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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 150/151
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Müller, Günther: Gedichte
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Apollinaire, Guillaume: Pariser Brief
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Notizen / Empfohlene Bücher
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0281

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Gedichte
Am Abend
Morgen habe ich dich vielleicht verloren.
Unverändert würden die Sönuenschatteiv laufen.
Ich kann meine Liebe zu dir nicht festhalten,
und von dir allein kommt mir Wohltun.
Ich will niemanden gehören.
Ich kann nicht mehr denken ohne dich.
Ich möchte, dein Nahsein trüge mich wieder in
deine Wärme.
Deine liebe Stimme, dein Lächeln, dein braun-
strähniges Haar.
Wünsche ich dich immer bei mir?
Auf dem Sofa
Nach durstig verpressendem Erfühlen
sinke ich wie müde hin an dir.
Nur noch die trinkende Hand zwischen den
Schenkeln.
Dann dein Madonuenkopfneigen.
Deine Lippen kommen durch das Schweigen
und zittern im streifenden Kuß vor Scham und
Gier
und kühlen.
Günther Mürr

Pariser Brief
Von Guillaume Apollinaire
Februar 1913
Unter den zahlreichen Büchern, die jetzt er-
scheinen, findet man nur selten Romane. Ich nenne
Ihnen mit desto größerer Freude den Roman
„ T e n d r e s C a n a i 11 e s “ von Andre S o 1 -
m o n. Auf dem linken Ufer, zwischen dem quar-
tier ’atein und der faubourg St. Germain, zwischen
der Seine und dem Odeon gibt es einige malerische
Straßen, die auf den Kreuzweg von Buci auslaufen.
Es gibt wohl eine Bucistraße, aber keinen Kreuz-
weg von Buci. Trotzdem man nennt ihn so, und
sagt mit einer Abkürzung die Buci; das ist das
malerische Viertel, das hauptsächlich Kunstschüler,
einige Literaten, zweifelhafte Polen und Mädchen
bevölkern, die Andre Solmon zu beschreiben ver-
sucht hat; der Versuch ist ihm merkwürdig gut
geglückt. Die durch äußerste Empfindsamkeit
hervorgezauberte malerische Lage "wird Fantasie
voller Wahrheit. Es ist die Definition der Kunst,
die „Tendres Canaillcs“ hervorbringt. Es ist ein
lebendes, ein eindrucksvolles Buch, das ein Dichter
geschrieben hat.
Ich schäme mich ein wenig von dem bedeutenden
kleinen Buch zu sprechen, das Henri Martin
unter dem Titel l’Ere du Drama hat er-
scheinen lassen, weil er in diesem Essai, der die
lebende moderne Kunst berührt, mich zu den sie-
ben Schriftstellern gezählt wissen will, die, wie er
meint, die wertvollsten Anfänge enthalten. Die
heftigste und kraftvollste dieser Bewegung der
Wissenschaft und der Kunst, der Dramatismus in
einem Wort, drückt unser Zeitalter aus, in dem
Universum und Individuum einander entsprechen,
ein ewiger und bewundernswerter Konflikt.
Der Dramatismus ist nicht a priori eine Theorie,
im dramatischen Gesang. Ich lasse Herrn Barzun
das Wort:
„Die Verwandlung des monodischen Gesangs
in polychromen Gesang, wo Stimmen, gegenwär-
tige Willenskräfte, wesentliche Gewalten die psy-
chologische Reihenfolge des ewigen Dramas des
Lebens und des Universums ausdrücken und offen-
baren.“

* Der Dramatismus ist nicht a priori eine Theorie,
sondern eine aus den aktuellen Strömungen in
Kunst, in Wissenschaft entstandene Definition. Da-
her verkünden mehrere Werke der Aelteren in
der ganzen Welt das Zeitalter des Dramas. Für
Frankreich sind die bedeutendsten dieser Werke
folgende: L a I) a m e ä 1 a F a u 1 p von Saint-
P o I R o u x, L c s Aubes von Ver h a er en,
P h o e s le J a r d i n i e r von Viele-Griffin.
L ’ A r b r e von Paul C I a u d e 1, L a N e f von
E. Bourges, L ’ o r et le s i 1 e n c e von
Gustave Kahn, Les M i r o i r s von P.
R o i n a r d , L e Promethee mal e u c h a i n e
von A u d r e Gide und Lilith von R c m y d e
Gourmont. Es sind keine Muster und Herr
Barzun sagt: „Wenn man sie erwähnt, übergeht
man sie“, und er fügt hinzu: „Unter den neusten
Verwirklichungen unserer Generation nenne Ich
zuerst ,.L cs C u v i s de B oeuf von Geor-
ges P o11 i, A u g ur a1e s et T a 1 i s m ans
von Scbastien Vorrel, Coiitcs des
T e n e b r e s von Alexandre M e r c e r e a u ,
D i e u d o n ne Tete von Pierre J a u d o n ,
P a y s a g e s i n t r o s p e c t i f s von T a u c r e d e
de V i s a n und 1’ E n c h a u t e u r p o u r r i -
s s a n t von Guillaume A p o 11 i n a i r e.“ Da-
zu kommt noch 1 ’ H y m n c des Forces von
Barzun selbst.
Diese Liste umfaßt die bewußtesten Künstler
des Dramatismus. Die Liste für Lyrik kann man
leicht vervollständigen, wenn man die „Antholo-
gie der neuen Dichter“ zu Rate zieht, die mit einem
Vorwort von Gustave Laugon, Professor an der
Sorbonne, soeben bei Figuiere erschienen ist. Man
findet Gedichte von Roger Allard, Guillaume Apol-
linaire, H. M. Barzun, Nicolas Bcauduin, Paul
Castiaux, Jean Clary, Emile Cottuet, F. Parmen-
tier, Henri Hertz, Guy Levand, Louis Mandin, F.
T. Marinetti, Alexandre Mercereau, Georges Pe-
rin, Jean Poyerice, AndreSolmon, Jean Thogorma,
Leo Varlet, Taucrede de Visan.
Les parole s devaut la vie, das neue
Werk Alexandre M e r c e r e a u s, ist gerade
das erste aus dem Dramatismus hervorgehende
Werk, das erscheint, seitdem die Dramatischen
ihrer Richtung bewußt sind. Ein tiefes, ein poly-
phones Werk, in dejn die tausend Stimmen des
Universums, die in Mercereau gewaltig klingen
wie in einer Riesenorgel und ihm helfen seine vor-
nehmen Gedanken auszudrücken. Das Leben, der
Dichter, die Braut, die schwangere Frau, die Mut-
ter, sich selbst, der Tod; in diesen Kapiteln findet
man die umfassendsten, neuesten und deutlichsten
Begriffe des Universums. Ein innerlicher Hesiod,
hat Mercereau die Arbeiten und die Tage der Be-
wußtheit besungen.
L’A r t d’inventer les P e r s o n n a g e s
von Georges Polti gehört auch dein zeitgenös-
sischen Dramatismus an. Polti ist sogar einer der
tätigen Handwerker des Dramatismus. Aus diesem
gelehrten und lyrischen Werk sieht man neue
Wissenschaften aufsteigen, die das zwanzigste
Jahrhundert studieren wird: Die Erblichkeit, die
Rythmen der Geschichte, die mathematischen Ge-
setze der erzählenden Zusammenstellung, der dich-
terischen, künstlerischen oder dramatischen Zu-
sammenstellung, vergleichende Literatur, verglei-
chende Biographie und vor allem und hauptsächlich
die neuste der Wissenschaften, die Wissenschaft
des menschlichen Herzens.
Unter den literarischen Kuriositäten muß man
besonders die neue, durchgesehen und verbesserte
Auflage der „Negresse Blonde“ erwähnen, deren
spaßhafte Gedichte vor ungefähr zwanzig Jahren
in der Bewegung des Symbolismus viel beachtet
wurden.
Diese schneidigen Verse gehören in der Mehr-

zahl zu jenem burlesken Symbolismus, dessen be-
rühmtestes Beispiel die „Deliquescences“ von
Adore Flouquette sind. „La Negresse Blonde“ ist
fast ebenso berühmt. Denn Fourest ist ein wirk-
licher Dichter, der sich selbst und die anderen
kunstvoll verspottet. Lustig spricht er von seinem
Begräbnis, bei dem sein Leichenwagen gezogen
sein wird von
Dix cochons peints en vert comme des perroquets
Lassen wir ihn in komischen und verzweifelten
Tönen die Getränke der großen Bars besingen:
Gin! Hydromel!’ Kümmel!’! Wisky!’!!
Zythogola!!!!!

Die Fortsetzung des Romans
„Die Schwermut des Genießers“
folgt in nächster Nummer


Notizen
Die Zeichnungen von Andre R o u v e y r e
sind aus dem gleichnamigen Werk von Louis Tho-
mas. Mit zahlreichen Abbildungen und einem Por-
trät des Künstlers von Henri Matisse. Verlag
Dorbon dine, Paris, 19 Boulevard Haussmann. 10
Francs
Der von Rudolf Leonhard besprochene Gedicht-
band: Das schwarze Revier (Paul Zech) ist im
Verlag A. R. Meyer, Berlin-Wilmersdorf erschie-
nen. — In der siebenundzwanzigsten Zeile muß es
heißen: Sich zu verkünden statt verkleiden


Empfohlene Bücher
Die Schriftleitung behält sich Besprechung der hi«c
genannten Bücher vor. Die Aufführung bedeutet bereits
eine Empfehlung. Verleger erhalte« hier nicht erwäbwte
Bücher zurück, f*Hs Rückporto beicefftgt wurde.
H c t J a a r der Dichters
Muzenalmanak voor 1913
Verlag C. M. B. Dixon en Co. / Apeldoorn
G u i 11 a u m e Apollinaire
La Rome des Borgia
Le Pape Alexandre VI entre sa maitresse et ses
deux fils Cesar et Lucrece / La fiancee de Jesus-
Christ / Orgies cardinaliccs / Poison et inceste /
Les bas-fonds de la Rome des Borgia
Paris / Bibliotheque des Carieux
Uhde
Henri Rousseau
Mit zahlreichen Abbildungen
Paris / Verlag Eugene Figuiere et Cie
Albert G 1 e i z e s / Jean Metzinger
Du Cubisme
Mit zahlreichen Abbildungen / Vierzehnte Aufl.
Paris / Verlag Eugene Figuiere et Cie

Verantwortlich für die Schriftleitung:
Herwarth Walden / Berlin W 9

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