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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 108
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Friedlaender, Salomo: Max Steiner: "Die Welt der Aufklärung", [2]: nachgelassene Schriften
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0034

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III
An sich war „nichts" weder gut noch
böse — das Denken machte es erst da-
zu! Dem alten Irrwahn der beiden feindh
liehen Prinzipe, Iden Zarathustra entfacht,
Zarathustra ausgelöscht hatte, fiel, zu'm nicht ge-
ringen degoüt Goethes, auch der Logiker Kant
mit seinem „radikal Bösen" zum Opfer. Von
biforimer (polarer) Identität ließ Kant sich nicht
einmal etwas träumen. Erst Zarathustra durch-
schaute die Illusion des „Bösen“ als die Aus-
geburt sklavischer Furcht. Er leugnet keinen sitt-
lichen Richtungsunterschied, also -Gegensatz. Er
konstatiert ein'„Stark" als gut, ein „Schwach"
als schlecht: es fällt ihm, aber nicht ein, die Indif-
ferenz dieser Differenz zu leugnen, die „Geheim-
niswiett der doppelten Wollüste", der sein grenzen-
loses Ja- und Amensagen gilt. Hier zeigt sich1
die Beschränktheit der lediglich skeptischen
Köpfe, die letzte .Unfreiheit Max Steiners: der
Mangel an Besinnung auf die Bedingung aller
Möglichkeit ihrer Dialektik! Der nodus vitalis
der Logik, der Ausstrahlungspunkt aller mög-
lichen Meinungsverschiedenheiten und -Gegen-
sätze ist eben deswegen so unauffällig,
weil er unbestimmt, unbestimmbar, weil
er neutral ist: Indifferenz aller Differenz.
Ohne Besinnung auf dieses Apriori, dieses un-
determinierbar reine logische Medium, ohne
diese logische Null kommt alles logische
Zählen vom Hundertsten ins Tausendste, aber
niemals zum wahrhaft Unendlichen, Allgemeinen,
Kategorischen. Der Skeptiker schlägt sich mit
entgegengesetzten Denkmöglichkeiten herum, und
vergißt die Ausnutzung der Unanfechtbarkeit
seiner eigenen Mittelstellung: sein Indifferen-
tiSmus bekommt keine Energie, keine Intensität.
Ihm würde die besonnene Einsicht in die eigene
totale Exemtion unerhörte Kraft zum1 Traktieren
der Gegensätze geben können; zur Beherrschung
der Welt vermöge des Ueberlegenheitspunktes
in ihm, der .nicht „vom dieser Welt", der „jen-
seits", „Ding an sich" ist! Wie sehr schwelgt
Max Steiner i'm Erleben und Anerkennen dieses
Punktes! Wie sehr wehrt er sich gegen die
plumpe Naivetät, Erscheinungen für Wesen zu
hälfen! Wie dringt er auf die metaphysisch-
ethische Bedeutsamkeit der Erscheinungen! Den-
noch bleibt seine gesämmte Anstrengung ohne
eigentliches Resultat, weil seine Extreme keine
Pole werden, keine Berührung in einer
medialen Grenze persönlich finden, obschon
sie sich danach sehnen: keine Indifferenz.
Der Indifferentismus ist die Erfüllung des
Versprechens aller Skepsis, aller echten Freiheit
des Geistes. Es ist überaus sonderbar, daß die
Logik der Logiker nicht ausgereicht hat, dieser
letzten Finesse teilhaft zu “werden: Position und,:
Negation betreffen allemal das Selbe; und
dieses Selbe ist Indifferenz ihrer Differenz. Daß
Ja und Nein im Nichts koinziidieren, gibt
jeder Logiker eifrigst zu: aber daß dieses
,JNichts" also den Entspringungspunkt aller
polaren Möglichkeit von Ja und Nein bedeute,
scheint sofort paradox und verdiente doch, das
Allertrivialste zu werden! Les extremes se tou-
chent; mais les egaux se different. Dif-
ferenz erheischt, prämittiertetwas, das rein ist —
nicht bloß von, sondern zu ihr, f ürsie: Indif-
ferenz. Es ist die größte Unterlassungssünde
der Logik auch der Allerweisesten geworden,
daß sie dieser Unterlassungs-Tugend der Logik
keinen ganz besonderen Platz reserviert haben.
Indifferenz ist conditio sine qua non aller Mög-
lichkeit Von Differenz. Natürlich, man meint —
— so träge ist man gesonnen —, dieses Absolute,
der Gott (oder wie man Unaussprechliches durch
Ausdruck verderben will) habe sich gratis, sein
Sein sei mühelos An-sich-selber-sein. Man ahnt
nichts von Theopädie, von der Disziplin des
Gottseins, des Indifferentseins. Aber das Thema,
die Uebungsaufgabe dieses Identischen ist gerade

seine unendliche Bestimmbarkeit, und nur durch;
den Kunstgriff der Aequilibristik: dadurch, daß
es sich zur lebendigen Kopula differenter
Gleichungshälften, daß es sich zum neutralen
Medium seines Weltgegensatzes, zur Indifferenz
seiner eigenen Polarität macht, herrscht es ab-
solut; als kategorischer Imperativ. Ist diese Be-
hauptung ein Dogma, so. (ist pe weder ein nega-
tives noch ein positives; ihr Beweis besteht
ja gerade in der plötzlichen Aufhebung aller
Möglichkeit von Position und Negation. Und
diese Reinheit wiederum von allem: Ja und Nein
ist der Ursprung aller Jas und Neins. — Speziell
Max Steiner ist geradezu das Schulbeispiel für
die Verheerungen des skeptischen Denkens] durch
den Mangel an Besinnung auf dieses Erz-Apriori.
Es ist den geistreichsten Köpfen, selbst Nietzsche,
nicht gelungen, rein logisch' die, Vernichtung
des Denkens souverän sein zu lassen über das
gesamte differenzierte Denken! Sie haben nicht
kalt begriffen, daßi diese; Aufhebung, diese Selbst-
überwindung des Denkens kein Extrem, sondern
das Zentrum gerade aller Extreme, Exzesse des
Gedankens ist. Sie wurden die Nihilisten des
Absoluten oder des Relativen und beider, weil
sie den Geist der Vernichtung (Tnit dem Geiste
der Verneinung verwechseln:’ sie verlieren ihren.
Geist aus Mangel an echter Bestimmung, daran
sie ihn heften könnten, während; doch seine Frei-
heit erst durch diesen Mangel sich heraus^
stellen müßte. So werde tausend und ein Mal
wiederholt: Bestimmung ist polar, Freiheit In-
differenz. Das Nichts der Bestimmung] mediati-
siert die Bestimmung; und es gibt nichts Imme-
diateres als dieses ätherische Medium. Diese
Wahrheit ist ein-, sogar keinfältig; taubenhaft
und schlangenklug. Das Grundgebrechen der
pessimistischen Philosophie Schopenhauers zum
Beispiel ist diese Verwechslung des Nichts, des;
Nullzeichens (Nirwana!) mit dem Minuszeichen,
der Indifferenz mit dem negativen] Pol: der Ver-
nichtung, Selbstaufhebung des Willens mit' seiner,
Verneinung: Sansara und Nirwana sind
keine Extreme, sondern Nirwana pa-
ralysiert die Extreme Sansaras. Ana-
log diesem sieht Steiner gar nicht die richtigen
Extreme: denn Naturalismus („Atheismus", wie
er es auffaßt) ist nicht 'der Gegenpol zum Theis-
mus. Vielmehr steht es damit, so, daß der Theist,
daß der Christ, der praktisch Vernünftige ä la Kant
sich mit einer differenzierten und also extremen
Natur auseinanderzusetzen hat, wie das Zentrum
mit der Peripherie. Die Gegensätze sind peri-
pherisch, Natur zeigt Opposition mit sich in Be-
ziehung auf ein ihr eignes Zentrum, auf ihre
coincidentia oppositorum, ihre „Inwendgikeit".
„Gott", „Person", „Seele", „Geist", „Idee", sogar
^Menschheit" sind, wenn sie sind, keine
Natur, aufgehobene Natur. Sie sind durch Natur
genau so sehr positiv beweisr wie negativ wider-
legbar. Entzweiung ist Charakter aller Natur:
sie wird in alle Ewigkeit niemals einig ausfallen,
ein eindeutiges Prinzip weder des] Seins noch des]
Handelns abgeben! Rät man: „gemäß der
Natur leben!"; so verbirgt in diesem „gemäß"
etwas Regelndes, Gesetzliches sich, das der
bloßen Natur nicht entnommen werden kann.
Steiner macht aus dem Dionysismus Nietzsches
den puren Naturalismus — aber das ist eine Ver-
kennung: Dionysos ist schöpferisches, aller Natur
himmelhoch überlegenes Prinzip, er sieht auch1
die Sterne noch unter sich; er ist viel zu reich1
und schwellend, um im Darwinismus Raum zu
haben. Er ist vergleichbar dem „Willen" Schopen-
hauers, wenn man diesem die „Hinterwelt", die
Transzendenz abschneidet Am Titel bereits des
Schopenhauerschen Werkes: Welt als Wille und
Vorstellung, verrät sich der alte Irrtum, der schon
den Spinoza bethört hatte, das Identische, das
Weltprinzip, der „Grund der Dinge", ihr „In-
neres" sei das andere Extrem, der totale Gegen-
satz zum „Aeußeren", zur „Vorstellung". Nach-

dem endlich, endlich! so viel errungen worden
ist, daß niemand mehr -A (bei, Gefahr des Banke-
rotts alles Geistes — ep wagen darf, arg- und
kritiklos die Dinge an sich! statt der Phänomene
zu handhaben, unvergessend, wohlbewußt, wir
wandeln in ewigen Geheimnissen; — tun die
Allerweisesten dennoch hier bedenklich plumpe
Griffe, um dem Unnahbaren mindestens sich
anzunähern. Aber alles wäre gewonnen, wenn
man sich in diesem solitären Punkt indifferen-
zierte! Alles andere, die „Welt", die „Vorstel-
lung", der „Wille", das Unendliche ist immer
schon differenziert. Schopenhauer sieht nun] frei-
lich im Lebenswillen mehr das jausgezeichnetste
Phänomen, das „inwendigste" von allen. Als-
dann aber müßte er, wenn! es der differenzierten
Vorstellung einigermaßen überlegen, wenn es
vornehm sein sollte, keineswegs deren] Gegen-
pol daraus machen. „Vorstellung", wie gesagt,
enthält ja bereits die gesamte Differenz, als»
Pol und Gegenpol! Vielmehr müßte dann
„(Wille" die Angel, dasi Gelenk, die Indifferenz,
die mediale Angrenzung von Pol1 gegen Pol be-
deuten. Beiläufig wäre also dann jdie berühmte
Objektivation des Willens dessen Entzweiung ge-
wesen, dessen Polarisierung. Inzwischen tut man
besser daran, mit dem Willensphänomen keinen
Götzendienst zu treiben, sondern gleich Kant
dem „Ding an sich" die Ehre zu geben und!
sehr besonnen einzusehen, daß dieses^ „Nichts"
aller Phänomene in ihnen auf zahllose Arten]
seine Entzweiung erfahre, an ihr s y m b o 1 i s c h
(„als ob!") sich offenbare; wobei; gewisse „aprio-
rische" .Urphänomene paradigmatisch für die
„empirischen" wären. Würde dermaßen auch
die sämtliche skeptische Verzweiflung des! Den-
kens als das antithetische, antinomische; Ausein-
ander des ewig unteilbaren Prinzips alles
Denkens verstanden und erlebt, so würde man
weder falsche Gegensätze bilden, noch die echten
(disharmonisch .finden. Man würde mit gött-
lichem Aplomb mitten in dieser zerfahrene'n,
verworrenen, stürmischen Welt der Gegensätze
das Nichts dergleichen stabilieren, die eigne
Exemtion medial erleben. Es kann dieses nicht
nach der Weise Kants „annähernd" geschehen:
Reinheit von aller Welt ist der unmittel-
barste Akt! Und zugleich ist es der Akt zur
Reinheit für die Welt.
Fortsetzung folgt

Beachtenswerte Bücher
Ausführliche Besprechung vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt
PAUL CORNU
Bernard Naudin / Dessinateur et Graveur
Mit zahlreichen Illustrationen
Moulins (Allier) / Cahiers du Centre / 16 Boule-
vard Chambonnet

Gemälde-Ausstellung
Zeitschrift Der Sturm
Tiergartenstraße 34 a
Futuristen
Geöffnet täglich von 10 bis 6 Uhr
Eine Mark

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HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE

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