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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 131
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Scheerbart, Paul: Die neue Oberwelt: Venus-Novellette
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Die neue Oberwelt
Venus-Novellette
Von Paul Scheerbart
„Wenn man,“ sagte der weise Knax, „sich nicht
zu helfen weiß, so kann man nicht behaupten, daß
man sehr schlau ist.“
„Zweifellos!“ riefen lachend die Zuhörer.
Aber die Zuhörer hörten bald wieder zu lachen
auf; ihnen war gar nicht so lächerlich zumute, da
sie große Sorgen hatten.
Auf dem Stern Venus war die große Frucht-
barkeit zu Hause. Knax mit seinen Zuhörern
lebte auch auf dem Stern Venus, auf dem alles
unter der großen Fruchtbarkeit sehr zu leiden
hatte.
Der Stern Venus ist bekanntlich nicht ein Stern,
der sich wie Jupiter, Mars und Erde um sich sel-
ber dreht — der Stern Venus hat immer nur die
eine Seite seines Kugelleibes zur Sonne gewendet,
und da diese sehr heiß ist, so ist es die eine Seite
der Venus auch. Daher darf es nicht verwunder-
lich erscheinen, daß auf dieser einen Venusseite
die Fruchtbarkeit eine Plage ist.
Blumenartige Bildungen auf der Rückenseite
der Venusbewohner verwandeln sich sehr rasch,
bekommen lange, schwirrende Schmetterlings-
flügel, die sich bald wieder zusammenballen und
mit dem Ganzen ein kompliziertes Fruchtgebilde
darstellen, das sehr schnell größer wird und sich
dann vom Körper loslöst und danach zu einem
neuen Venusbewohner wird. Diese Nachkommen
entstehen, ohne daß ihre Vorfahren in die Lage
kämen, die blumenartigen Bildungen mit ihren
Verwandlungen irgendwie zu beeinflussen. In der
Nähe der Sonne vollzieht sich eben die Vermeh-
rung der Arten in sehr einfacher Weise — ohne
jede Spur eines irdischen Dualismus
Man kann sich leicht denken, daß diese Be-
quemlichkeit der Natur auch erhebliche Unbe-
quemlichkeiten im Leben derer, die sich so einfach
fortpflanzen, zur Folge hat — denn die Alten ster-
ben nicht so schnell aus auf der Venus, so daß
sich die Zahl der Venushautbewohner unablässig
vergrößert. Diese Vermehrung behindert die Be-
wegungsfreiheit der Generationen. Und — wer
sähe es gerne, wenn er samt seinen Lebensge-
nossen in seiner Bewegungsfreiheit behindert wird?
Dabei geht ja alle Heiterkeit und Grazie ohne An-
mut zum Teufel.
Nun kam noch hinzu, daß auf der heißen Ve-
nusseite zwei ganz verschiedene Arten von Lebe-
wesen existieren; die einen waren groß, dick und
faul und hatten eine Art Schildkrötenfell oben und
unten, die anderen Lebewesen besaßen zwanzig
Arme mit langen feinen Händen, die sie faustartig
gekrümmt leicht als Füße gebrauchen konnten, so
daß diesen Zwanzigarmigen eine geradezu unheim-
liche Lebendigkeit innewohnte.
Daß den bequemen, faul und ruhig daliegenden
Schildkrötenfellbedeckten die Lebendigkeit und
Ruhelosigkeit der Arm- und Handreichen sehr
peinlich — ja zuweilen unerträglich — vorkam,
das braucht wohl nicht gesagt zu werden.
Knax gehörte nun mit seinen Zuhörern zu den
beweglichen Venushautbewohnern.
Knax dachte täglich in reichlichem Maße über
die verdammte Fruchtbarkeit der heißen Venus-
kugelseite nach; er war schon vor vielen Jah-
ren auf die Idee gekommen, daß eine große Anzahl
von Türmen und freischwebenden Brückenarran-
gements wohl dem Platzmangel auf der Venushaut
steuern könnte. Und man hatte danach auch Türme
und Brücken in Tälern und Höhen massenhaft
erbaut

Indessen die verdammte Fruchtbarkeit der Ve-
nusbewohner war eine derartig ergiebige gewesen,
daß alle diese Türme und Brücken nicht mehr
dem allgemeinen Verkehrsbedürfnisse der Beweg-
lichen genügten; der Beweglichen gab es eben
zu viele — und die Schildkrötenartigen bedeckten
fast überall den Sternboden und litten nicht, daß
die Zwanzigfüßigen auf ihren Rücken oder in ihrer
Nähe herumliefen, da ihnen die Ruhe das wert-
vollste Lebensprinzip zu sein schien.
Knax, der Weise, sagte traurig:
„Weiß der liebe Himmel — wir haben in un-
serer sonnigen Heimat nicht mal mehr zum Spa-
zierengehen Platz. Wo sollen wir denn bleiben?
Wir können doch nicht immerzu auf unseren
Brücken und Türmen sitzen und malen. Wir müs-
sen doch mal Spazierengehen; wir sind doch nicht
so konstruiert, daß wir auf die Spaziergänge ganz
und gar verzichten können.“
Knaxens Zuhörer sagten dazu:
„Er hat Recht, der Knax!“
Aber sie wußten nicht, wie dem Freiheitsmangel
begegnet werden könnte; natürlich kam keines
von diesen höher entwickelten Lebewesen auf die
brutale Idee, die Nachkommen, die überflüssig er-
schienen, einfach abzugurgeln; alles Töten war
den Venushautbewohnern unbekannt.
Die Geschichte wäre ja zweifellos zu , einem
Kampfe aller gegen alle geworden, wenn sich die
ruhigen und die beweglichen Hautbewohner in
einer Weise ernährt hätten, die sich mit der, die
man auf dem Stern Erde sattsam kennen gelernt
hat, vergleichen ließe. Aber ein derartiger Ver-
gleich erscheint hier ganz unstatthaft, da sich die
Hautbewohner gar nicht von dem ernährten, was
auf der Haut der Venus zu finden ist; die Venus-
bewohner — sowohl die ruhigen wie die beweg-
lichen — nahmen nur einmal im Venusjahr Nahrung
zu sich und das geschah folgendermaßen:
Es wuchsen ihnen plötzlich die Haare ihres
Körpers länger und daraus ersahen sie, daß sie
Hunger hatten; fühlen taten sie den Hunger keines-
wegs. Nun wuchsen die Haare des Körpers plötz-
lich in die kautschukartige Venushaut hinein —
und wuchsen in der Haut sehr schnell in einigen
Stunden mehrere tausend Meter tief ins Innere
des Sterns hinein. Und in diesem Innern des
Sterns sogen die Haare, die allerfeinste Röhren
darstellten, den Nahrungsstoff auf und führten ihn
dem auf der Haut des Sterns liegenden Körper zu.
Hatte dieser genug, so gingen die Haare entzwei
und der Gesättigte konnte wieder davonlaufen.
Hätten nun die Schildkrötenartigen die ganze
Sternseite mit ihren Körpern bedeckt, so hätten
natürlich die Beweglichen keinen Platz gehabt,
Nahrung aufzunehmen. Aber so schlimm war’s
nicht; so viel Schildkröten konnten gar nicht ent-
stehen, da die Venushaut doch eine ungeheure
Fläche repräsentierte.
Nur zum Spazierengehen und zum Laufen fehlte
der Platz auf der Halbkugeloberfläche; zum Nah-
rungaufnehmen langte diese Oberfläche in jedem
Falle; die Schildkröten waren sonst sehr gut-
mütig und hätten auch den Zwanzigarmigen gerne
durch Aufeinanderlagerung Platz gemacht, wenn
dieser nur zum ruhigen Nahrungaufnehmen ver-
wendet werden sollte; nur für Lauferei und Sprin-
gerei hatten die Ruhigen nicht das geringste Ver-
ständnis — alle Unruhe störte ja die ruhige phi-
losophische Spekulation, die das Leben der Schild-
kröten ganz und gar erfüllte.
Doch Knax, der Weise, ließ nicht nach, über den
Bewegungsfreiheitsmangel in reichlichem Maße
täglich nachzudenken und kam eines Tages zu fol-
gendem Einfall und zu folgender Rede:
„Lebensgenossen auf der Venushaut! Wie ihr
alle wißt, haben wir auf unserer Sternseite unzäh-

lige Krater, aus denen von Zeit zu Zeit ganz heiße
Luft herauspufft, die mit gewaltiger Geschwindig-
keit zum Himmel emporsteigt und dort nutzlos am
kalten Aether sich wieder erkältet. Könnten wir
diese heiße, sehr leichte Kraterluft nicht als Luft-
ballonträger verwerten? Und können wir uns
dann nicht auf diesen Luftballons die nötige Be-
wegungsfreiheit schaffen? Wie denkt ihr darüber?“
„Ach was! Was werden wir weiter darüber
nachdenken! Wir werden sofort aus unserer
Sternhaut, die sich zu Ballonzwecken trefflich eig-
net, die nötigen Ballonhüllen herausschneiden.“
Also antwortete man dem weisen Knax.
Und die Idee fand solchen Anklang, daß man
ganz vergaß, dem weisen Knax für seinen Einfall
zu danken; mit der größten Schnelligkeit gingen
alle Zwanzigarmigen an die Arbeit, die Schildkröten
machten, als sie von dem Plane hörten, gerne
Platz — und halfen auch beim Hautaufschneiden.
Heller Jubel scholl über die halbe Venushaut
und dem weisen Knax drückte man bald darnach
so eifrig voll Dankgefühl die Hände, daß ihm diese
anschwollen und sehr weh taten.
„Die Dankbarkeit ist auch nicht leicht zu er-
tragen!“ rief er lachend.
Doch die Ballons über den Kratern wölbten
sich bald himmelhoch empor.
An Stricken, die an der Ballonhaut befestigt
wurden, kletterten die Beweglichen mit Bequem-
lichkeit hinauf und hinunter.
Indessen — viele Ballonhäute spannten sich
bald ganz kugelrund und so fest, daß die Haut
ganz glatt wurde und nicht leicht auf ihr zu lau-
fen war.
Knax, der Weise, erklärte daher:
„Lebensgenossen auf den Ballonhäuten der
Venushaut! Macht schnell neue Ballonhäute und
macht kleine Löcher in die alten, allzu straff ge-
spannten Ballonhäute — dann wird der Haupt-
ballon an vielen Stellen kleine Nebenballons be-
kommen und das Terrain, auf dem wir herumlaufen
wollen, wird dadurch wieder uneben und reicher
gegliedert erscheinen.“
Dies mußte Knax mehrfach auseinandersetzen
— doch die Lebensgenossen verstanden ihn dann
allmählich und machten wie er gesagt hatte.
Und da wurde denn die Freude auf allen Bal-
lons noch viel größer und Knax wurde gefeiert
wie ein Retter und Erlöser.
Und die Schildkröten, die jetzt unten schreck-
lich ruhig lebten, freuten sich auch.
Leider währte die Freude der Schildkröten
nicht sehr lange, denn sie bemerkten bald, daß
ihnen die riesigen Kraterballons, die durch all die
neuen Auswuchsballons täglich größer wurden, die
Aussicht in die große Sonne benahmen, so daß die
Kröten überall im Schatten liegen mußten.
Man rief nach dem weisen Knax und setzte
ihm die Unerträglichkeit der Schattenfülle ausein-
ander.
„Wir sind,“ sagten die Kröten, „an die Schat-
tenfülle nicht gewöhnt; wir sind doch so konstru-
iert, daß wir Licht und Sonne zum philosophischen
Nachdenken alle Tage brauchen. Mit der Nacht,
die ja bislang auf unserer Venushälfte noch ganz
unbekannt war, wissen wär nichts anzufangen. Da-
rum sagen wir dir, Knax, gib dem Schatten bald
einen solchen Knax, daß alles Nachtartige ver-
schwindet. Sonst gehen wir alle an Lichtmangel
zugrunde. Und das werdet ihr doch nicht wollen.“
Knax kraute sich mit seinen zwanzig Händen
hinter seinen sieben Ohren und rief wehklagend:
„Wie soll ich das machen? Wie soll ich das
machen? Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!“
Er lief in eine Höhle und dachte wieder nach
— und ihm fiel ein, daß man ja alle Ballons am
Kraterrande zusammenbihden und in die Lüfte

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