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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 113/114
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Seidel, Ernst Curt: La Voce
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Schöne Künste
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Lebensfreude
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Walden, Herwarth: Die Bilder
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Beachtenswerte Bücher / Notiz
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0076

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rethorischen und klassischen Unfug ein Ende
machen. Dieselben Männer gründeten vor ungefähr
drei Jahren ein neues Organ in der Absicht, die un-
zähligen Probleme zu behandeln, die das öffentliche,
sozial-politische und wissenschaftliche Leben Italiens
interessieren. Guiseppe prezzolini rief in Florenz
die heute ausgedehnte Bewegung der „Voce“ her-
vor
Vorurteilsfrei., weltbewandert, geistreich, leb-
haft, aufrichtig und heftig, aufrichtig vor allen
Dingen, begann er mit seinen Freunden die
schwierige Arbeit,, Volk und Kultur Italiens in jeder
Beziehung unter jeder ehrlichen aufrichtigen Be-
dingung aufzufrischen und aufzuwecken. Prezzolini
hat von Croce die Ordnung, den strengen Ernst,
die schematische Disziplin, und von Charles Peguy
den unruhigen Geist des Agitators. Als Förderer
des selbstständigen Regionalismus ist Prezzolini
.schon heute für das junge Italien der Agitator.
Dieser Mann hat in kaum dreijähriger Tätigkeit
Tausende von Freunden erworben.
Probleme des Sexualismus, (in Italien fast un-
beachtet) Probleme des südlichen Italiens, Pro-
bleme des Irredentismus, das Problem der Ein-
nahme Tripolitaniens, alle diese Streitfragen erör-
terte er mit Gewissenhaftigkeit und Sicherheit, was
selbst seine Gegner, Schrif tstl'ler der alten Battega,
zugeben mußten. „La Voce“ wurde durch Zeich-
nung von Aktien zu fünfundzwanzig Lire zum
Verlag der Volkskultur, durch den man die besten
italienischen, französischen, deutschen und engli-
schen Bücher beschaffen kann.
Mit Prezzolini arbeiten: Sapini, energischer
Verbreiter der ausländischen Philosophie, Erläute-
re!* der altitalienischen Literatur, Slataper, der die
Judith und die Tagebücher Hebbels vorzüglich
übertrug und vielleicht durch eine Gemütsgemein-
schaft Hebbel sich nachfühlt. Ardengo Soffici, ein
guter Kenner der französischen Impressionisten hat
in Italien einen großen vergessenen italienischen
Künstler wiedergerächt, der heute noch in Paris
lebt und schafft: Medardo Rosso, den Vater des
Impressionismus in der Skulptur
Curt Seidel-Turin

Uber di« Bewegung Futurismus durch F. T. Marinetti
in Mailand sind die Leser dieser Zeitschrift unterrichtet

Schöne Künste
Lyrik


Herr Oscar Blumenthal tritt für die Lyrik ein.
Natürlich im Berliner Tageblatt. „Wer seine über-
legene Geringschätzung der lyrischen Kunst spöt-
tisch zum Ausdruck bringen will, pflegt einen Witz
über die Unverbesserlichen zu machen, die noch
immer Herz und Schmerz, Sonne und Wonne, oder
Lust und Brust reimen. Seit ungezählten Tagen
werden diese Reime stekbrieflich verfolgt. Sie gel-
ten als die Kennzeichen aller unberufenen Dichter-
linge.“ Infolgedessen muß Herr Oscar Blumenthal
natürlich für diese steckbrieflich verfolgten Kenn-
zeichen plaidieren. Ein Dichterling tritt als Anwalt
ohne Vollmacht für die übrigen Dichterlinge auf. Ei-
be ruft sich auf Sachverständige. Diesmal auf Georg
Herwegh, dem jedes lyrische Vermögen fehlt. Also
Herr Oscar Blumenthal hat die Gedichte Herweghs
„wieder einmal zur Hand genommen“, Er hat sich
wieder einmal „an dem noch nicht erkalteten Glut-
herd die Seele warm gelesen“. Bei Herwegh gibt
es sogar „Worte, die wie Fahnen rauschen“. Be-
sonders ein Gedicht ist für Herwegh und Blumen-
thal charakteristisch. „Es macht den Eindruck, als
hätte der Poet mit trotziger Absicht einen Katalog
aller verbrauchten und deshalb verbotenen Reime
aufzeichnen wollen, um den Beweis zu liefern, daß

echte Kunst jeden Rohstoff zu adeln weiß.“
Herwegh lieferte „effekfiv“ zwar nur den Beweis,
daß Rohstoffe durch den Gebrauch nicht echter
werden, selbst wenn Herr Blumenthal sie einige
Jahrzehnte später aufbügelt.
Durchtobt in wildem Flüsse
Das heiße Blut dein Herz,
Dann ist das Gold zum Gusse,
Zum Liede reif der Schmerz.
Die letzte Strophe:
Laß steigen Schmerz und Wonne,
Laß steigen Leid und Lust,
Wie aus dem Meer die Sonne,
Empor aus deiner Brust.
Das findet Herr Blumenthal „voll Stimmung und
Klangreiz“. Denn, sagt er, hier reimen sich nicht
die Worte, sondern Begriffe. Herr Blumenthal weiß
eben nicht, daß in der Lyrik die Begriffe fehlen müs-
sen, weil das Wort richtig eingestellt werden muß.
Er war nie begriffsstutzig, der Herr Blumenthal.
Lebensfreude
Das Metropoltheater ist aber wirklich die ein-
zige Berliner Bühne, die naturalistische Stücke
spielt. Mit seiner letzten Revue hat es die Natur-
nähe endgültig erreicht. Die Kollegen behaupten
immer, daß Ibsen und Gerhart Hauptmann der Ge-
sellschaft ihr Spiegelbild vorhalten. Zwar liegt es
durchaus nicht im Wesen des Künstlers, sich in
dieser Friseurprose zu gefallen. Ein Spiegel kann
eben nur spiegeln. Und nie kann ein Künstler diese
Gesellschaft zeigen, die sich die Gesellschaft nennt.
Der Gesellschaft ist das Leben zu nüchtern, beson-
ders in Deutschland, Sie muß sich nach Griechen-
land zurückziehen, um sich sauwohl zu fühlen. Die
Herren Schultz, Freund und Baruch unternehmen
seit Jahren diese Tour mit den poesietrunkenen
Zeitgenossen. Die Dividenden steigen und die
Kleider fallen. Aber darunter ist wieder Baruch.
Die Naturwahrheit ist übertrieben. Können die
Herren sich nicht wenigstens ein Mitglied des Ver-
eins Berliner Künstler verschaffei Oder einen An-
streicher mit Farbensinn. Alles eher als diese Job-
berkunst. Sonst wäre die Sache erträglich. Die
besten Schiebungen werden verraten (unter freund-
lichem Beifall des Publikums), die Erotik wird durch
ein Freudenmädchen versinnlicht, die immer kleiner
Schäker sagt; die Liebe, durch einen Backfisch, der
einen Leutnant liebt, und, o Welt, schon weiß, was
Liebe ist (ich erfahre, daß man es jetzt im K-d.W.
erfährt). Auch den immer älter werdenden Schun-
kelmädchen wird der letzte Rest von Phantasie
geraubt, sie schunkeln nicht mehr mit den Baruch-
bekleideten Armen und Beinen, sondern auf echten
Schaukeln. Bei uns ist alles echt. Aber ein heim-
licher Poet muß doch unter den sechs Autoren stek-
ken. Der Leutnant sieht mir sehr verdächtig aus.
Und die Schaukeln sind mit farbigen Glühbirnen
beleuchtet. Soetwas stört die Echtheit ebenso, wie
die zusammenwachsenden Bäume. Dafür ist das
Spiel desto echter. Wie in der Gesellschaft. Sowie
jemand nicht mehr zu sprechen hat, hält er sich für
erledigt, der Geist des Herrn Freund verläßt ihn
und er wird zu einer Dekoration von Baruch. Die
holden Damen, die eben noch mit dem bewährten
verführerischen Lächeln tanzend vorschunkelten,
drehen sich um, die Grazie des Herrn Schultz ver-
läßt sie und Trikotständer von Baruch stehen her-
um. Und wenn man schließlich wahrnimmt, daß die
Gesellschaft den lyrischen Vergleich in durchaus
bildhafter Ausführung zwischen einer Geliebten und
einer Wurst, ihre Haut ist ihre Pelle, und immer
noch weiter und immer noch widerlicher, gut ver-
trägt, braucht man an der Gesundheit der Nation
und an der Kraft des Volkes nicht zu verzweifeln.

Dem Volk werden auch die paar berüchtigten per-
versen Bilder nichts schaden.

Die Bilder
Der Kunstberichterstatter Herr Fritz Stahl ist
nach Köln zur Ausstellung des Sonderbunds gereist.
Seine Besprechung wird bereits angedrohE Ein
anderer Korrespondent vom Berliner Tageblatt hält
es trotzdem für nötig, seine kritischen Bemerkun-
gen zum Unterschied von denen des Herrn Stahl
als Eindrücke eines Banausen zu benennen. Er
kann bei Picasso nichts erkennen, und bei Kan-
dinsky auch nichts. Das er das nicht kann, muß
einem kunstliebendem Publikum natürlich mitge-
teilt werden. Aber er freut sich: „Nächsten Sonn-
tag nachmittag gehe ich wieder in die Ausstellung.
Da kommt das weniger kunstverständige Publikum
hin. Auch unsere Schlächtersfrau will hingehen.
Auf die Gesichter freue ich mich“. Auch das muß
ein kunstliebendes Publikum erfahren. Aber die
Schlächtersfrau hat es doch besser. Sie kennt be-
reits durch den Banausen, der sich Kunstkritiker
nennt, die Namen von Picasso und Kandinsky, die
der Kunstkritiker vorher nicht kannte. Und weniger
als dieser Kollege kann sie von der Kunst schließlich
auch nicht verstehen.
H. W.
Beachtenswerte Bücher
Ausführliche Besprechung Vorbehalten
Rücksendung findet in keinem Falle statt
THADDÄUS RITTNER
Ich kenne Sie / Novellen
Wien und Leipzig / Deutsch-Oesterreichischer
Verlag
ALDO PALAZZESCHI
II Codice di Perelä
Romanzo Futurista
Mailand / Edizioni Futuriste di „Poesia“-
ALBERT EHRENSTEIN
Der Selbstmord eines Katers / Novellen
München / Verlag Georg Müller
F T. MARINETTI
Distruzione / Poema
Mailand / Edizioni Futuriste di „Poesia“
La Momie sanglante
Poeme dramatique
Editions du „Verde, e Azzuro“ / Milan
D’Annunzio intime
4e editipn
Editions du „Verde e Azzuro“ / Milan
Le Roi Bombance
Tragödie satirique, 3e edition
Edition du „Mercure de France“ / Paris
La Ville Charnelle
4e edition

E. Sansot et Cie. / editeurs / Pariss

Notiz


Die Holzschnitte auf der fünften Seite jeder
Nummer sind von Mitgliedern der Neuen Sezession.

Verantwortlich für die Schriftleitung
HERWARTH WALDEN / BERLIN-HALENSEE


Ständige Ausstellungen
der Zeitschrift Der Sturm
Königin-Augusta-Strasse 51
gegenüber der von-der-Heydt-Strasse
Graphik:
Picasso / Herbin / Gauguin / Kokoschka Hablik
und andere
Geöffnet täglich von 10 bis 6 Uhr
Eine Alark

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