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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 112
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Walden, Herwarth: Pfingsten
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Marinetti, Filippo Tommaso: Tod dem Mondschein !, [2]: zweites Manifest des Futurismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0061

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Umfang acht Seiten

Einzelbezug 20 Pfennig

DER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redaktion und Verlag: Berlin W 9 / Potsdamer Straße 18
Fernsprecher Amt Lützow 4443 / Anzeigenannahme durch
den Verlag und sämtliche Annoncenbureaus

Herausgeber und Schriftleiter:
HERWARTH WALDEN

Vierteljahrsbezug 1,50 Mark / Halbjahresbezug 3,— Mark /
Jahresbezug 6,— Mark / bei freier Zustellung / Anzeigen-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

DRITTER JAHRGANG

BERLIN JUNI 1912

NUMMER 112

Inhalt* H- W-: Pfingsten / F. T. MARJNETTI: Tod dem Mondschein / RUDOLF LEONHARD: Gedichte / PAUL SCHEERBART: Tiefe
Geschäftsweisheit / ALFRED DOBLIN: Der schwarze Vorhang / JOSEPH ADLER: Der geniale Heilemann / H. W.: Letzte Nachrichten /
ALFRED LICHTENSTEIN: Das Konzert / Der Philosemit / AUSSTELLUNG / WILHELM MORGNER: Landschaft / Originalholzschnitt

Pfingsten
Nun ist das Fest gekommen, wo der Theater-
kritiker und nicht weniger der Musik- und da*
Kunstkritiker den Staub der reinsten Stadt der
Welt vo,n seinen Füßen schüttelt, zweitens er-
leichtert aufatmet und drittens sich nach allen
Verrücktheiten der Kunst und den Erhebungen
durch Herrn i Professor Reinhardt je nach
Temperament auf kürzere oder weitere Reisen
begibt Der ei,ne zieht Afrika vor, der andere
begibt sich nach der Perle der Ostsee, um dort
den Fischer zu spielen, die Presse sucht den Geist
der Herren Blumenthal, Fulda, Sudermann,
Sommerstorff und Genossen in den mondänen
Badeorten auf. Das Rundreisebedürfnis hat die
Rundfragennot i beendet. Offenbar war kein
Pfingstochse mehr in Berlin anwesend. Kein
Leser weiß, was kein Dichter nicht gedacht hat.
Nie ist die Luft in Berlin so gut, als wenn der
Kritiker und der Bürger zur Natur zurückkehrt.
Man atmet frei, wenn alles ins Freie zieht. Die
Kunstmaler haben gute Tage. Unsere Mädchen
und Frauen haben sich Gesichter und Kleider
gewaschen, und die Salamanderstiefel strahlen im
Glanz ihres sonnigen Lächelns. Man kann der
Natur auf den sauberen Leib rücken und sie mit
rosa in Schönheit verschmieren. Pfingsten kommt
schließlich jedes Jahr wieder, und man muß sich
die Feste gefallen lassen, die sie feiern. Die
Kunstkritiker werden nun endlich die grünen
Bäume ßehen und die weißen Menschen, die sie
so lange, nicht am wenigsten durch meine Schuld,
in den Ausstellungen vermißten. Die akademi-
schen und die andern Bürger, die sich über der
Kunst fühlen, Werden sich als Künstler fühlen,
wegen des Künstlerrechts auf Erotik. Am Strande
läßt es sich gut dichten, im Sande läßt es sich gut
malen, und die Kurkapelle macht dem vielbeschäf-
tigten Kaufmann, dem angestrengten Anwalt, dem
tüchtigen Beamten die Musik von Richard Wagner
dazu. Der harte Kritiker freut sich der allge-
meinen Lebensfreude, entdeckt in jeder Tochter
des Landes eine Begabung, die seiner Begabung
zur Kunst entspricht. Künstlerinnen müssen das
Leben kennen lernen, und keiner ist so berufen zu
führen wie der Kritiker. Wenn die Freiheit der
Kunst nur in der Frechheit sexueller Anbiederung
bestände, würde der Bürger gern mit seinem
Leib der Kunst eine Gasse bahnen. Die chantant-
singende Portierstochter und die cancantanzende
Bierfahrerwitwe sind bei ‘ihm beliebter als das

„Familienmädchen". Mit ein bißchen Konfektion,
die er zu Vorzugspreisen kaufen kann, gottsei-
dank seinem Beruf, fühlt er das Raffinement der
schönen Kunst und der schönen Sünde. Man
ist eben Dichter. Ein paar seidene Strümpfe für
fünfundneunzig Pfennige von W. Wertheim G. m.
b. H. bringt sonst die Phantasie in die Hausse.
Warum soll man immer in der Baisse bleiben,
wenn man sich für fünfundneunzig Pfennig
Optimismus leisten kann. O lieb', so lang’ du
lieben kannst. Die Stunde naht. Das gnädige
Fräulein, Sie sind sicher Künstlerin, freut sich
des Lebens, so lange noch das Lämpchen glüht.
Und die Kunst hat die Affenschande davon.
Diese Bürgergarde von Drhtern Tenoristen,
Schauspielern, schriftstellernden Anwälten und
komponierenden Oberbeamten ergibt sich vor den
Kollegen, aber sie stirbt nicht an der Kunst. Man
fingert an ihr herum, als ob sie eine Portiers-
tochter wäre, man zieht ihr seidene Strümpfe von
W. Wertheim G. m. b. H. an, um sie zu sehen,
man wäscht sie weiß, um sie schön zu finden,
man tut ihr ein Leids an, um sich als Künstler zu
fühlen. Und wenn sie^ich das alles nicht gefallen
läßt, geht man zur Polizei oder nach Heringsdorf.
Verrückte Weiber läßt man laufen, oder man zeigt
sie an. Bürger Europas, überlaßt es den Verrück-
ten, die Kunst zu lieben. Kehrt zurück zur Natur.
Der Baum ist grün, der Himmel ist blau, und die
Sonne scheint. Das Mailüfterl weht. Hinaus ins
Freie. Und die Künstler mögen Wohnung im
Himmel nehmen, der ihnen nach der Ver-
sicherung des Kollegen Schiller zu jeder Zeit
offen steht. Ich brauche Platz für die Kunst.
H. W.

Tod dem Mondschein!
Zweites Manifest des Futurismus
Von F. T. Marinetti
Schluß
III
Es war tiefe Nacht auf dem persischen
Plateau, dem erhabenen Altar der Welt, dessen
riesige Terrassen volkreiche Städte tragen. In
unendlich langer Reihe, längs des Schienenweges,
beugten wir uns keuchend über die Antimon-
und Manganschmelztiegel, deren leuchtende Ex-
plosion von Zeit zu Zeit die Nackten erschreckte.

Wir blieben im Kreis, bewacht von der majestä-
tischen Runde der Löwen, die mit starr nach
hinten gerichtetem Schweif und mit fegenden
Mähnen den tiefen, schwarzen Himmel mit ihrem
hellen Gebrüll durchbohrten.
Aber langsam durchdrang das laue, glän-
zende Lächeln des Mondes die zerplatzten Wol-
ken. . . Und als er schließlich wie von grauem
Akaziensafte übergossen schien, da fühlten die
Verrückten, wie ihr Herz sich aus ihrer Brust
löste und zur Oberfläche der flüssigen Nacht
emporstieg. . .
Plötzlich zerriß ein lauter Schrei die Luft;
man schrie durcheinander; man lief zusammen ...
Ein junger Verrücktet mit den Augen einer Jung-
frau war wie vom Blitz erschlagen auf den
Schienenweg gefallen.
Schnell hob man seinen Leichnam auf. Er
hielt zwischen seinen Händen eine weiße, sehn-
süchtige Blume, deren Griffel wie die Zunge einer
Frau zitterte. Einige wollten sie berühren, doch
dies war unheilvoll, denn sogleich mit der Leich-
tigkeit einer Morgenröte, die über dem Meere
aufgeht, löste sich — welch Wunder — von
der welligen Erde schluchzendes Grün.
Aus der bläulichen Brandung der Wiesen
tauchten wie Dampf die Haare unzähliger
Schwimmerinnen auf, die seufzend den Kelch
ihres Mundes und ihrer feuchten Augen öff-
neten. In dem Meer von Duft sahen wir dann
einen Fabelwald um uns herum wachsen, dessen
gewölbte Blattdächer von dem schmeichelnden
Vorüberstreichen eines nur zu langsamen Win-
des erschöpft zu sein schienen. Und über allem
bittere Zärtlichkeit . . . Die Nachtigallen tranken
den duftenden Schatten mit lautem Freudengluck-
gluck; ein andermal wollten sie vor Lachen er-
sticken, indem sie Versteck spielten wie mut-
willige, schalkhafte Kinder . . . Süßer Schlummer
erfaßte das Heer der Verrückten, die vor Ent-
setzen zu schreien begannen.
Sofort stürzten die Raubtiere zu ihrer Ver-
teidigung herbei: dreimal, zu springenden
Knäueln zusammengepfercht, mit klammernden
Ansprüngen explodierender Wut griffen die Tiger
die unsichtbaren Phantome an, von denen die
Tiefe (dieses Zauberwaldes erbebte. . . . Endlich
war die Bresche geschlagen, gewaltige Konvul-
sion getöteten Blattwerks, das durch sein Stöhnen
die fernen, schwatzhaften Echos aus den Nischen
der Berge weckte. Aber als wir uns Seite an
Seite bemühten, unsere Beine und Arme von den

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