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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 140/141
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Epstein, Elisabeth: Einige Gedanken über Bildentstehung
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Mürr, Günther: Marienlied
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Wagner, Hermann: Die rote Flamme, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0236

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kommen zur Welt aus dein Kopfe des Künstlers,
nicht aus seinem Leibe. Und er soll wie das Weib
aus 'diesem Leibe durch die Liebe gebären und sich
über das Entstehen und über das Entstandene ge-
horsam wundern. Wie der Körper des Weibes
die Kontrolle und die Nahrung für das Leben des
Keimes unbewußt besorgt - so sorgt auch der
Künstlergeist für das Anwachsen und Entstehen
seines Werkes; nur gilt es, die Gescheitheit der
Natur zu offenbaren, passiv, hier die Gescheitheit
■des Geistes, des Talentes aktiv in Bewegung zu
setzen und insofern ist es bewußt.
Geht ein Künstler auf abstrakten Bahnen, so
gehört ungeheures Talent dazu, es auch w a h r zu
tun. Die Natur stört meist; die einen glauben zu
schaffen, indem sie direkt ohne Transformation die
Naturdinge in geordnete Formen zwingen. Dabei
bleiben sie akademisch, ohne es zu merken und
werden nicht visionär; sie denken Aenderungen
der objektiven Formen aus, erleben nie, und was sie
malen, geschieht nicht auf der Leinwand. Die
anderen lassen die Natur ganz und bleiben in For-
men und Farben als das nur auf der Leinwand zu
behandelnde Material. Diese Bilder geschehen
zwar auf der Leinwand, haben aber die Gefahr
zu sehr Objekt zu werden, schöne geordnete
Dinge, die von nichts sprechen. Ein Künstler, der
singt, ohne etwas zu sagen: haben das nicht schon
die Vögel besorgt? Muß das ein Mensch noch tun,
der Mensch, der die Verantwortung für die Welt,
■die Rechtfertigung des Lebens trägt? Und dann:
die Wissenschaft der Malerei. Das gibt es, aber
es soll doch nicht anderen überlassen werden, und
ist ein Maler auch kein Dichter, so ist er doch ein
Mensch, dem gegeben ist zu verarbeiten, was die
Schöpfung brachte und sein Wort zu sagen, seine
Existenz mit dem Worte somit zu erlösen, ehe er
stirbt. Ein Künstler kann mehr oder weniger von
der Natur ausgehend, erlebend weiter und weiter
zur Abstraktion gelangen, indem auf der Leinwand
der Kampf mit der Natur der Vision entgegen lang-
sam durchgekämpft wird. Die Phasen des Kamp-
fes, noch sichtbar, überzeugen noch mehr vom Re-
sultat. Andere Künstler können in unsichtbarer
vorhergegangener Arbeit weg von unsichtbarer
Natur zur Abstraktion gelangen, die sic dann auf
die Leinwand setzen. Sie sind die, denen im
besten Fall nur langsam geglaubt wird — daß
schließlich, wo der Kampf sich, wenn auch un-
sichtbar, aber doch vollzogen hat. Alles andere
zählt nicht, diskreditiert die Besseren und stützt
das Gelächter, ist aber unvermeidlich wie die Affen
des Menschengeistes. Gedankenaffen. Philosophen-
affen, Maleraffen, Lebensaffen wird es immer
geben. Die Zuschauer, die meisten unterscheiden
nicht, sie schauen flach, kritisieren richtig wie sich
selbst, sondern nichts ab. Menge sieht Menge,
Affe sieht Affen. Ausstellungen und Publikum
haben nichts mit den Bildern zu tun. Ein Kunst-
werk muß darum lange sich auf Jahrmärkten
schleppen, ehe es zum Bewußtsein wird.
Aber auch die „Affen“ zeugen nur davon, wie
schwer ein wahres Werk zur Welt kommt; sie
zeigen alle Wege, die der Künstler vermeiden soll,
sie erzählen von groteskem Nichtkönnen, von
lächerlichen Resultaten unbescheidener Lügen,
darum sind sie sehenden Augen nützlich und hel-
fen den Kämpfenden, die Gefahren zu vermeiden.
Denn gerade die Schwachen, die Leeren gehen die
gefährlichen Wege und fallen in alle Fallen: sie
haben weder iVIaß noch Unterscheidungsfähigkeit in
ihren Affengeistern und in ihren Richtungsahnun-
gen.
Lange Zeit braucht ein Betrachtender, um sich
auszukennen, um den Weg zum Resultat zu be-
greifen und dann das Resultat zu schätzen. Drum
sollten diejenigen, die Interesse haben, genauer und

länger bei außerordentlichen Dingen verweilen,
sich nicht durch Sonderbarkeiten abschrecken und
durch Gefälligkeiten mehr oder weniger kompli-
zierter Art anziehen lassen. Vielleicht geschieht
so die Absonderung schneller (denn was die Men-
schen nicht tun, tut für sie doch schließlich die
Zeit). Die Künstler erleben dann vielleicht An-
erkennung und die Falschen verdiente Verachtung.
Dadurch würde sich das Menschenauge reinigen
und klären. Die Menge der gleichzeitigen Wahr-
heiten wäre größer und somit die Zeit fröhlicher
und erhabener.

Marieniied
Ich atme tief, und mein Denken betet zu dir,
betet mit geschlossenen Augen.
Ich bin nie mehr ganz trostlos, denn du vergißt
mich nie.
In dir verstummen meine lärmenden Schmerzen.
Die braunen weichen Haare,
und beim Kopfneigen der weiße Scheitelstrich.
Du bist meine lächelnde Stille.
Süße Marie.
Günther Miirr

...


Die rote Flamme
Vos Hermaia Wagner
Fortsetzung
Sie lenkte sofort ein und tat sehr scherzhaft.
„Ach, seien Sie mir doch nicht böse! Ich will
Sie gewiß nicht verführen! — Nein, wirklich, Sie
sind ein lieber Mensch!“
Sie trat dicht vor ihn hin, kicherte und gab ihm
einen leichten Klapps auf die Wangen. Es war
schon mehr ein Streicheln.
Herr Theobald lächelte verzerrt
„Soll ich Ihnen nicht sagen, wie ich heiße, Herr
Theobald? — Nun, also, mein Name ist Hermine!
Was sagen Sie dazu? . . . Ach, bitte nennen Sie
mich Hermine, ja?“
Herr Theobald zögerte.
Aber sie bestand darauf.
„Sagen Sie es bitte!“ wiederholte sie und
stampfte leicht mit dem Fuße.
„Gewiß. Fräulein Hermine . . .“
„Nein, nur Hermine!“
„Also: Hermine . . .“
„Sie sind süß! Sie sind ein lieber Mensch!“
Sie hatte ungestüm seine Hand ergriffen, sie
gedruckt und sogleich wieder fahren lassen.
Lässig warf sie sich auf das Kanapee, daß das
alte Möbel krachte.
„Sie brauchen übrigens nicht zu glauben, daß
Sie sich allzu sehr wegwerfen, Herr Theobald! Ich
bin von besseren Leuten! Ich habe Bildung ge-
nossen, Herr Theobald! Ja, ob Sie es glauben:
Bildung und Erziehung! Mein Vater ist Lehrer,
draußen im Mährischen . . . Gott, das waren
Zeiten!“
Sie hatte die Beine nachlässig übereinander ge-
schlagen, den Körper weit in das Kanapee zurück-
gelehnt und starrte wie hypnotisiert nach der
Decke. Trotzdem lag in ihrer Stimme eher Gleich-
giltigkeit als Empfindung.
„Wie gemütlich Sie es hier haben.“ fuhr sie
dann fort und ließ ihre Blicke schon wieder durch
die Stube schweifen. „Und dort in der Kammer
schlafen Sie? . . . Ja, was ist denn das!“

Sie hatte Schöps erblickt und nahm ihn auf ihre
Arme.
„Eine wundervolle Katze!“ sagte sie und strei-
chelte das Tier.
„Haben Sie Katzen gern? Ja! Ich eigentlich
mehr die Hunde. Besonders die häßlichen und
starken Bulldoggen, die mit der gespaltenen
Schnauze und den fletschenden Zähnen, wissen
Sie? Das sind die treuesten und anhänglichsten
Tiere. Wir hatten zu Hause einen Bulldogg viele
Jahre. So groß war er, und die Brust, ich lüge
nicht, so breit! . . .“
Und indem sie den Kater leicht streichelte und
kraute, erzählte sie wieder von ihrer Heimat.
Sie kam von dem Hunde auf das Dorf zu spre-
chen, in dem sie gewohnt hatten, und flocht la-
chend Erlebnisse ein, die in ihrer Belanglosigkeit
doch nicht langweilig wirkten, so heiter und an-
schaulich wußte sie sie zu berichten.
Herr Theobald hörte ihr ruhig zu, unterbrach
sie nicht, lächelte nur zuweilen ganz unmerklich.
Sie ist doch eigentlich recht harmlos, stellte er
fest. In keinem Zuge verrät sich jetzt ihr Leben.
Und sie ist wirklich fast schön, und am allerwe-
nigsten sieht sie alt aus. Freilich hat sie nichts
Mädchenhaftes. Dazu ist sic zu groß und zu stark
und um ihren Mund zu satt und zu müde. Abbr
als eine Frau kann ich sie mir vorstellen, als eine
junge, hübsche, heitere Frau, die glücklich ist und
sich keine Gedanken macht . . .
Und er war erstaunt und begriff nicht, wie es
möglich war, daß dieses Weib so natürlich und so
naiv plaudern konnte, und wie so gar nichts von
dem an ihr zu haften schien, was bisher den In-
halt ihres Lebens ausgemacht hatte: von ihrer Er-
niedrigung und ihrem Schmutze.
Denn nichts von alledem war jetzt an ihr.
Sie ist lieb und gut, dachte Herr Theobald, und
es ist ganz unmöglich, zu glauben, daß sie ohne
Herz und Gemüt sei.
Daß nämlich Mädchen ihrer Klasse ein Herz
haben könnten, war ihm immer absurd erschienen.
Er konnte sich das, was sie taten, nur aus dem
krassesten Zynismus und Egoismus ihrer Psyche
erklären.
Kalt und starr war ihre Seele.
Deshalb auch die oft entsetzliche Gemeinheit
und Schamlosigkeit ihrer Gesichter.
In ihren Zügen aber ist keine Spur von Gemein-
heit, dachte Herr Theobald, und seine Augen lagen
wie gebannt auf dem Gesichte der Erzählenden.
Auch dann nicht, wenn sie schamlos ist, fo1-
gerte er weiter.
Es ist dann, als täte sie alles unbewußt, als
käme eine seltsame Passivität über sie, gleichsam
ein narkotischer Schlaf.
In ihren Augen liegt neben dem Müden viel
Weichheit und so etwas wie Sehnsucht.
Es ist merkwürdig, dachte Herr Theobald, wie
leicht ich mir dieses Weib als Mutter vorstellen
könnte, mit einem Kinde auf den Armen, voller
Zärtlichkeit und Besorgtheit.
Wahrhaftig, es konnte nichts Unnatürliches an
ihr sein.
Zu gesund war sie, zu stark und zu klar . . .
Und plötzlich mußte Herr Theobald an seine
letzte Liebe denken.
An jene Frau, die nur er besessen hatte, und
an jenes Kind, auf das er seine Zärtlichkeit hatte
übertragen dürfen.
Es war wie ein jäher Schein, der leuchtend
durch seine Seele fuhr —
. . . „und ob Sie es für möglich halten: ich
war in der Schule diejenige, von der der Kaplan
am meisten hielt. Ich war das Beispiel, auf das
man hinwies!“
 
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