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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 115/116
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Dallago, Carl: Karl Kraus / der Mensch
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Hatvani, Paul: Lichtenberg: geboren am ersten Juli 1742
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Marc, Franz: Zur Sache
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0082

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Totschweigen nicht ersticken. Im Gegenteil: das
Totschweigen durchsetzt die Macht des Totschwei-
gers. Und was auch Kraus' bewunderungswerte
Streitbarkeit nicht auszurichten vermochte, richtete
das systematische Totschweigen dieser Streitbar-
keit aus. Es zeigt auf: daß, wenn ein-Künstlerisches
stark genug ist, es auch ohne Hilfe der Presse
durchdringt; es macht Vermittlung im Künstleri-
schen hinfällig. Das hätte der Ring der Wiener
Presse Kraus gegenüber bedenken sollen. Es hätten,
Herr Benedikt und die Neue Freie Presse auch
wissen sollen, daß Zusammenstehen und Gewalt
wohl für ein Geschäft bestimmend sein mögen, aber
nicht für die Wege der Kunst!.
Nach der Innsbrucker Kraus-Vorlesung schrieb
mir ein Bekannter: „Haben Sie so schlechte Augen,
daß Sie das reinste Theologengesicht bei Kraus nicht
entdeckt haben?“ Darauf erwiderte ich ungefähr:
Aber dann eines Theologen der Sexualität. Es
mag Wahres enthalten; ich denke jetzt noch daran
in ruhigem Erwägen. Die Art, wie Kraus vortrug,
macht das innerliche Glühen und Sichverbrauchen
deutlich ersichtlich. Es erinnert an echte Streiter
Gottes. Und die ältesten Streiter und Wissenden
um Gott waren wohl auch Wissende um das Ge-
schlecht. Die älteste und ursprünglichste Priester-
schaft war vielleicht die des Geschlechts. Die
Sphäre der Inbrunst erwächst heute noch aus der
Sphäre der Brunst. Wer wollte hier nur Gewisses
vorbringen können? Uns sind seit Jahrhunderten
die Fühlfäden unterbunden, die hier Anschluß er-,
brächten; uns ward das Geschlechtliche als das Un-
heil hingestellt. Des Unheils ist darum nicht weni-
gem geworden, und sicher stellte sich das Ge-
schlechtiche von selber auch als das Heil hin Frei-
lich, wer mit dem Geschlechtlichen sein Spiel treibt,
dem spielt es übel mit. Kraus ist hier Spielverder-
ber. Seine „Unmoral“ entblößt die Moral: so er-
kennt man erst, wie häßlich die aussieht, und man
versteht, daß sie gekleidet einhergehen muß, um
vorzutäuschen. Es geht eine Wandlung vor: die
Moral wird zur Kupplerin, die Dirne aber zeigt sich
als Dienerin der Geschlechtlichkeit. Indem sich
Kraus zum Anwalt des Dirnentums aufwirft, wächst
er zum Priester des Geschlechtlichen an und wehrt
einem Spieltreiben mit diesem. Denn es treibt sein
Spiel, wer eine Dirne gebraucht und ihren Stand
verunglimpft, und nicht wer das in Schutz nimmt,’
womit er Umgang pflegt und was er für natürlich
hält. Herkommen und Sittlichkeit trachten nach
Schutz für den Philister vor Verführung durch das
Dirnentum höher, und nötiger ist das Bestreben
Kraus’: Die Dirne zu schützen vor der Moral des
Philisters.
Schluß folgt
Lichtenberg
geboren am ersten Juli 1742
Von Paul Hatvani
„Es ist als ob unsere Sprachen verwirrt wären:
wenn wir einen Gedanken haben wollen, so brin-
gen sie uns ein Wort, wenn wir ein Wort fordern,
einen Strich, und wo wir einen Strich erwarten,
steht eine Zote“ — Wir, die wir diesem jahrhun-
dertaltem Satze gegenüberstehen und das Drama-
tische dieses Spracherlebens kaum erfassen können
der Literarhistoriker, die uns erzählen wollen, daß
es nun hundert Jahre sei ... . Daß es nun hundert
Jahre sei, als die Beiden in Weimar und Jena ge-
lebt hätten und daß wir nun ihre Sprache sprechen,

jene glatte, reiche, reine und nicht jene, die so ist,
—, wir müssen Zweifel hegen an den Behauptungen
als ob sie verwirrt wäre . . . Wir müssen Zweifel
hegen an den Behauptungen, unsere Welt wäre auf
Grund der naturwissenschaftlichen Errungenschaf-
ten des neunzehnten Jahrhunderts aufgebaut,, wenn
wir im achtzehnten Sätze finden, die das zwanzigste
zertrümmern.
Das achtzehnte Jahrhundert — das schon des-
halb reicher war als jenes, welches sich am reich-
sten dünkt, weil es eine Weltanschauung isolieren
konnte, die sich in den Aphorismus verkroch — das
achtzehnte Jahrhundert ist in seinen Schriften ge-
bannt und hat uns eine Erbschaft hinterlassen, die
uns den Größenwahnsinn der fröhlichen Erbauer
einer „mechanischen“ Weltanschauung (Ingenieure
und Journalisten) tausendfach ersetzen.
Georg Christoph Lichtenberg hat in den Büs-
chern der Literarhistoriker keinen Platz, er gehört
eben noch nicht in die Literaturgeschichte. Lessing
schloß ein Kompromiß mit der (Konvention, er wur-
de Schriftsteller, d. h. er schrieb Dinge, die sich in
das Schema der Literatur einreihen lassen. Lich-
tenberg aber schwämmt für Garrick und Hogarth
und rief nur ein paar Aphorismen in den Weltraum.
— Das absolut Zeitlose an Lichtenberg, dem all-
täglichen Erleben entsprungen und in die Ewigkeit
geformt, ist eine Problemsart des Genies. Sein
Anklammern an das Positive, an das Materiell-Sei-
ende ist vielleicht ein Mangel des Jahrhunderts.
Und so wurde die Form zum Inhalt und also ent-
stand der Gedanke. Sein Anklammern an das äuße-
re Geschehnis ist aber gewiß kein Mangel seiner
künstlerischen Natur. Divinatorisch, wie jeder
größte Schriftsteller, benutzt er die Ferne des Er-
eignisses von der Form, als technisches Hülfsmittel.
Und so entsteht seine Satire, durch nichts getrennt
von der Lyrik, wesensgleich mit dieser, vom Erle-
ben in die Ewigkeit gesprochen: „Der wahre Witz
weiß ganz von der Sache entfernte Dinge so zu
seinem Vorteil zu nutzen, daß der Leser denken
muß, der Schriftsteller habe sich nicht nach der
Sache, sondern die Sache nach ihm gerichtet.“ Die-
se und ähnliche Gedanken machen die Bände der
Literarhistoriker überflüssig; die Theorien der
Aestheten und anderer Psychologen zerfallen in
sich selbst, wenn es der 'Sprache gelingt, gleich-
zeitig Wort und Ding. Sinn und Widersinn, Erleb-
nis und Erlösung zu sein
Alle Abgründe menschlicher Spekulation sind
überbrückt: Lichtenberg, vor 170 Jahren geboren,
hat die Probleme der nächsten zwei Jahrhunderte
aus der Sprache gelöst. Und zwischen
Platon und Otto Weininger, zwischen den andern
Erlebnissen des Symposion und der erliegenden Of-
fenbarung über Geschlecht und Charakter stehen
die Sätze:
„Es ist sehr reizend, ein ausländisches Frauen
zimmer unsereSprache sprechen, und mit schönen
Lippen Fehler machen zu hören Bei Männern
ist es nicht so“. Das konnte bisher nicht
einfacher gesagt werden, der Satz enthält vielleicht
das Verhältnis Karl Kraus zur Erotik — Und das
absolut Metaphysische der Erotik enthalten, die
Sätze, die wie ein Motto zu Otto Weininger klingen:
„Ein Mädchen, die sich ihrem Freund nach
Leib und Seele entdeckt, entdeckt die Heimlichkei-
ten des ganzen weiblichen Geschlechts; ein jedes
Mädchen ist die Verwalterin der weiblichen Myste-
rien.“
,,Wenn man die Geschlechter nicht an den
Kleidungen erkennen könnte, ja überhaupt die Ver-
schiedenheit des Geschlechts erraten mußte, so
würde eine neue Welt von Liebe entstehen. Dieses

verdiente in einem Roman mit Weisheit und Kennt-
nis der Welt behandelt zu werden“. Ist das nicht
die Problemstellung zu Weiningers Werk?
Die Probleme für die Aktuellität geboren, ge-
hen an der Sprache zugrunde Sie werden zeitlos,
wo er sie berührt und flüchten in die Unendlichkeit:
das Ereignis wird zum lyrischen Erlebnis. Hier ist
eine organische Gleichheit mit Karl Kraus und viel-
leicht berechtigt erst diese Feststellung, von Lich-
tenberg zu sprechen. Auch hier wird das Ereignis
nicht zur Form abstrahiert, sondern die Form tötet
den Inhalt und das Erlebnis wird unsterblich nach
dem Tode. Die Zeit erstarrt und Lichtenberg hält
uns die Leiche hin. Sein Geist hat die Fratze seines
Jahrhunderts angenommen, aber die Sprache
drängt: „Wenn ich über etwas schreibe, so kommt
mir das Beste immer so zu, daß ich nicht sagen
kann woher“.
Ursache und Wirkung sind verwirrt und
man kann sie nicht mehr trennen. Sie umfassen
sich, umarmen sich und zeugen das Spracherlebnis.
Worte fliegen in den Weltraum und suchen ihren
Sinn, sie kreisen um glühende Sonnen und kein li-
terarhistorischer Astronom kann sie verleugnen .
Sie leuchten eben zu stark, — unsterbliche Plane-
ten einer Künstlerschaft — und wer sie doch nicht
sieht, dessen Großhirnrinde kann das starke Licht
nicht vertragen. Man hülft sich heutzutage, man
zerreibt und zerkleinert diese Gedanken und würzt
damit seine feuilletonistische Suppe .... man gießt
Wasser in den Wein und siehe, das Gebräu stinkt.
Der Magen ist stärker als der Geist und das Fleisch
ist ein Leitartikel.
.... Aber da stehen noch einsame Worte und
von jedem Satze führen Wege in die Unendlichkeit.
Und da draußen kann man es endlich erfassen, was
»»Lyrik ist; und man entsagt der Welt, die nur
Umgebung ist und kein Raum, und man entsagt der
Gegenwart, die nur aus Affären besteht und keine
Zeit hat. Und so sprach auch Lichtenberg: „Ein
Schriftsteller, der zu seiner Verewigung eine Bild-
säule nötig hat, ist auch dieser nicht wert“.


Zur Sache
Seine Ideen nach allen Seiten zu verteidigen
hat nicht viel mehr Sinn, als sich überallhin entschuL
digen, daß man geboren ist. Ich schrieb in der vo-
rigen Nummer ein paar sehr einfache Worte, um zu
sagen, was wir vom heutigen Ausstellungswesen
erhoffen. Die Folge ist natürlich Widerspruch.
Ideen verdrängen Raum; sie drängen in die vor-
handenen Ideen hinein, stocken, werden verstellt,
aber wirken heimlich, bis der Tag kommt, an dem
sie herrschen.
Aber auf eine Sache lohnt es sich,, nochmals
den Finger zu legen: Ich schrieb: „Wir Maler schaf-
fen nicht so sehr Bilder als Ideen“ und schrieb die-
sen Satz mit gutem Bewußtsein. Warum nimmt man
Anstoß an dieser Sache? Warum wird man
beschworen, sie nicht zu sagen? Will man leugnen,
daß unsre gegenwärtige Zeit unter diesem Zeichen
der „neuen Ideen“ steht? Wer unsre Zeit kennt
und liebt, sieht hierin ihre Pracht und trunkene
Schönheit. , Nicht die einzelnen Bilder sind dem Ge-
genwartsmenschen Selbstzweck und Hauptsache,
sondern die Ideen, der Ideenkomplex, den die ein-
zelnen Werke bilden.
Es wird eine neue Welt gebaut. Das einzelne
Bild wird einem späteren Beschauer einmal Haupt-
sache, Einzelprodukt sein; dann gehört es, etikettirt,
in das „Museum des zwanzigsten Jahrhunderts“.
Wir aber wollen unsern Zeitgenossen „Ideen“
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