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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 138/139
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Heinrich, Karl Borromäus: Menschen von Gottes Gnaden, [12]: aus den Bekenntnissen des Herrn Lieutenant Miéville, nachmaligen Paters Bonaventura S. J.
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Friedlaender, Salomo: Der Rüssel des fetten Herrn Mühlmann
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0222

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Frangart. Und seine starre Miene erhellte sich
nicht unter dem Anblick des hohen Himmels und
der hellen Sterne.
Er kam im Schloß an, und zog herb und ge-
bieterisch an der halbeingerosteten Glocke. Nie-
mand schien zu hören, und er läutete nochmals.
Endlich rief eine männliche Stimme unwirsch durch
das Schlüsselloch: „Zum Teufel, wer ist da? Was
wollen Sie?1' „Ich bin es, öffnen Sie sofort!“ Der
Schlüssel drehte sich eilig, Baron Frangart trat
ein und sah sich um; vor ihm stand Georg im
Hemd und hielt das Nächtlich in der Hand; über
das Stiegengeländer aber gaffte, vor Ueberra-
schung starr lind ebenfalls im Hemd, Jeanette her-
unter; die Neugierde schien sie ihrem Mann —
denn das war Georg mittlerweile doch geworden
— nachgetrieben zu haben.
Das unordentliche Aussehen der beiden störte
Baron Frangart. „Kleiden Sie sich an,“ rief er,
„und machen Sie beide, daß Sie weiterkommen!“
(Davon, daß die zwei Eheleute geworden waren,
wußte er nichts, obzwar sie es ihm einmal ge-
schrieben hatten.)
Baron Frangart ging hinauf in sein Schlafzim-
mer, ohne Rührung, ohne jedes besondere Gefühl
der Erinnerung, wie als ob er dieses Schloß nie
verlassen hätte.
Nach einer Weile klopfte es demütig an seiner
I üre. Es war Georg. „Der Herr Baron weiß
vielleicht noch nicht, daß wir verheiratet sind,“
sagte er leise. „Verheiratet oder nicht, mich ekelt
es an . . .“ —■ „Entschuldigen Sie, Herr Baron!“
Unten knurrte Georg seine Frau zornig an, als
ob sie Schuld trüge: „Geh aus dem Haus! Aber
sofort! Du wirst schon irgendwo ein Nachtquar-
tier finden . . . Frag in Siegmundskron unten.“
Jeanette zog sich eilig an und verließ gehorsam
das Haus.
Es klopfte das zweite Mal an die Tür des
Schlafzimmers: „Herr Baron, sie ist fort!“ — „Ein-
treten!“ Und Georg trat ein und tat alles, was
sein Herr, bevor er schlafen ging, wünschte. Er
heizte das Bad und packte die Koffer aus. Und
berief sich nicht mehr darauf, daß Jeanette seine
ehelich angetraute Frau war.
Acht Tage lang — die der Baron verbrachte,
wie er sie als Kind auch verbracht hatte, in der
Sonne, an die Mauer des Schlosses gelehnt — schien
einige Friedlichkeit in ihn eingekehrt zu sein. Aber
dann beschritt er eines Tages den Friedhof und
trat an das Grab derer von Frangart. Seine Miene
verdüsterte sich: „Also,“ flüsterte er, „also sind
Mutter und Vater tot! Deshalb bin ich so allein...
Liebe Eltern, gebt mir doch ein fruchtbares Leben.“
Der Geist des Baron Frangart lag in dunkler
Nacht. Und die triumphierende Sonne des Südens
vermochte sie nicht zu erleuchten.
Der kaum erblühte jugendliche Körper hatte
seinen Herrn verloren . . . Die Augen glühten,
aber in wirrem Feuer. Es schien, als ob Baron
Frangart dort in München, gegen das Ende seines
Aufenthaltes, auf der Fahrt, beim Eintritt ins
Schloß, noch mit letzter Willensanstrengung seinen
Geist aufrecht erhalten hätte, um auf dem geheilig-
ten Boden seiner Vorfahren zusammenbrechen zu
können. Der allein gebliebene, rein gebliebene
Mensch war an der Einsamkeit seines Daseins, an
der Unfruchtbarkeit seines Lebens — mit wie un-
vergeßlichem Stolz er sie, im Bewußtsein seiner
Wohlgeborenheit, auch ertragen hatte — gleichsam
vertrocknet. Wie das schlanke, geschmeidige Reh
sich beim Nahen des Todes in den tiefsten Winkel
des Waldes flüchtet, um dort sein Ende zu erwar-
ten, so hatte sich Baron Frangart auf sein Schloß
heimgeflüchtet. Und mit großen, wirren Augen,
die langen langen Wimpern selten senkend, starrte
er ins Leere.

Kamen Menschen in seine Nähe, so hob er die
Hände vor das bronzefarbene Gesicht, vor die
schmäler gewordenen, aber anmutig gebliebenen
Wangen, und wehrte sie wie etwas Unreinliches ab.
Halbgeöffnet stand der edel geschwungene Mund,
und manchmal klapperten die Zähne leise aufein-
ander.
Die Landbewohnerinnen aber ringsum weinten
beieinander, daß so viel Schönheit dem Verderben
geweiht war . . .
Pater Bonaventura erfuhr die Kunde durch die
Vormundschaft in Bozen. Er eilte nach dem Sü-
den. In der Furcht, daß seine Ankunft den jungen
Baron erschrecken, oder seine Leiden vergrößern
möge, begab er sich in die Pfarrkirrche und wan-
derte, in weißer Soutane, mit dem Heiligsten Leib
des Herrn nach Frangart. Und seine bitteren Trä-
nen netzten die silberne Kapsel, in welcher die ver-
wandelte Hostie eingeschlossen war. Ach, er ver-
traute darauf, daß der Unglückliche wenigstens das
Allerheiligste Geheimnis noch ein Mal fühlend er-
fassen und erleben werde können. Und in der Tat,
obwohl Baron Frangart Bonaventura nicht wieder
zu erkennen schien, wurde sein Auge vor dem An-
blick der erhobenen Hostie noch einige Sekunden
milder und klarer; er schien zu wissen, was ihm
geboten wurde, denn ergeben kniete er sich nieder.
Bonaventura sprach die Generalabsolution über ihn
aus und betete dann für ihn dreimal die rituellen
Worte: „Oh Herr, ich bin nicht würdig, daß Du
eingehest unter mein Dach, aber sprich nur ein
Wort, so wird meine Seele gesund.“ Nach dem
Empfange des Sakraments blieb Frangart knieen.
Man konnte sehen, wie die kürze Klarheit seiner
Augen allmählich erlosch und ins Wirre überging.
Er blieb lange knieen, bis ihn das Zureden des Pa-
ter Bonaventura Zusammensein ecken ließ, dann
lief er weg, schlich um das Haus und hockte sich
in die Sonne . . .
Ein paar Tage später kam Schlagintweit an, der
von nichts wußte und überdies München schweren
Herzens verlassen hatte: Der Sohn, Knabe „Num-
mer achtzehn“, den er so plötzlich und anscheinend
für lange Zeiten adpotiert hatte, war seiner ner-
vösen Braut wenig willkommen. Und als in dieser
Zeit ein königlich bayerischer Bahnadjunkt neu in
ihr Leben trat, schien sie zu überlegen, ob nicht
eine sichere Staatsstellung einem längeren Braut-
stand vorzuziehen sei. Und gerade während dieser
Ueberlegungen trieb ihn, Schlagintweit, seine große
Liebe nach Frangart. — Wer beschreibt seine
Trauer! Der junge Baron erkannte ihn nicht mehr.
Vierzehn Tage logierte Schlagintweit in Sigmunds-
krön und stieg jeden Tag zum Schloß hinauf, um
vielleicht doch noch einen Blick des Wiedererken-
nens zu finden. Umsonst. Und als er am vier-
zehnten Tage wieder hinaufstieg, liefen Pater Bo-
naventura und alle anderen verstört umher. Der
junge Baron war verschwunden und alle Nachfor-
schungen waren vergebens; nach einigen Tagen
gab jedermann die Hoffnung auf, daß er noch lebe.
Er hatte sich wohl irgendwo im Wald niederge-
setzt, war vielleicht dann nochmals aufgestanden
und im Irren herumgerannt, hatte sich wieder ge-
setzt und vielleicht um Hilfe gerufen ... Er war
tot.
Baron Frangart, der sein Leben vor den un-
reinlichen Menschen mit solcher Tapferkeit ver-
schlossen hatte., — er hatte ihnen auch den An-
blick seines Todes verborgen . . .
Pater Bonaventura klagte nicht, daß Gott sein
und aller andern, narhentlich des alten Choiseul
Gebet, das Leben dieses Menschen fruchtbar zu
machen, nicht erhört hatte; er weinte nur und be-
tete weiter.
Schlaginweit seinerseits fuhr in tiefer Trauer
nach München zurück. Dort aber, wie denn über-

haupt im Verlaufe seines ganzen Lebens, schenkte
er aufs neue sein Herz den Menschen — obwohl
ihn seine Braut alsbald schnöde verließ und den
Bahnadjunkten heiratete; obwohl sein Sohn, der
Knabe „Nummer achtzehn“, ihn vielfach hinter-
ging um endlich als Komödiant irgendwo zu landen.
Sie alle drei handelten, wie es eben, dem gött-
lichen Ratschlüsse gemäß, solchermaßen in ihrer
Bestimmung lag . . .
Die Choiseul, Riom, Frangart und Bourbonen
aber waren, soweit sich das hier auf Erden und
unter Menschen mit Wahrscheinlichkeit sagen, be-
stimmt aber nur hoffen läßt, bei ihrem Gott ver-
sammelt, von dessen Gnaden sie gelebt hatten.
Romanen und Germanen mischten sich hier jeden-
falls friedlich untereinander; kein Schrei der Sehn-
sucht rang sich mehr aus ihrem Munde. Das ewige
Licht leuchte ihnen. Amen!

.... .. . ... . ......... . • ..;
Der Rüssel des fetten
Herrn Mühlmann
Von Mynona
Im Zimmer war es schön kühl, die Verwandten
hockten zusammen und sprachen über Mühlmann.
Er blüht, er gedeiht, sagte Tante Moni, er läßt
sich nichts abgehen — was soll daraus werden?
Mühlmann kam eben rein, er sagte: ich gebe
euch nicht die Hand, ihr gönnt mir mein Leben
nicht, und gönnen wäre auch noch zu wenig. Der
Tante Moni ihre Worte habe ich gehört, mir ist
ganz übel davon. Die Moni setzte sich stumm
hinter seinen Rücken. Wenn man einen fetten
Menschen gekränkt hat, ist es gar nicht unprak-
tisch, hinter ihn zu gehen, denn er hat kolossal
langsame unbequeme Umdrehungsmöglichkeiten.
Wo ist die Tante Moni? fragte Mühlmann.
Die Verwandten schwiegen, die Tante Moni
atmete kaum. Hunold Mühlmann kramte auf sei-
nem Schreibtisch. Ich enterbe euch, grollte er
grämlich. Da kam die Tante Moni langsam um
ihn rum: Hunold, laß mit dir reden. Ich meine
überhaupt nur, du wirst zu dick, es muß etwas
geschehen. Geh nach Karlsbad, sei gescheit!
Andre zu enterben, weil sie uns dick finden, hat
noch nie Segen gebracht. Sage selbst, Hunold, ich
habe eben hinter dir gesessen, und du spürtest
das nicht einmal. Der dicke Mensch hat ein zu
großes Hinten, hinter seinem Rücken muß man
beim besten Willen mehr reden als sonst Sei
nicht so übelnehmerisch! Du lebst nur vorn. Tu
nicht so dicke wie du bist! — Weine nicht
gleich, antwortete Hunold. Er war halt zu dick,
um sich rasch ändern zu können, er mußte gut
bleiben — oder dünn werden. Er küßte der Moni
die Hand, umarmte alle und verschwand. —; Als
er wieder aus Karlsbad kam, was sein Fett ab-
geschmolzen, aber auch seine Güte, die sich nie-
mals batte krankärgern lassen. Er sagte der ollen
Moni gehörig die Wahrheit, und die andern krieg-
ten auch Dinge zu hören, die sie sehr peinlich be-
rührten. Was blieb übrig? Die Moni berief
wieder einen Familientag, aber ohne Hunold.
Nun hielt sie da einen solennen speech, der wieder
auf ne Mastkur bei Hunolden hinauslief: je dicker,
je besser, war die Parole. Direktor Pohle (von
den Wasserwerken) meckerte verächtlich: Pri-
mitiv! Assoziation von Dicke mit Gutmütigkeit.
Quatsch! Aber der Mann wurde überschrien.
Man setzte dem Onkel zu, man bestach seine

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