“, so
beeilt sich der traditionelle Geist zu erklären, daß
diese Frau jung und schön ist, obwohl die In-
tuition ganz kurz eine schöne Bewegung gibt.
Nachher erklärt der traditionelle Geist, daß die
Frau geht. Dann wird er hinzufügen, daß sie
schnell geht und endlich, daß sie über Marmor-
fliesen geht.
Dieses rein erklärende Vorgehen, das des Un-
vorhergesehenen ganz beraubt ist, lastet von

Die Unterzeichneten erheben hierdurch gegen
die Beschimpfung des Künstlers Kandinsky im
„Hamburger Fremdenblatt“ vom 15. Februar den
allerschärfsten Protest und sprechen dem Belei-
digten ihre Sympathie aus:
Hans Arp
Guillaume Apollinaire, Paris
Peter Baum
Dr. Adolf Bebne
Henri Martin Barziin, Direkteur Primes et
Drama, Paris
W. von Bechtejeff, München
Dr. Heinz Braune, München
H. Campendonk
Robert Deiaunay, Paris
Dr. Max Deri
Dr. Alfred Döblin
Dr. Julius Elias
Albert Ehrenstein
E. Epstein, Paris
Alfred Flechtheim
Dr. Eberhard Grisebach, Jena
Walter Helbig
Fritz Hellwag
Albert Gleizes, Paris
Franz Jung
A. von Jawlensky, München
Cesar Klein
Bernhard Köhler
Rudolf Kurtz
Paul Klee, München
Marie Laurencin, Paris
Rudolf Leonhard
Alexandre Mercereau, Direktor de Vers et
Prose, Paris
F. Leger, Paris
N. Aginsky, Paris
August Macke
Franz Marc
F. T. Marinetti
Alfred Mayer, München
Ludwig Meidner
Alfred Richard Meyer
Dagobert von Mikusch-Buchberg, München
Wilhelm Morgner
J. B. Niestle
Walter Ophey
Dr. Gustav Pohl, München
Dr. R. Reiche, Barmen
Richter-Berlin
Fr. Rosenkranz
M. E. Sadler, The University, Leeds in England
Arthur Segal
Dr. Franz Stadler
Dr. Wilhelm Stadler, Hamburg
Jacob Steinhardt
Peter Scher
Arnold Schönberg
Georg Tappert
Curt Viktor von Witzleben-Normann
Wilhelm Wulff, Soest
Marianne von Werefkin
Paul Zech
Während der Drucklegung sind noch verschie-
dene Unterschriften eingegangen, die in der
nächsten Nummer veröffentlicht werden.

Moeller van den Bruck
Es geht durchaus wider mein Gefühl, gegen
einen bedeutungslosen Schreier und Schreiber
auch noch zu protestieren. Selbstverständlich ist
Kandinskys Sache eine geistige Sache. Selbst-
verständlich ist er edler Idealist. Auch der Un-
berufene müßte sich wenigstens sagen, daß Kan-
dinsky nicht grundlos und ohne innere Nötigung
ein sicheres Können mit Experimenten vertauscht
haben wird. Wir andern wissen dies.

Supplement zum tech-
nischen Manifest der Fu-
turistischen Literatur
Von F. T. Marinetti
Ich verachte die Schwätzer und die Ironiker,
und ich beantworte die skeptischen Fragen und
die wichtigen Entgegnungen, die die europäische
Presse meinen technischen Manifest der futu-
ristischen Literatur entgegengeschleudert hat.
1/ — Die, die verstanden haben, was ich mit
„Haß der Intelligenz“ sagen wollte, glauben hier
den Einfluß der Philosophie Bergsons zu er-
kennen. Sie wissen sicher nicht, daß mein erstes
episches Gedicht „La Conquete des Etoiles“
(Die Eroberung der Sterne, 1902) auf der ersten
Seite folgende drei Verse Dantes trug:
„O i n s e n s a t a enr a de m o r t a 1 i
(,) u a n t o s o n diff.et.tivi sillogismi
Q u ei ehe ti fanno in basso batter l’ali“
(Paradies, elfter Gesang) und folgende Gedanken
Edgar Poes:
„ . . . Der poetische Geist — die erhabenste
Fähigkeit, wie wissen cs jetzt, da ja wichtige
Wahrheiten uns nur durch diese Analogie enthüllt
werden konnten, deren Beredsamkeit, der Vor-
stellungsgabe gegenüber einwandfrei, für die
schwache, einsame Vernunft nichts bedeutet.“
Edgar Poe: Gespräch zwischen Monos und Üna
Weit vor Bergson stimmten diese schöpfe-
rischen Geister mit dem meinen überein: sie
zeigten ihre Verachtung und ihren Haß gegen die
schwache, einfältige Intelligenz und sprachen alle
Rechte der intuitiven und divinatorischen Vor-
stelhingsgabe zu.
2/ — Wenn ich von Intuition und Intelligenz
spreche, so will ich nicht von zwei vollkommen
getrennten und verschiedenen Gebieten reden.
Jeder schöpferische Geist hat während seines
Schaffens feststellen können, daß sich intuitive Er-
scheinungen mit der logischen Intelligenz ver-
weben. Folglich ist es unmöglich, genau den
Augenblick zu bestimmen, da die unbewußte In-
spiration aufhört und der klarsehende Wille be-
ginnt. Manchmal verursacht der Wille plötzlich
die Inspiration, manchmal begleitet er sie. Nach
einigen Stunden mühseliger und angestrengter
 
Annotationen