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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 119/120
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Deutsche Dichter und Deutsche Richter: 1/Hamburg
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0105

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Deutsche Dichter und Deutsche
Richter
li/Hamburg
Die deutschen Zeitungen machen sich bekannt-
lich ein besonderes Vergnügen daraus, ihnen un-
verständlich erscheinende Gedichte nachzudrucken
und sie mit verständlichen Bemerkungen zu be-
gleiten. Ich habe mich bemüht, diese lästige Ge-
sellschaft zu entfernen. Nach eine^m Jahr ist es mir
gelungen. Gerade die bedeutendste lyrische Bega-
bung Deutschlands, Else Laskeri-Schüler, wurde
mit dem fehlenden Geist deutscher Redakteure,
überschüttet. Sie konnte unter einem Fehlen nicht
leiden. Ich wolle aber das Fehlen nicht leiden, ohne
zu klagen. Das Leidenlassen beleidigte mich. Und
auf meine Veranlassung strengte die Dichterin, zu-
nächst eine Privatklage gegen eine Hamburger
Zeitung an, die sich besonders tief unsinnig benom-
. men hatte. Die Privatklage wurde abgewiesen.
Der Richter sprach ausnahmsweise einmal einem
Redakteur die Wahrung berechtigter Interessen zu.
Er fand, daß der Vorwurf der Gehirnerweichung
nicht über das berechtigte Ziel kritischer Betrach-
tung hinausschieße. Das Hamburger Blatt hatte
das sehr schöne Gedicht „Leise sagen” nachge-
druckt und dazu die Bemerkung gemacht, die kri-
tische Bemerkung: Vollständige Gehirnerweichung
— hören wir den Leser leise sagen. Das Hambur-
ger Landgericht als zweite Instanz fand, daß die-
ser Satz eine selbstständige geistige Leistung und
als solche eine berechtigte Kritik darstelle. Das
Hamburger Landgericht scheint also zu wissen,
was von der geistigen Leistung eines Hamburger Re-
dakteurs zu erwarten ist. Auch ein Redakteur soll
nicht mehr geben als er kann. ' Er hat also ein ju-
ristisches Recht darauf, für diese bürgerliche Kor-
rektheit nicht bestraft zu werden. Die Kenntnis
des Wortes Gehirnerweichung kann immerhin als
Wissenschaft bezeichnet werden. Diese Wissen-
schaft mit der Ueberschrift eines Gedichtes in einen
vollständigen; Satz zu formen, scheint zwar
nicht kritisch, aber doch künstlerisch und selbst-
j ständig zu sein. Nachdem mir nun das Hamburger
Landgericht erklärt hatte, daß die Behauptung von
Gehirnerweichung keine Beleidigung, sondern ein
Leiden ist, das jeder Redakteur und jeder Richter
in Wahrnehmung berechtigter Interessen erkennen
kann, interessierte mich die Angelegenheit nicht
mehr medizinisch, wohl aber juristisch. Zweifellos
lag doch durch den nichtberechtigten Nachdruck
eines Gedichtes eine Verletzung des Paragraphen
19 des Urheberrechts vor. Es wurde also beim
Zivilgericht in Hamburg auf Schadenersatz von
zwanzig Mark wegen unbefugten. Nachdrucks ge-
klagt. Ich war überzeugt, daß in Zukunft deutsche
. Redakteure sich nur mit der Medizin befassen wür-
' den, wenn ihr Verlag für deren Verbindung mit der
Kunst Honorar zahlen müßte. Das Hamburger
Amtsgericht wies die Klage zurück, weil es den
Paragraphen 19 des Urheberrechts nicht genügend
■ kannte. Die Zivilkammer IX des Hamburger Land-
gerichts gab zwar die Verletzung des Paragraphen
* 19 des Urheberrechts zu, wies aber die Klage auf
Schadenersatz trotzdem ab. Zulässig ist nämlich
nach Paragraph 19/1 die Aufnahme von einzel-
nen Stellen oder kleineren Teilen eines
Schriftwerks in eine selbständige literarische
Arbeit. Zulässig ist ferner, die Aufnahme einzelner
Aufsätze oder Gedichte in eine selbständige wis-
senschaftliche Arbeit. Diese Bestimmung
war nach Ansicht des Amtsgerichts und des
Rechtsanwalts der Hamburger Zeitung in die-
sem Fall anwendbar, da der Satz: Gehirn-
erweichung hören wir den Leser sagen, eine
„selbstständige kritische Glosse vorstellt”. Das
Landgericht Hamburg war aber anderer Ansicht.
102

Es fand diese Ausführung irrig,’weil die Verwechs*
lung einer selbständig wissenschaftlichen und
einer selbständigen literarischen Arbeit vorlag.
Der Zivilkammer imponierte also die Kenntnis des
Wortes Gehirnerweichung noch nicht als Wissen-
schaft. Der Satz ist mir literarisch, aber der Ge-
setzgeber hat nun einmal das vollständige Nach-
drucken von Gedichten bei literarischen Arbeiten
verboten. Ein unberechtigter Nachdruck lag also
vor und an sich wäre die beklagte Zeitung der Klä-
gerin zum Schadenersatz verpflichtet gewesen. Das
Gericht führt nun in seinem Urteil alle möglichen
xArten der Berechnung des Schadenersatzes vor:
Klägerin könnte die Tatsache des Abdrucks als
solche gelten lassen und als rechtswidrig nur
das Moment anfechten, daß der Abdruck ohne
ihre Genemigung erfolgt ist. In diesem F'aM
darf die Klägerin Ersatz des Schadens fordern,
welcher ihr daraus erwachsen ist, daß der
Abdruck ohne ihre Genehmigung statt-
gefunden hat. Sie darf mit anderen Worten
dasjenige fordern, was sie gehabt haben würde,
wenn der Abdruck mit ihrer Genehmi-
gung erfolgt wäre.
Dieses ist denn auch der Standpunkt, den die
Klägerin in vorliegendem Prozeß in erster Linie
vertritt. Sie führt in der Klage aus, daß sie be-
rechtigt gewesen wäre, für den gestatte-
t e n Abdruck ihres Gedichts ein Honorar von
mindestens zwanzig Mark zu verlangen, und
daß sie für diesen entgangenen Gewinn
die Beklagte verantwortlich mache.
Die zu entscheidende Frage ist hiernach folgen-
dermaßen zu präzisieren:
Würde die Beklagte, der Klägerin, wenn diese
den Abdruck des Gedichtes in der Zeitung ge-
stattet hätte, ein Honorar gezahlt haben,, oder
würde sie wenigstens zur Zahlung eines Hono-
rars verpflichtet' gewesen sein.
Die beklagte Zeitung bestritt natürlich die Ver-
pflichtung. Worauf sich das Gericht für verpflich-
tet hielt, nicht die rechtliche Lagb, sondern deri li-
terarischen Wert des Gedichtes „Leise sagen45 zu
prüfen. Das Gericht glaubt nämlich, für Literatur
ohne weiteres sachverständig zu sein. Literatur
ist Gemeingut des Volkes. Das versteht man eben.
Zur Konfektion, zur chemischen Wäschereinigung
und zur Jura braucht man Sachkenntnisse; Die
Literatur hat man aber im Gefühl. Man hat seine
Bildung, man hat Goethe, Schiller und Wildenbruch'
gelesen, auch den Kampf um Rom, man hat die Hei-
mat von Sudermann, Alt Heidelberg und die Lusti-
ge Witwe gesehen, man hat seine Dauerkarte zur
Kunstausstellung und seine Aktie zum Zoo. Da
wird man doch wohl ein kleines Gedicht beurtei-
len können. Also:
„Der erste und unmittelbare Eindruck, den der
Leser aus der Lektüre dieses Gedichts gewinnt,
ist — wenn man zunächst einmal die Frage
der unfreiwilligen Komik außer betracht läßt —
das Gefühl der absolutenVerständnis"
1 o s i g k'e i t. Geht man von der gemeinhin
verbreiteten Auffassung aus, daß die Sprache
dazu dient, Gedanken zutage zu fördern und
Vorstellungen zu erwecken, so fragt man sich
, vergebens nach der Existenzberechtigung eines
Geistesprodukts, das, wie das vorliegende, im
wesentlichen nur Worte enthält, Worte, denen
wenigstens prima facie irgendwelcher vernünf-
tige Sinn nicht innewohnt. Nun wird sich aller-
dings der Leser sagen, daß die Verfasserin
ihrerseits mit den von ihr gewählten Worten
doch wohl einen Sinn verbunden haben muß,
und er wird sich bemühen, diesen Sinn heraus-
zufinden. Tatsächlich wird es. ihm vielleicht
auch gelingen, bei einigen der in dem Gedicht
vorkommenden Wendungen mittels angestreng-
ten Nachdenkens und auf dem Wege der Kom-
bination;- und Vermutungen zu Resultaten zu

gelangen, die möglicherweise — aber auch nur
möglicherweise -— dem annähernd entspreche®,
was die Verfasserin mit ihren Versen wirklich
hat zum Ausdruck bringen wollen. Wenn es
aber beispielsweise in dem Gedicht heißt:
„Du nahmst Dir alle Sterne
Ueber meinem Herzen“,
und weiter: ''
„Ich kann den Abend nicht mehr
Ueber die Hecken tragen“',
sowie endlich:
„Mein Herz geht langsam unter,
Ich weiß nicht wo“.
so steht der normal empfindende Leser diesen
Gefühlsausbrüchen ebenso ratlos gegenüber
wie der Frage, welche Beziehung wohl der Ti-
tel „Leise sagen“ zu dem Inhalt des Gedichts
haben mag“.
Der erste und unmittelbare Eindruck des Land-
gerichts ist also das Gefühl der absoluten Verständ-
nislosigkeit. Das habe ich auch. Bisher hat nämlich
die Lyrik dazu gedient, Gedanken zutage zu fördern
und Vorstellungen zu erwecken. Diesem Gediehe
wohnt also wenigstens prima facie kein vernünf-
tiger Sinne inne, sägt das Landgericht. Es ist al-
lerdings überzeugt, daß die Verfasserin ihrer-
seits mit den von ihr gewählten Worten doch wohl
einen Sinn verbunden haben muß. Das Gericht ist nun
mittels angestrengten Nachdenkens und auf dem
schwierigen Weg von Kombinationen und Ver-
mutungen zu Resultaten gekommen. Wenigstens
bei einigen Zeilen. Bei anderen steht das normal
empfindende Gericht den Gefühlsausbrüchen ratlos
gegenüber. Das Gericht hat aber die Güte, von
den völlig unverständlichen Stellen abzusehen:
Beschränkt man sich auf diejenigen Wendungen.,
bei denen sich wenigstens ahnen läßt, was die
Dichterin eigentlich hat sagen wollen,, so ist
nicht zu verkennen, daß in dieser Aufeinander-
häufig von Unklarheiten eine gewisse Metho-
de liegt.
Also doch eine Methode. Die Sache wird wissen-
schaftlich :
Dieselbe besteht kurz gesagt darin, daß mehre-
re Bilder, von denen jedes einzelne an
sich nicht zu beanstanden ist, durch einander-
geworfen werden. Das Resultat dieses Verfah-
rens ist aber nicht nur eine bisweilen an völlige
Ünverständlchkeü grenzende Unklarheit, son-
dern vor allem eine Formlosigkeit, welche un-
ästhetisch und teilweise geradezu abstoßend
wirkt. ,
Ein Glück,.daß bei diesem Verfahren des Durch-
einander werfens von Bildern die Kopflosigkeit nur
bildlich bleibt.
WTenn beispielsweise die Dichterin „vom Seim
der Bläue der dem Erzengel gestohlenen
schwebenden Augen nascht“ so mag ihr zu
Gute gehalten werden, daß dieser Gedanken-
reihe einzelne richtige Bilder (der Vergleich
der Augen mit einer mit Honigseim gefüllten
Blüte, das Naschen von der Blüte etcetera) zu
Grunde liegt. Aus der gewaltsamen Zusam-
menstellung dieser heterogen Elemente ergibt
sich nun aber ein Gebilde, welches vom sprach-
lichen und vom ästhetischen Standpunkt aus
im gleichen Maße unmöglich erscheint und mit
Poesie nichts mehr gemein hat. Ueberhaupt
läßt sich von Idem Gedicht sagen, daß für den
auffallenden Mangel an vernünftigen Sinn nicht
einmal eine schöne Form entschädigt.
Nicht einmal das. Wenn es wenigstens gereimt
wäre, würde es sicher mit der Poesie etwas
gemein haben. Nach diesem Ausbruch des belei-
digten Verstandes hält sich das Gericht nicht etwa
für befangen. Es beweist vielmehr seinen Sach-
verstand
Führt die vorstehende Betrachtung zu dem Er-
 
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