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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 129
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Rivière, Jacques: Baudelaire, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0164

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Franz Marc: Pferde / Originalholzsehnitt

Hoffnung, ein Zweifel wacht einige Augenblicke
über ihrer Tiefe. Aber man muß nur warten. In
meiner Erinnerung finde ich sie dann, noch zit-
ternd wie Pfeile.
Und inmitten dieser Aufrichtigkeit, der ich mich
so früh wie möglich entledigen müßte, die Ironie:
Ich weiß alle Antworten, ich weiß alle Rechtferti-
gungen. „Mich täuscht nichts. Indessen, man muß
diese Bitterkeit ertragen. Nichts kann dein Herz von
so viel Wahrheit befreien.“
* ‘1?

So empfange ich, ohne mich dagegen wehren
zu können, alle Gefühle, die diese große Seele sich
einfallen läßt, mir einzuflößen. Was für Gefühle
sind es? Sie sind so lebendig, daß sie zuerst ver-
wirrt bleiben. Ich erkenne sie erst lange, nach-
dem ich sie erlitten habe. Dann erst sehe ich,
daß sie verschieden sind, im Augenblicke, da sie
sich widersprechen.
Zuerst ein unendliches Bedauern, ein nebel-
haftes, gewaltiges, heftiges Erinnern, das Leid der
Verbannung.
.... Ame aux songes obscurs,
Que le reel etouffe entre ses quatre murs.1 2)
Es gibt Himmel, die plötzlich im Herzensgründe
das Bild des schönen, verlorenen Heimatlandes
wieder aufleben lassen:

II
Diese Poesie sucht nur das Bekenntnis. Wäh-
rend Baudelaire dichtet, denkt er nur daran, seine
schweren Gedanken zu bekennen, sie zu übertragen,
sie den anderen wie eine geheime, unerträgliche
Last mitaufzubürden. Dieser Zwang, diese Ein-
schränkung aus Scharfsinn, die Mäßigung der Dich-
terlaune, wodurch er den Satz seiner Seele vor-
behält; und endlich die vielen Bilder, die die Er-
innerung wie Vorwürfe trüben, alles ist berechnet,
um die Gefühle eines Herzens auszudrücken, das
seine Einsamkeit nicht ertragen kann.
Aber es sind keine „Ergüsse“; es ist keine
schwatzhafte Aufrichtigkeit. Sie ist vervielfacht,
streng, lächelnd. Jedes Gedicht ist der zarte, fest-
gestaltete Körper eines einzigen Gefühls. Die
Verse benutzen es als Stütze, wie eine Bekleidung,
die es leben ließe. Sie regen es zu seiner Existenz
an, zu .dieser einzigen Existenz, die es hatte an-
nehmen können. Und so wie es tatsächlich lebt,
verlassen sie es. *)
So erweckt der Dichter die ganze wunderbare
Welt seiner Leidenschaften; alle sind sie da. Sie
haben verschiedene Gesichte; und vielleicht passen
einige nicht recht zusammen. Aber zusammen
schauen sie mich an. Ich erkenne sie alle. — Ueber
allen liegt eine beherrschte Ironie wie ein Licht.
Baudelaire kannte die Fähigkeit hellzusehen, die
Fähigkeit „eines Herzens, das nicht alles gelten
läßt, w*as es empfindet, das nicht ohne Hinterge-
danken zu denken versteht.“ So wachsam ist seine
Aufrichtigkeit, daß sie alles selbst bis zu dem sie
störenden Fassungsvermögen übersetzt.
Es ist ein Innehalten, ein Zögern der Seele, ein
Blick voller Bescheidenheit. Der Dichter beklagt
ein wenig seine Leichtgläubigkeit, er zweifelt sein
Gefühl ein wenig an. Er lächelt.
Und dennoch kommt er dazu nicht durch eine
trockene Neugierde seiner selbst; auch nicht durch
den Wunsch einer unparteiischen, vorurteilslosen
1) Siehe Semper eadem und Recueiilement.

Analysis. Er beschreibt sich nur, um Mitwisser
zu haben. Er gibt sich aus, damit wir uns ihm
geben. Er erlaubt uns nicht, ihm u n ähnlich zu
sein. Seine Leidenschaften sind so echt, sie hal-
ten so fest an seinem Herzen, daß sie das unsere
gewinnen, daß wir diese Leidenschaften in uns
selbst erkennen.
So viele Wünsche, so viel Gewissensbisse, die
ich in mir barg. Warum habe ich sie mir einge-
standen, da ich sie ja nicht zu beruhigen verstand?
Und plötzlich, meine Bescheidenheit streifend und
meine Scheinheiligkeit verjagend, kommt ein Vers
so rein, so nackt, so unangebracht, daß er mich
berührt wie eine Beleidigung.Es ist die von
Herzen kommende Wahrheit. Es ist eine gewisse,
gewaltsame, schreckliche Erlösung. Es ist ein so
strenges Eingeständnis, daß es anklagt und ver-
wundet: ich werde es mit Verzweiflung in mei-
nen geheimen Augenblicken zugeben müssen:
— Voilä que j’ai touche l’automne des idSes.. .*)
— J’ai plus de Souvenirs que si j’avais mille
ans...3)
— Bientöt nous plongerons dans les froides
tenebres:
Adieu, vive clarte de nos etös trop courts!...4 5)
Und dieser mit den Gewissensbissen der gan-
zen Welt belastete Vers:
Le printemps adorable a perdu son odeur!B)
So vollendete, so abgemessene Verse, daß man
zögert, ihnen ganze Bedeutung beizumessen; eine

1) „Le propre de la „Conflexion“, dit Päguy . . .
est de montrer de preference les pieces invi
sibles," et de dire surtout ce qu’il faudrait taire.“
(Victor-Marie, Conte Hugo, p. 14)
2) „L’Ennemi“, p. 101
3) „Spleen“, p. 199
4) „Chant d’Automne“, p. 172
5) „Le Qoüt du Neant“, p. 205

Tu rappelles ces jours blancs, tiedes et voilds^
Qui font se fondre en pleurs les coeurs
ensorcelös.
Fortsetzung folg!

1. „Sur le Tasse en prison,“ p. 236 und „L’Irrfipa-
rable“, p. 168
Pouvons nous Stouffer le vieux, le long Remords»
Qui vit, s’agite et se torbille
Et se nourrit de nous comme le ’vers des morts,
comme du chene la chenille?
Pouvons nous etouffer l’implacable Remords?
2) „Ciel brouillS, p. 160

Empfohlene Bücher
Die Schriftleitung behält sich Besprechung der hier
genannten Bücher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhalten hier nicht erwähnte
Bücher zurück, falls Rückporto beigefügt wurde.
Paul Zech
Schollenbruch / Gedichte
Waldpastelle / Gedichte
Berlin-Wilmersdorf / A. R. Meyer Verlag
Kandinsky
Ueber das Geistige der Kunst / Insbesondere in
der Malerei / Mit acht Tafeln und zehn Original-
holzschnitten / dritte Auflage
München 1912 / R. Piper & Co. Verlag
Der Blaue Reiter / Jahrbuch
Herausgegeben von Kandinsky und Franz Marc
Mit zahlreichen Illustrationen !
München / R. Piper & Co. Verlag

Else Lasker-Schüler
Meine Wunder / Gedichte
Karlsruhe / Deutscher Verlag

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