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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 127/128
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [4]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutnant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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Ehrenstein, Albert: Blind
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Döblin, Alfred: Prostitution und Jungfräulichkeit
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Walden, Herwarth: Ueber Malerei insbesondere über tote und lebende Genußtiere
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0153

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Ende November 19..
Das also war der Abschied.
„Seht, Pater, Ihr habt alles an mir zu wichtig
genommen. Aber das eine, was für mich wichtig
war, das habt Ihr nie berührt. Warum seid ihr nie
zu mir gekommen, um mir zu sagen, wie sich das
verhält mit dem Schrei Mieville und das andre,
wovon mir geträumt hat, daß ihr und meine selige
Mutter Geschwister wärt. Das hätte euch nicht
erniedrigt, nein, so wahr ich Frangart heiße. War
es euch zu schwer? ... Ich habe jedenfalls vier
Jahre lang umsonst darauf gewartet, daß ihr kämt.
Ihr seid nicht gekommen, so wichtig ihr auch alles
genommen habt; und obwohl ihr gewußt haben
müßt, daß für mich nur das Eine wichtig sein
konnte: ob ich, Frangart, wirklich . . . Nun ihr
wißt, der Schrei Mieville! . . .“
Ich bin an den Zug gegangen, mit dem er ab-
gereist ist. Vielleicht würde er doch noch einmal
zurückschauen, nach mir schauen! ... — Ich
habe ihn gesehen, wie er seinen Spiegel aus der
Tasche zog und vor der Abfahrt des Zuges noch-
mals die Krawatte richtete. Und er hat sich nicht
nach mir umgesehen.
Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe!
Amen.
Fortsetzung folgt in nächster Nummer

Blind
Tag um Tag
stirbt ich bin,
wo geht meine Zeit denn hin?
Traum versank,
Nacht ist Spiel,
Schlaf das Gut,
Tod das Ziel.
Erde, Stern
klingt nur so,
Ort ist Ort — wer weiß wo?
Albert Ehrenstein

Prostitution und
Jungfräulichkeit
Von Alfred Döblin
Schluß
Ist Seele da? Bene; wenn, dann auch Sexua-
lität zu beseelen. Und Ruhe im Haus. Die Auf-
gabe und Frage wie, comment?
Siehe da, -dreifach merkwürdige Geisterschrift:
Faun, Heiliger, Toggenburg.
Die Geschlechtlichkeit ein Rattenfänger, der nur
leibliche, keine seelischen Kinder hinter sich lockt.
Geschlechtlichkeit ein wundervolles Geschenk
Ringelringelrosenkranz; aber dem Urteil nach Kette
und Qual. Es flötet, aber Watte in den Ohren; es
tapsen Schritte, aber Lähmung. Corriger la culture,
— corriger la nature, nein, kein Grund! Rückkehr
der Organe zum — Organismus, Beendigung der
Kleinstaaterei, Weltpolitik im Menschen. Bisher
nämlich Montenegro und Freibeuterei Idealzustand.
Sexualität Ichdokument.
Liebesreife. Liebe kein Verhalten des Fräulein
Emma zum Herrn Gustav; sondern ein Zustand im
Fräulein Emma, an Fräulein Emma und Herrn
Gustav. Eine Eigenschaft, eine Fähigkeit von Fräu-
lein Emma und Herrn Gustav: die Eingliederung
der Sexualität in das Ich, die sexuelle Ausgliederung
des Ich. Wohlgemerkt: bedeutsame, einzigartige

Bemühung hinaus über die — Prostitution; Tendenz
zu einem Ziel. Aeußere Ziellosigkeit, äußere Pro-
stitution von Ewigkeit unvermeidlich; innere über-
windbar, wenngleich nur von Haus aus. Liebe der
Zusammenschluß von Sexualität und Ich.
Skala von der persönlichen Sexualität zur sexu-
ellen Person. Zunehmende Hypertrophie der
Sexualität im Organismus, doch nicht bis zur Per-
sonals leibhaftiger Sexualgebärde, sondern zur
Sexualgebärde in ganzer Persönlichkeit. Die Liebe
ein Mensch. Bitte keine Lyrik, sondern Psycho-
logie.
Der Troubadour. Es können verschiedene Teile
des Ich sich an der Sexualität beteiligen, lieben, zur
Liebe reifen. Möglichkeit des Ansaugens, oder
auch Durchtränkens verschiedenartiger Ichteile
mit Sexualität: verschiedenes kann gleichzeitig ge-
liebt werden. Man liebt nicht Objekte oder Indi-
viduen, sondern Qualitäten. Meist Ueberschattung
durch eine Qualität, Ichmasse. Der Troubadour
liebend, fechtend, singend. Vielfältig, doch auch
liebend. Von Don Juan unterschieden durch die
Ergriffenheit. Häufiger Jugendtypus.
Gretchen. Wenig was ihr, der Sexualität zu
geben noch übrig bliebe. Strömt schon Liebe;
schon als Liebe. Uebrigens dumm, aber schadet
nichts; faselt von Einigkeit der Liebe zu dem mo-
mentanen Objekt. Anrüchige Sache, peinlich für
Objekt und Subjekt. Angebliche Tragik, faktisch
intelligenzdefekt. Aber schadet nichts. Alle Men-
schen müssen sterben.
Endlich der Toggenburger. In sexueller Hypnose.
Die Sexualität hat sich mit seinem ganzen Ich be-
laden, ihn hohl sitzen lassen. Der Extremfall: mit
dem organischen Sexualdrang des Gesamtich in
subtiler Innervation; auf elektrischen Druck mo-
mentan sammelt sich das ganze Orchester zur
Musik. (Bitte nicht Tannhäuser Venusberg, bin
bekanntlich für kolossales Parsifal-Ausnahmege-
setz: der ganze Wagner nach Bayreuth; jedes
Ueberschreiten der Stadtgrenze bestrafbar mit
Tannhäuserteilen; im Wiederholungsfälle der ganze
Ring inklusive Götterdämmerung, Rheingold, Sieg-
fried, Walküre; Gewohnheitsdelikt mit dem Bären-
häuter und Ansprachen von Hermann Bahr.) Der
Toggenburger verströmt sich nicht rettungslos in
seiner Liebe, ihn brennt sie nicht, sie rast nicht
furienhaft hinter seinem Rücken; er selbst, was
strömt; er selbst der Brand, die Furie. Sexualakt
sonst eine hier, und da erfolgende, gelegentliche
Handlung — hier ein furchtbares mysteriöses Er-
eignis. Ein Leben entlädt sich, braust an sein Ziel.
Der Minuspunkt der Kokotten, der Nullpunkt der
Frigiden, das Unendlichkeitszeichen des Toggen-
burgers. —
Sexualbezeichnungen nicht alles erschöpfend
zwischen 'den Geschlechtern. Bleibt übrig: das
Kind. Und die Herrschaftsverhältnisse zwischen
Mann und Weib als da sind zwei Tiere. Ein
andermal, so Gott will.

Ueber Malerei
insbesondere über tote und
lebende Genußtiere
Die Münchner Neuesten Nachrichten beschäf-
tigen sich nicht nur mit dem Handel und den Alpen.
Die Alpen erstrecken sich zwar bis auf den Roman,
der noch unter dem Strich ausläuft. Aber sie ver-
sperren der Zeitung völlig die Aussicht auf die
Kunst, trotzdem sie der Alpen wegen im Glaspalast
untergebracht ist. Die Kritiker dieser Zeitung
sitzen oder schlafen in dem Glashaus. Sie sehen
die Alpen vor Bergen und die Kunst vor Bildern

nicht. Nun könnte es schwierig scheinen, unter
einigen Tausend Bildern Kunstwerke herauszu-
finden. Es ist aber nicht schwierig. Denn es sind
keine Kunstwerke dort vorhanden. Ein Grund
mehr, sie zu „würdigen“. Die sechste Würdigung
des Herrn Dr. W. B. beschäftigt sich mit dem Idylli-
schen. Wie es sich für ein gutes Lager gehört:
der Doktor ordnet die Stoffe. Sein idyllisches
Lager besteht aus Interieur, Genre, Stilleben und
Tierbild. „Das reine Interieur ohne jede Staffage,
ist spärlich vertreten im Glaspalaste.“ Die Zeiten
haben sich geändert. Die Interieurs von heute
sind keine Interieurs mehr. Die Leute, die in In-
terieurs wohnen, sterben aus. Was soll der Künst-
ler machen, wenn der Handwerker der Bürger sei-
ner Phantasie nicht mehr in die Stube hilft. Nicht
einmal in die gute Stube. Darum klagt der Doktor:
„Ja, wenn der Maler doch zum mindesten ein fürst-
liches Gemach zum Studienobjekt nimmt, wie Franz
Multerer, dann kann er eines gewissen Interesses
sicher sein. Das bedeutet keinen Tadel gegen des
Künstlers päpstliches Zimmer in der hiesigen
Residenz, das sehr gut gemalt ist. Für das auf-
dringlich viele Gold, für den Geschmack von 1665
ist ja der Künstler nicht verantwortlich.“ Nein,
das ist er nicht. Und vieles Gold sieht man immer
gern. Ueber den Geschmack läßt sich streiten, der
Geschmack ist verschieden, und ein Schuft ist der,
der mehr malt, als er sieht. Man kann von Franz
Multerer nicht verlangen, daß er den Geschmack
von 1665 bessert, Ihn trieb der innere Gott, das
päpstliche Zimmer von 1665 zu malen. Man kann
sich denken, was er leidet, daß ihm sein Gott gab
zu sagen, wie schlimm es um das Interieur von 1665
bestellt war. Mit dem „reinen“ Interieur ist es also
vorbei. Der heutige Maler muß schon eine han-
delnde Person auftreten lassen: „Hell und freund-
lich ist Wilhelm Krelings Studie aus Schleißheim,
während sein Rokokokircheninterieur mit dem
sich beweihräuchern lassenden
Geistlichen nicht mehr zu den reinen Inte-
rieurs gezählt werden darf“. Der sich beweih-
räuchern lassende Geistliche ist hoffentlich auch
hell und freundlich, „dagegen malt Paul Felgentreff
seine Tirolerbauernstube allzudunkel“. Das stört
die sonnige Natur des Doktors, der ein anderes
Interieur von „wirklich lachender Morgensonne er-
füllt“ findet und sich über eine alte Schloßhalle
freut, „die nur etwas zu temperamentlos geraten
ist“. Ich finde den Vorwurf ungerecht, vielleicht
war die Temperamentlosigkeit der Geschmack der
Zeit, in der die Schloßhalle gebaut wurde. „Wird
das Innenbild mit Personen belebt, es kann auch
eine Landschaft sein, so entsteht daraus das früher
so beliebte Genrebild. Heutzutage weiß man nicht
mehr recht, was damit anfangen. Soll man eine
Beschreibung des Inhaltes geben, im
Stile der Familienblätter; erzählen von der wunder-
schönen Grafentochter, die aus dem hellerleuchte-
ten Schloßtanzsaale sich hinausstiehlt in den stillen
Park und dort ihr Leid ausweint, weil eine noch
wunderschönere auf dem Feste erschienen ist?
,Es ist eine alte Geschichte . . .‘ Lieber nicht!
Die rein malerischen Qualitäten betonen? Ich
fürchte, der Ton wird dünn und schwach erklingen.
Bleibt nur hervorzuheben, das fast alle diese Bilder
nach rein zeichnerischen Vorzügen zu bewerten
sind“.
Es kann einem leid tun um diese Gattung, der
die Töne ausgegangen sind. Früher, früher hatte
diese Gattung wenigstens Altmeister; Franz
von Defregger, auch Schmidt war Altmeister. Ja,
diese „Söhne Tirols“ fühlten 'die Alpen noch in
ihrem Busen. Der Doktor erzählt in seiner Kunst-
kritik, daß sie „die Beschäftigung, Freud’ (mit Apo-
stroph, mein lyrisches Gemüt) und Arbeit des tiro-
ler Stammes darstellten“. Noch mehr: die Alt-
meister hatten das Glück, in einer Zeit geboren zu
werden, wo die Alpen sozusagen in eine neue Pe-

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