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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 129
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [5]: aus den Bekenntnissen der Herrn Lieutnant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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Mürr, Günther: [Gedicht]
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Ehrenstein, Albert: Die alte Geschichte
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Tichauer, Grete: Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0162

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die Achseln. „Dürfen schon reden, seien S’ ganz
unbesorgt! Er hört schlecht, der Herr Professor,“
flüsterte Schlagintweit, der das frostige Benehmeri
Frangarts entweder nicht bemerkte oder nicht be-
merken wollte. Aber in diesem Augenblick sah
der Professor doch warnend zu ihm her. Er er-
widerte seinen Blick treuherzig. Dann aber bückte
er sich wieder un-d murmelte zwischen den Zähnen:
„Herr Professor, trauen S’ Ihnen nicht, trauen S’
Ihnen nicht . . . Sonst blamiere ich Sie wieder
einmal, wenn mir griechische Konjunkturen
machen!“ Die in der Nähe Sitzenden grinsten,
auch Baron Frangart mußte lächeln; der Lehrer
rief gerade einen andern Schüler auf. „Wissen S’
was, Herr Baron,“ setzte Schlagintweit die ein-
seitige Unterhaltung fort, „alles können S’ von mir
abschreiben, nur in der Mathematik kann ich selber
rein gar nichts. »Schlagintweit, wieder Note vier,
ungenügend, können nichts, werden nie etwas ler-
nen in der Mathematik!‘ “ ahmte er 'den Mathe-
matiklehrer nach. Der Vordermann wandte un-
vorsichtig den Kopf, um Schlagintweit seinen Bei-
fall für die gelungene Imitation auszudrücken. In
den hinteren Bänken entstand langsam eine allge-
meine Unruhe. Schlagintweit rief dem Vorder-
mann flüsternd zu: „Liebe dicke Mittelmäßigkeit,
schau gefälligst nicht so, ich red nicht mit dir . . .
So, schön ruhig sitzen mit deinem breiten Rücken!“
(Fast alle Spitznamen in der Klasse, auch die zu-
rechtgewiesene „liebe dicke Mittelmäßigkeit“,
waren von Schlagintweit erfunden und verbreitet
worden.) Baron Frangart sah seinen lebhaften
Nachbarn mit ruhiger Aufmerksamkeit von der
Seite an. Dieser fühlte es, blickte ihm offen ins
Gesicht und errötete in leichter Verlegenheit. Einige
Minuten schwieg er. Aber dann hatte er es wieder
vergessen oder er wollte doch noch einen Versuch
machen, Baron Frangart aus seiner Ruhe zu brin-
gen. „Oh mei’, Drapologie des Sokrates!“ begann
er halblaut. Baron Frangart lächelte. „Können
Sie auch stenographieren?“ schrieb Schlagintweit
jetzt an den Rand des Buches, da ihm der Lehrer
eben den zweiten warnenden Blick zugeworfen
hatte. „Nein,“ nickte sein Nachbar; vorn ging die
Uebersetzung weiter. „Ja Herrschaft, ja Sie armer
Mensch, das müssen S’ lernen! . . .“ knurrte
Schlagintweit zwischen den Zähnen und machte
ein aufrichtig betrübtes Gesicht. Da geschah etwas
Alerkwürdiges: Baron Frangart, der die vertrau-
lichen Worte seines Nachbarn mit einer Mischung
von Indignation, Kopfschütteln und Belustigung
schweigend angehört hatte, sah diesen wieder von
der Seite an und bemerkte die komische Betrübt-
heit seines Ausdruckes. Da verlor er seine Fas-
sung und fing ohne Ueberlegung zu lachen an.
Schlagintweit und die Mitschüler erschraken zu-
erst. Aber Frangarts Lachen (er hatte es nie
geübt und also, wie es ihm angeboren war, er-
halten) klang so vollkommen heiter in 'den still
gewordenen Schulraum hinein, daß alle angesteckt
wurden, auch der erschrockene Schlagintweit und
schließlich auch der entrüstete Lehrer, und in
schallendes Gelächter ausbrachen.
Frangart hörte zuerst auf; das allgemeine Echo
gab ihm seine Fassung wieder, und Schamröte,
gleich als ob Lachen für ihn Unrecht wäre, überzog
sein Gesicht; überdies fiel ihm jetzt ein, daß er
Schlagintweit mit diesem Lachen verraten hatte.
„Entschuldigen Sie gütigst!“ sagte er zu ihm.
„Ach, Unsinn, was entschuldigen, das tut mir
nichts.“
Der Vorfall endigte damit, daß Schlagintweit
eine Strafaufgabe zudiktiert wurde, nämlich einige
Seiten aus der Apologie des Sokrates schriftlich
zu übersetzen.
Dies also war der Anfang der großen Freund-
schaft, die Ludwig Schlagintweit für Baron Fran-

gart in der Folge empfand, und auch der Anfang der
ruhigen, aber immerhin unleugbaren Sympathie,
die dieser wenigstens zuweilen für Schlagintweit
bezeigte.
Fortsetzung folgt

Die alte Geschichte
Von Albert Ehrenstein
Es war einmal ein junger Dichter namens
Eduard, der lebte in einem Palaste . . . Und in ihm
war nichts als Sehnsucht . . . Seine Diener aber
brachten ihm Schinkensemmeln mit Kaffee . . .
Sehr traurig war der junge Dichter und seine
Sehnsucht ging von einem1 Zimmer in das an-
dere . . . Herrliche Bilder konnte er sich hand-
greiflich vorgaukeln und das junge Mädchen, das
er liebte und hasste . . . Kunigunde!
Doch wenn sein junger Leib, der sich sehnte,
einen Schritt vorwärts tat, um die geschaute Ge-
stalt zu umarmen, da schwand alles und seine
Lippen, die nach einem Kusse glühten und lechzten,
sie sanken kümmerlich zusammen und sein Kopf
fiel ihm schulterwärts . . ? und er war wieder
allein mit seinen Zimmern, Dienern und Schinken-
semmeln ... Da haderte der junge Dichter mit
Gott und seinem Palaste und weinte über sie die
Tage und Nächte, dass sie ihm nicht geben wollten,
wonach er sich so sehnte . . . und hätte er am
liebsten die Wände geküßt und die Bäume seines
Gartens umarmt, so sehr sehnte er sich . . . Und
er vergoss sieben Tränenströme . . . Und er
wollte nichts essen und zerfleischte sich das Ge-
sicht und die lieben Hände und raufte sein Haar
und zerriss seine Gedichte und lag wie ein Toter da
auf seinen Teppichen . . .
Sandte der liebe Gott zu ihm in den Traum eine
ausgezeichnete Fee und die sprach: Was gibst du
deinem Körper Wunden und üble Farben? Sieh,
sei wieder brav und ruhig und Gott wird deine
Haare streicheln und dein Haupt soll liegen in dem
Schosse deines jungen Mädchens ... Da sprach
der junge Dichter: Ich will ja gern wieder an den
lieben Gott und meinen Palast glauben, aber warum
ward ich so schwer geschlagen? Es ist ja wahr,
ich habe vor sieben Jahren, zehn Monaten und drei
Tagen beinahe eine Ameise zertreten! . . .
Küsste die ausgezeichnete Fee dem jungen
Dichter langen Schlaf an und tat von seinem Leibe
die Wunden und üblen Farben, nahm von seinen
Händen die Betrübtheit . . . und als er erwachte,
da taten sich alle seine Gezimmer auf und strahlten
und sein Haupt lag gebettet in den Schoß des jun-
gen Mädchens und sie streichelte seine Haare und
küsste ihm seine Augen und lieben Hände und
pickte seine Gedichte zusammen . . .
Glaubt ihr das? Ich glaube es nämlich auch
nicht! Sondern, als von dem jungen Dichter der
Schlaf trat, da stand zu seinen Häupten ein Freund
und wies ihm eine Kritik, in der Eduard nieder-
trächtigerweise gelobt wurde, ein Briefträger
feierte seinen Einzug mit einer Drucksache, laut
der sich Kunigunde mit Archangelus Lardschneider.
jenem niederträchtigen Kritiker, verheiratet hatte
und eine jähe Drahtung zwang ihn, die Premiere
seines letzten Stückes abzusitzen, des Schiffahrts-
aktiendramas „Eduard und Kunigunde“, das ihm
vom Lesen her übel bekannt war .. Und zu Füßen
seines Bettes stand ein Diener, in der Hand haltend
eine Tasse Kaffee mit Senf. . .

Ich bin nicht eins.
Fremdes stürzt in mich,
wirkt und färbt und klingt,
beißt und streichelt, stößt und umschlingt,
will allein herrschen und vernichtet sich.
In Mädchenaugen glüht zehrend lüsternes Leuchten,
wenn Männermünder vor Gier zucken.
Tiefes Atmen spannt die Brüste.
Ekel vor dem Tiergieren,
und doch ein Zucken um den eignen Mund.
Gelbe Fenster in schwarzgrauer Nacht.
Kein Stern mag durch die dicken Wolken gucken
Das Meer mit seinem ruhigen Atemfeuchten
fühlt den niedergleitenden Mond stieren.
Tage mit verwehtem Rauch über den Dächerreihn.
Schauen, Versinken im Schauen ohne Grund.
Frauenleiber, die sich verhüllend zeigen.
Wildes, vernichtungssicheres Begehren wird
entfacht.
Ich will die glatten Glieder an mich pressen,
sie genießen und mit Ekel bespeien.
Ein Strudelstrom von Menschen über Nacht -und
Tag,
stöhnend unter der Last von Glück und Pein.
Purpurnes Ueber-sich-selbst-vergessen.
Immer vom Tod überreckt,
vom Tod,
und wälzt sich im Arm der Lüste.
Rohheit und Sein und Verwandeln.
Warten, ertragen, schweigen.
Manchmal fällt alles in eine Leere.
Tatunfähige Traurigkeit,
Nichts-als-Müdesein. ; j
Gleichgültiges Kopfneigen,
und alle Dinge fließen vorbei.
Nur du, mein Streicheln —
Im wechselnden Einerlei
du allein. 1
Günther Murr
Gedichte
Von Grete Tichauer
Sascha O
Ich bete mit den blanken Knien am Boden
Tod für Sascha.
Sascha soll sterben.
Ich reibe meine Knie zu beten wund «.
Er soll nicht leben bleiben.
(Süßer Sascha.)
Er hat mit seinen langen Wüstenaugen
vorbeizusehn gewagt und kommt nicht an-
gebettelt
Sterben soll er.
Ich wappne jeden Nerv mit hartem Willen.
Sascha soll sterben.
Und wenn er liegt und nach mir kreischt,
will ich nicht kommen.
Wenn seine Augen flackern und die Hand,
die mir gehörte, zuckend Leinen reißt:
will ich vor seiner Türe aufrecht stehn
in nackter Weißheit mit frisiertem Haar
und in mich lachen,
daß er sterben muß.
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