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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 106
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Walden, Herwarth: Entdeckungen
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [2]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0014

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Entdeckungen
Ich nehme das Verdienst für mich in An-
spruch, durch meine Berichtigung in Nummer 103
die beliebten weiteren Kreise auf das Bestehen
der Zeitung „Das Kleine Journal“ und „ihres
Herrn“ Lehmann aufmerksam gemacht zu haben.
Herr Lehmann kann sich noch immer nicht be-
ruhigen und ist eifrig bemüht, das Cafe zu
finden, in dem ich verkehre. Bei dieser auf-
regenden und genußreichen Beschäftigung hat er
zwar nicht mich, aber Herrn Eduard Engel ent-
deckt. Professor Eduard Engel, der bekannte
Kursbuchkenner, schrieb zur Abwechslung von
seiner stenographischen Tätigkeit ein Buch über
den deutschen Stil. Es ist sicher sehr komisch,
wie alle Sonderfahrten des Herrn Professors in
nicht bekannte Gebiete. Die Entgleisungen des
Kursbuchreformators sind zu häufig, um sie
einzeln zu registrieren. Das „Kleine Journal“ hin-
gegen nimmt von solchen Zügen mit Interesse
Kenntnis. Trotzdem Herr Lehmann bei dieser
Gelegenheit auf den Kopf gefallen ist, geht er
doch noch „jede Wette mit irgendjemandem ein,
daß die meisten Leser dieses Blattes von dem
nachstehenden nur recht wenig Ahnung vor
der Lektüre gehabt haben“. Die in Nummer 103
namhaft gemachten vier Leser des „Kleinen
JÖurnals“ haben sicher keine Ahnung ge-
habt. „Die meisten werden nicht wenig erstaunt
seih, einen Mann darin angegriffen zu sehen,
der ihnen und vielen Tausenden anderen Men-
schen als ein erster Meister auf seinem Gebiet
erschien. Um so größer ist das Verdienst von
Eduard Engel, daß er den Mut bewiesen hat,
im Interesse einer Reinigung und Veredlung
unserer schönen Muttersprache ein Idol der all-
gemeinen Schätzung anzugreifen und zu stürzen.“
Welches Idol hat Herr Eduard Engel gestürzt?
An wem hat er seinen Mannesmut bewiesen?
An Maximilian Harden. Herr Eduard Engel ent-
deckt die „schriftstellerische Unnatur“ des Her-
ausgebers der „Zukunft“, und Herr Lehmann
preist das Verdienst durch kostenlosen Nach-
druck eines Kapitels. Die Entdecker sind heut-
zutage sehr unvorsichtig. Sie entdecken mit
großem Geschrei den Nordpol, den Südpol und
die Unnatur Hardens. Herr Eduard Engel
brauchte nicht weite Reisen zu machen. Eine
Postkarte genügte. Herr Engel hatte nämlich
gehört, daß ein gewisser Karl Kraus in Wien
Hardens Unnatur bereits entdeckt habe. Seine
eigene Literaturgeschichte gab ihm schlechte
Auskunft über diesen Karl Kraus. Dort fand
er: „In bunter Reihe, ohne Vollständigkeit, seien
noch als Kritiker mit Literaturkenntnis, Ver-
ständnis und Einfluß genannt: In Berlin Fritz
Engel, Rudolf Herzog, G. Weißstein, Rudolf
Presber, Philipp Stein; in Wien H. Wittmann,
M. Necker, J. Bauer, K. Krauss.“ Bessere Aus-
kunft fand er im Berliner Adreßbuch. Er konnte
dort unter der Adresse Berliner Bureau der
„Fackel“ den weggelassenen Vornamen und das
zugegebene s entdecken. Das zugegebene s ent-
deckte er zwar nicht, sondern schrieb an diesen
Herrn Krauss mit zwei s nach Berlin eine Post-
karte. Er habe gehört, daß dieser Herr K. Kraus
sich mit Maximilian Harden „beschäftigt“ habe
und bitte ihn höflichst um leihweise Ueberlas-
sung des Materials auf vierundzwanzig Stunden.
Es wurde ihm überlassen, zwar nicht von Herrn
K- Krauss, aber vom Berliner Bureau der
„Fackel“, das die Ansicht hatte, man solle keinen
Menschen in seinem Bestreben nach Bildung
auf vierundzwanzig Stunden hindern. Das „Ma-
terial“ wurde ihm überlassen, und Herr Eduard
Engel entdeckte unter dem Jubelgeschrei des
Herrn Lehmann den unechten Harden. Doch
Herr Eduard Engel ist dankbar. Er merkt an:
„Die folgenden Sprachrebus hat ein Sonder-
forscher des Preziösentums, Karl Kraus,
aüf die Schnur gereiht.“ Und ferner: ,„Viel-

leicht beschert unseren fernen Nachfahren ein
strebsamer Germanist ein Wörterbuch der
Sprache Maximilian Hardens; gute Vorarbeiten
findet er bei K. Kraus.“ Aber der strebsame
Germanist hat sich ja schon gefunden. Herr
Engel scheint sich selbst zu übersehen. Die
guten Vorarbeiten des nun endlich mit einem s
geschriebenen Karl Kraus haben ihm doch bereits
ein Verdienst um „unsere schöne Muttersprache“
eingebracht. Und in der neuen Auflage seiner
deutschen Literaturgeschichte wird es sicher
heißen: In Wien H. Wittmann, M. Necker,
J. Bauer, Karl Kraus, letzterer ein Son-
derforscher des Preziösentums.
H. W.

Der schwarze Vorhang
Roman
Von Alfred Döblin
Fortsetzung
Während seine Schritte unter dem bläulich
weißen Mondhimmel durch die Straßen hallten,
verfiel sein Geist, der sich zu erheben suchte, auf
einen sonderbaren Ausweg vor der Beschämung.
Wie Spinnfäden im Altweibersommer sich
zwischen manche Blätter und Menschengesichter
legen, so zogen sich doch Fäden hin und her
zwischen ihm und ihr, lächerlich und zart, aber
Fäden. Gewiß war er nicht viel mehr in ihrem
Leben, als die dicke Milchfrau, in deren Halle sie
vorhin ihre Sahne trank, oder auch vielleicht noch
weniger. Aber er war nicht mehr auszulöschen,
sie mochte innigst bitten und hingeben, was sie
wollte und konnte, — wenn das Leben ein ein-
ziges Meer ist, so schwamm auch er als eine Welle
in diesem Leben, im engen und weiten Kreise,
leise, unendlich fein auf das Zukünftige einwirkend,
aber bis ins feinste Geäder hinrieselnd. Und mit
zitternden Fingern lenkte und bestimmte er das
Fernste, zog unabwendliche Linien über das
Wasser hin.
Vielleicht, vielleicht erwies er sich, wenn ein-
mal sein zufälliges hohnvolles Lachen wieder in ihr
aufklang, das einmalige Lachen, das nie wieder
gelacht werden konnte, erwies er sich als Herrn
ihres Lebens; vielleicht, gewiß war er so im Plane
ihres Lebens vorgesehen. Und rächte sich so.
Man soll in ein Menschenleben wie in ein
Meer hinabsteigen, von einer Welle, die ihre Bahn
läuft, von einer großen Zuckung bis an den Strand
getragen, über Steine und Zufälle hinweg.
Die Wasser aber sind nicht und das Leben
traust wie ein unbewegliches Steinfeld.
Zwischen den Steinen redet keine Welle.
Es ist ein Weg für starke, sichere Mächte,
Cyklopen; ein Springen mit Siebenmeilenstiefeln
von Fels zu Fels ist es; zwischen zwei Worten
raucht ein Abgrund.
Aus dem weißen Ungefähr fallen die Steine
herunter, die Mächte schreiten aus dem dampfenden
Ungefähr heran.
Ich sah vor einiger Zeit, wie ein Kind unge-
geschickt eine brennende Spirituslampe in den
Händen hielt: der Spiritus floß auf die Erde; die
schöne bläulich-weiße Flamme aber war er-
loschen, und statt dessen huschten und zuckten
nun am Boden lauter kleine Flammenfleckchen.
Zufälle sind die gespenstigen Schritte des Lebens
Ueber die Erde stampfen sie und dröhnen
durch den geheimnisvollen Himmel.
*
Irenes Seele bewegte sich im langsamen Menuett-
schritt. Eine gehaltene Dämpfung lag auf der Zart-

häutigen. Wenn sie die stahlgrauen, strahlenden
Augen einem Unterredner zuwandte, so legte sie
meist die Finger über die Brust zusammen und
strich die starren, fahlroten Härchen zurück, die
ihr über das Ohr hingen und manchmal bis zum
Auge aufwehten. Auf einen Scherz lachte ihre
Kehle nicht laut, sondern Irene senkte nur wenig
den leicht beiseite gelehnten Kopf, öffnete, während
die Lider sich halb schlossen und die Augen auf-
leuchteten, mit Lächeln den Mund.
Sie reichte zum Gruß und Abschied ihre kühle
Hand; nackte, stolze Mädchenhände waren die
vertrauten Dienerinnen ihres Leibes, schlanke
Finger, die die Augen mit gelblicher Blässe
trösteten. Man fühlte, daß eine schwache Süße
immer von diesen Händen ausgeatmet wurde:
Da wurden alle Blicke auf die Hände zu feinen
Liebesgedichten. Wenig wallte ihr Inneres, wenn
sie die Augen schloß; sie achtete still, glättete
sich ohne Zagen und sicher, weder von außen
noch von innen beirrt, reihte sich in das Bunte
ein, die Klare.
So träumte sie auch nicht oft. Ihre Träume
spielten in ganz zarten Farben, die manchmal ins
Traurige hinübergrauten. Das machte ihre Mäd-
chenreife.
In ganz zarten Farben spielte ihr Traum. So
war Irene kühl und süß wie Milch.
Kellerhaft blies sie seine Art an. Sie preßte
beim Gedanken an ihn die Lippen zusammen;
er war ihr etwas Wüstes, Fremdes, vor dem sie,
ohne zu denken, zurückscheute. Noch verwirrt
von seinem grundlosen Hohn hatte sie seine
trauervollen Entschuldigungen gehört; hinter
seinen Worten, aus seinen unruhigen Augen sprach
eine wunderliche Schwermut zu ihr, die ihr Mit-
leid rührte und sie befremdete. Die Gleichgültig-
keit und der Abscheu vor ihm war ihr so ge-
wohnt, daß sie sich sogar gegen das Mitleid
sträubte. Aber gerade, als Johannes seine Ge-
danken von ihr löste und mit lächelndem Schmerz
von ihr Abschied nahm, erst da sahen ihre Aug^n
ihn ernstlicher an. Sie war erstaunt, verstand ihn
nicht; solche Widersprüchlichkeit war ihr fremd
und beschäftigte ihre Gedanken auch manchmal,
wenn sie ihn nicht sah.
Ihre grauen großen Augen wandten sich ihm
jetzt oft stille zu und tasteten an den Linien
seines knochigen, immer graublassen Gesichts.
Wenn ihre Gedanken in dem Mädchenstübchen,
das in einem Gartenhause lag, vor dem Ofen
abenteuerten, so schalteten sie jetzt gern gerade
mit seinem Bilde, sahen in Johannes bald den
grausigen Räuber und Mädchenschänder, bald
den düster bleichen Held und kühnen Retter,
der Irenen mit Gewalt überfiel und fortriß, der
schmerzzerrißen sein Letztes an ihr Leben setzte
und starb, um den sie lange trauerte, den jede
Nacht weiß im Sarge liegen sah.
Johannes hatte nach der dumpfen Gewalt-
samkeit jenes Abends Abschied von ihr genommen.
Deutlicher sagte endlich alles in ihm: es ist
genug, es ist übergenug. In dem vergeblich
heißen Ringen um sie war seine wilde Bitterkeit
ganz ausgebrannt; bei ihrem Anblick, der jetzt
so wenig Starkes, Eigenwilliges und Hassenswertes
bot, war das letzte seiner Trauer und seines
schlimmen Grolls unter einem Lächeln erloschen,
wenngleich noch hie und da Wehmut aufzuckte.
Sein gleichgültiger Stolz und die kalte Sicherheit
erhoben sich gestärkt und stießen, was noch vom
Trotz verhehlter Ohnmacht an ihnen war, ab.
Bald nahm er, so oft er Irene sah, eine un-
gewohnte Aufmerksamkeit an ihr wahr; er er-
staunte und fühlte sich wohl etwas beunruhigt,
unklar über die Ursache dieser plötzlichen Wand-
lung. Aber seine Teilnahme für sie verminderte
sich nur noch mehr; er dachte an das Fieber,
das ihn durchwütet hatte und wußte nicht, wie
sie, gerade sie es in ihm entflammen konnte.

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