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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 136/137
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Wagner, Hermann: Die rote Flamme, [1]
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Kurtz, Rudolf: Futuristische Dichtungen
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Seidel-Turin, Curt: Deutsche Romane
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0217

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kleine Kammer, in der sie schliefen, die gröbste
Arbeit, für die sie untauglich waren, machte ihnen
für weniges eine Mietfrau, alles Leichtere besorg-
ten sie selbst.
Herr Joachim hatte daher für alle Weiber nur
noch ein Lächeln, und kam übrigens mit ihnen auf
das Vortrefflichste aus.
Denn da er sie nur für eine Art Kinder ansah,
denen man am besten den Willen ließ, zögerte er
niemals, ihnen recht zu geben, und lobte stets dort,
wo sie gelobt sein wollten, und drückte beide
Augen zu, wenn er hätte tadeln müssen,
' Das Weib war ihm nichts als eines der vielen
Wesen, dl" neben ihm lebten, ohne tiefere Bedeut
tung, ohne Beziehungen zu ihm, die irgend ein
Zufall planlos neben ihn gestellt hatte,
Anders verhielt es sich mit Herrn Theobald.
in dessen Seele klang ein Ton, war eine ver-
zehrende Glut: die Sehnsucht nach dem Weibe.
Sie war immer unbefriedigt geblieben und hatte
ihm tiefe Wunden gebrannt
Aber sie lohte fort, blieb ein ruheloses Suchen
und Begehren, ein ewig ungestillter Durst.
Sein ganzes Leben war eigentlich wie ein
Traum gewesen, es war, als sei er in finsterer
Nacht keuchend und flehend schillernden Irrlich-
tern nachgerannt, feurigen Zeichen, die verführe-
risch vor ihm her gegaukelt waren, nach denen er,
ohne sie jemals zu greifen, brünstig die Arme aus-
gestreckt hatte.
Existierte das Weib nicht, wie er es sah?
Oder war er nicht der Mann, es zu finden, es
zu wecken?
Schon längst hatte er sich damit getröstet, daß
er das Letztere annahm.
Schön war er ja niemals gewesen. Und nicht
stark, und nicht mutig.
Wer konnte die Summe von Schönheit ahnen,
die in seinem Innern aufgespeichert war, von der
er zehrte und lebte, und die er in ungeheuerlicher
Fülle hätte um sich ausstreuen mögen?
Das Weib, wußte er und war stolz darauf,
liebte nur die, die wie Halbgötter einherschritten,
die Lachenden und Tosenden, die, welche zertreten
und wieder aufrichten, deren Gang leicht ist, und
deren Wort kühn und stolz.
Mußte er da nicht abseits stehen?
Er durfte nur fühlen, ahnen, sich berauschen,
konnte aber nicht hoffen, zu wirken.
Er stand leuchtenden Auges am Rande des
Weges, auf dem brausend das Leben vorbeizog.
Sein war nur der Anblick — aber den hatte er!
Wie viele der Millionen um ihn hatten ihn nicht1
An dem Bewußtsein dieses Vorzuges richtete
er sich auf und sah sich turmhoch über dem Ge-
wimmel der Massen.
Denn wenn es ihm auch versagt war, die
Früchte seiner Sehnsucht zu pflücken, so war er
doch stark und groß genug, sich nicht an die
Tische zu setzen, an denen Gemeinheit und Ge-
wöhnlichkeit ihre Lüste feilhielten.
Es hatte lange gedauert, ehe Herr Theobald
zu dieser seltsamen Art eines resignierten Opti-
mismus gelangt war.
Er hatte es nicht glauben wollen und nicht be-
greifen können, daß die Welt so voller Gemeinheit
und Roheit war, und daß sich namentlich hinter
dem Weibe so viel des Tierischen und Häßlichen
verbarg.
Er war durch die Tage gelaufen, mit wirrem
Haar und fiebernden Augen, und hatte sein Herz
feilgeboten.
Mit vielen heißen Worten hatte er es feilge-
boten, wie sie ihm die Leidenschaft eingegeben
hatte, und in seiner Brust war ein Feuer ge-
wachsen, daß alles um ihn her wie vom Wider-

schein dieses Brandes zu glühen und zu leuchten
schien.
Aber inmitten durch diesen Glanz hatte er die
Fratzen grinsen gesehen: wie sie ihn perfid an-
gelächelt hatten, mit ihrem kühlen, überlegenen,
spöttischen Lächeln . . .
Niemand hatte ihn kennen wollen.
Da war die Scham in ihm aufgestiegen, und
er war verhüllten Hauptes durch die Nächte ge-
schlichen.
Seine Stimme war leise und demütig gewesen
und hatte gebettelt, seine Sehnsucht hatte traurig
die Arme ausgestreckt . . .
Vergebens,
Sebst die kleinsten Hoffnungen hatten ihn be-
trögen, und was immer er an Früchten von sei-
nem Wege aufgehoben hatte, alles hatte einen
faulen und bitteren Kern.
Noch wirkte sein letztes Erlebnis in ihm nach.
Jene abenteuerliche Leidenschaft, auf die er
nun schon seit fast zehn Jahren zurückblickte und
deren Geschehnisse er, wie hinter dichten Wän-
den von Nebel und in weiter Ferne, immer wieder
von neuem sich vor sich abspielen sah.
Das süße Gesicht des jungen blonden Weibes
verließ ihn nicht mehr . . .
Auf allen seinen Wegen nahm er es mit, in
seine tiefsten Heimlichkeiten tauchte es in lächeln-
der Ruhe mit hinab.
Noch immer durchzitterte seine Brust das
bange Gefühl der Freude und der Sehnsucht aus
jener Zeit, fast so stark und so betäubend, wie er
es in den alten Nächten empfunden hatte, die jetzt
so weit hinter ihm lagen, die gleichsam entflohen
waren:
In jenen fiebernden Nächten, die das teure Ge-
sicht wie die Erfüllung durch seine Träume ge-
gangen war, da er es in den Händen gehalten und
den ruhigen und gütigen Mund mit leisen Küssen
benetzt hatte, da seine Hände zärtlich über die
kühlen seidenen Wangen gefahren waren und er
aus dem Borne dieser milden Augen, Leben, Leben,
Leben gesogen hatte.
Seine Königin hatte er sie genannt.
Keinen anderen Namen hatte er für sie ge-
wußt, als den: Königin . . .
Viele tausende Male hatte er ihn gelispelt, zärt-
lich liebkosend und hingebend, wie im Gebet:
Königin!
Drei volle Jahre hatte er seine Liebe heimlich
mit sich herumgetragen, sie, die er anbetete, war
ahnungslos gewesen.
Oft zwar hatte es ihn gereizt, einmal zu er-
fahren, wie sie über ihn dachte, und es hatte Mo-
mente gegeben, in denen es ihm ganz natürlich
erschienen war, daß auch sie ihn lieben mußte.
Dennöch hatte er sich durch nichts verraten.
Seine Zaghaftigkeit und die Furcht, alles zu
zerstören, hatten ihn immer wieder davon abge-
halten, einen Schritt zu wagen, der sie ihm viel-
leicht näher gebracht hätte.
Sie stand zu hoch über ihm.
Nicht in sozialer Hinsicht zwar, denn ihr Mann
war arm wie er selbst, ein obskurer Gerichts-
diener, mit einem schmalen Einkommen und mit
Manieren, die weit hinter den seinen zurück-
standen.
Fortsetzung folgt in nächster Nummer


Futuristische
Dichtungen
Der Futurismus ist eine Erfindung F. T. Mari-
nettis — eines Stahlsaitengehirns mit einer lyrisch
umflossenen Seele.
Aus den Explosionsmotoren des zwanzigsten
Jahrhunderts, aus Dampfwolken und elektrischen
Wirbeln steigt senkrecht ein melancholisch-weißer
Mond empor — der Mond Jean Jacques Rous-
seaus, der Mond Jules Laforgues.
Marinetti aber ist unironisch wie alle tempera-
mentvollen Dogmatiker und der Hymnus ist seine
Aeußerungsfonn, Er produziert einen Heroismus
der Haltung, der in seiner verbissenen, unbeein-
flußbaren Monumentalität Schillers Schatten be-
schwört. Er ist dauernd in jene geräuschvolle
Sphärenmusik versunken: ein Lobsinger des ewL
gen Meers, der ruhmvollen Sonnenuntergänge, des
kühnen Sterbens. Ein Begeisterter, vom äußersten
Kap seiner Zeit schauend; vorgedrungen zur
Schönheit der Eisenkonstruktion und keineswegs
zurückschreckend vor dem Hymnus auf das Auto-
mobil.
Der Futurismus ist stolz, eine zeitgemäße Er-
findung zu sein. Es gilt die unfaßbare Allheit des
Augenblicks zu spiegeln. Eine antiquitierte
Aesthetik bestand darauf, aus der geschlossenen
Form die Fülle der Bewegung ahnen zu lassen —
der Futurismus läßt aus der Vielfalt der Momente
die geschlossene Form erraten» (Dreitausend.
Jahre Kunst ziehen sich lautlos in den Orkus zu-
rück.) Die dichterische Praxis Marinettis ist an
dieser Stelle ein wenig zurückhaltend: zur Erläu-
terung des Programms ist vielmehr die futuristische
Malerei inszeniert worden.
Marinetti ist ein schlanker, mondainer Italiener,
sehr pariserisch, sehr lebhafte Augen und sehr tem-
peramentvolle Bewegungen. Ein kluger Anwalts-
kopf mit dem ausdrucksvollen Mund eines Dich-
ters —, so wie ihn das Titelporträt des Sgn. Carrä,
futurista, mit unbeirrbarer Sicherheit hingestellt
hat.
Rudolf Kurtz
Mit diesem Vorwort wird eine Auswahl futuristi-
scher Dichtungen von F. T. Marinetti in deutscher
Uebertragung eingeleitet. Das Bändchen, mit einem
Porträt Marinettis von Carrä, erscheint demnächst im
Verlag A. R. Meyer / Berlin-Wilmersdorf.


Deutsche Romane
Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Im
Winter gehts den Leuten schlecht, aber im Früh-
ling blühen die Rosen: rote, blutige Rosen: duf-
tende Rosen aus Seidenpapier. Man spricht
deutsch in Berlin. Die Landschaft ist Feiertags
halber frisch angestrichen. Auch die alte liebe
Sonne ist wieder blank geputzt worden. Der
Schöpfer hat absichtlich zwei Seelen sauber ge-
waschen und zur Bleiche an die Sonne gehängt,
während die übrigen — Hundeseelen — in der
Rumpelkammer unter der schmutzigen Wäsche
liegen. Sie bewegen sich wie Hampelmänner in
einem zuckerwässerigen Sentimentalismus, wel-
cher jede Dienstmagd zu Tränen rührt: darüber
gibts nichts zu streiten. Draußen weht Großstadt-
luft: Mietskasernen und zolascher Firnißlack:

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