Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913
Zitieren dieser Seite
Bitte zitieren Sie diese Seite, indem Sie folgende Adresse (URL)/folgende DOI benutzen:
https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0251
DOI Heft:
Nr. 144/145
DOI Artikel:Friedlaender, Salomo: Präsentismus: Rede des Erdkaisers an die Menschen
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0251
Umfang acht Seiten
Einzelbezug 40 Pfennig
DER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTI
----.-_--?--------
Redaktion und Verlag Herausgeber und Schriftleiter A U S S t C 1 1 U H g S 1* ä U ttl C
Berlin W9/ Potsdamer Straße 134 a HERWARTH WALDEN Berlin W / Königin Augustastr. 51
DRITTER JAHRGANG BERLIN JANUAR 1913 NUMMER 144/145
Inhalt" Dr. S. Friedlaender: Präsentismus / Gottfried Benn: Nocturno / Grete Tichauer: Flimmerndes Mädchen / Paul Zech: Reiterliedchen / Manfred
Adam: Gedichte / Robert Delaunay: Ueber das Licht / Hermann Wagner: Die rote Flamme / Alfred Richard Meyer: Märzlich den Kurfürstendamm her-
unter / Empfohlene Bücher / Franz Marc: Die Hirtin / Originalholzschnitt / R. Storm-Petersen: Drame obscure / Originalholzschnitt
Präsentismus
Rede des Erdkaisers an die Menschen
Mitgeteilt
von Dr. S. Friedlaender
So ihr nicht werdet wie die Götter —
Gestern wollte ich ans Fenster treten. Auf
ein Mal war ich weg, d. h.: ich war bei hellster
Besinnung. Aber ich war nirgends, sondern
„sah“ (?) einen mir fremden Herrn am Fenster,
dessen ich mich wie meiner selbst erinnerte: den
Dr. S. Friedlaender. Durch dessen Mund oder
vielmehr Schnabel (der Kerl sieht scheußlich
aus) hielt „ich“ (???) folgende Rede:
Rede des Erdkaisers:
Ich bin kein Mensch, ich bin Niemand und
.Jedermann, Indifferentist. Wenn Menschen mich
verstehen wollen, müssen sie sterben, vernichtet
sein wie ich, indifferenziert. Ich bin der, auf den
der Mensch wartet, ohne daß er es deutlich weiß.
Welcher Hohn! Diese Schwachköpfe und dum-
men Herzen, diese Mensch genannten Impotenzen,
bilden sich ein, sie würden mich erkennen, wenn
ich erschiene! O nein! Ich erscheine keinem Men-
schen, nur meinesgleichen. Ich bin die Indifferenz,
der Mensch ist mein Spielzeug, die Zeit ist das
Triebrad meiner Ewigkeit, meiner ewigen Gegen-
wart. Ich bin präsent, Menschen waren oder
werden: ich bin und spiele mit War und Werde.
Ich bin das lebendige Nichts, das mit dem gesam-
ten Augenschein bis ins Getast hinein differen-
zierend spielt. Ich habe alle Gegensätze in
mir annulliert und bin ihrer deshalb von außen
mächtig: denn alle bedürfen mich und können ohne
mich ihr Spiel nicht treiben. Mein inneres Nichts
ist die Synthese der Welt, worin ihre gesamte
Antithctik persönlich identifiziert ist. Ich hieß als
Mensch Friedrich Nietzsche und starb an den
Verdauungsbeschwerden, die mir die Menschen
verursachten. Der Berufnngstitel zur Entmen-
schung kam an einen Juden. Ich spürte lange die
Prädestiniertheit der Juden, deswegen indifferen-
zierte ich einen Juden. Diese innerlich uner-
meßlich aristokratischen, von außen aber zerrisse-
nen, bespienen, gekreuzigten, verbrannten Wesen
hatten damit die Prädisposition zu m i r erlangt.
Ich bin der Herrscher, während es Manche
scheinen, weil ich es bin. Ich herrsche, weil
ich der gemeinsame neutrale Schwerpunkt aller
verschiedenen Gewichte bin. Ich herrsche, weil
ich innerlichst persönlich die Zentralisation aller
möglichen Zweifel und Dogmen b i n. Ich b i n
diese Wahrheit der Indifferenz. Was der Mensch
gar nicht schätzt, das Nichts,das habe ich in
mir als das Nichts aller Unterschiede personifi-
ziert und inkarniert. Folglich herrsche ich un-
fehlbar und unbedingt, und man gehorcht mir,
gleichviel ob positiv, ob negativ. Ich kenne kein
Ja, kein Nein a u ß e r einander, das ich nicht
ebenso kraftvoll in mir verschmelzen könnte:
ich bin die Neutralität in eigener Person, durch
mich kommuniziert alle Welt, ich bin der soge-
nannte „Kuß der ganzen Welt“, Schließe an der
Wesenskette. Ich bin keine Vernunft, aber des-
halb alle: weil ich das indifferente Zentrum aller
Vernunft bin, das neutrum aller Logik, die logische
Null! Erst von der „Aufhebung“ aller Gegensätze
aus habe ich die Herrschaft über alle erlangt.
Als ich auch noch das Ich, diese Menschlichkeit,
aus meiner Person warf, erhielt ich es nur als
ihren Spielball zurück. Ich lache über die größ-
ten Menschen wie über kranke Affen und när-
rische Antizipationen meiner selbst; weil ich noch
über mich selbst lache ich bin daskaiser-
liehe Nichts: nicht die negative Null, son-
dern die neutrale mediale indifferente, die ich per-
sonifiziere und mit der ich wie als Stern im Chaos
aller Negationen und Positionen tanzen kann.
Kraft dieser radikalen Reinheit meiner Person
von allen differenten Bestimmungen herrsche ich
über alle differenten Bestimmungen. Meine In-
differenz ist als neutrale Quintessenz
aller verschiedenen Wesen das Kostbarste von
allem, ich verschwende an jedes aus dem uner-
schöpflichen Quell dieses Nil. Ich bin das Kind,
das seine Eltern erzeugt. Ich bin herz- und ge-
wissenlos: nicht wie ordinäre Menschen im nega-
tiven Verstände, sondern im neutralen Doppel-
verstände. Ich bin herz- und gewissenhaft: nicht
wie ordinäre Menschen positiv, sondern negativ-
positiv, also neutral. Ich führe die — per-
sönliche neutrale Größe in alle Welt
e i n. Ich beweise, daß nicht der „Wille frei“,
sondern daß der indifferente Wille, die neu-
trale „Seele“, die „vernichtete“ Person — all-
mächtig ist: alles menschliche Dynamit ist
Schnupftabak gegen ihres! Ich bin der
253
Einzelbezug 40 Pfennig
DER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTI
----.-_--?--------
Redaktion und Verlag Herausgeber und Schriftleiter A U S S t C 1 1 U H g S 1* ä U ttl C
Berlin W9/ Potsdamer Straße 134 a HERWARTH WALDEN Berlin W / Königin Augustastr. 51
DRITTER JAHRGANG BERLIN JANUAR 1913 NUMMER 144/145
Inhalt" Dr. S. Friedlaender: Präsentismus / Gottfried Benn: Nocturno / Grete Tichauer: Flimmerndes Mädchen / Paul Zech: Reiterliedchen / Manfred
Adam: Gedichte / Robert Delaunay: Ueber das Licht / Hermann Wagner: Die rote Flamme / Alfred Richard Meyer: Märzlich den Kurfürstendamm her-
unter / Empfohlene Bücher / Franz Marc: Die Hirtin / Originalholzschnitt / R. Storm-Petersen: Drame obscure / Originalholzschnitt
Präsentismus
Rede des Erdkaisers an die Menschen
Mitgeteilt
von Dr. S. Friedlaender
So ihr nicht werdet wie die Götter —
Gestern wollte ich ans Fenster treten. Auf
ein Mal war ich weg, d. h.: ich war bei hellster
Besinnung. Aber ich war nirgends, sondern
„sah“ (?) einen mir fremden Herrn am Fenster,
dessen ich mich wie meiner selbst erinnerte: den
Dr. S. Friedlaender. Durch dessen Mund oder
vielmehr Schnabel (der Kerl sieht scheußlich
aus) hielt „ich“ (???) folgende Rede:
Rede des Erdkaisers:
Ich bin kein Mensch, ich bin Niemand und
.Jedermann, Indifferentist. Wenn Menschen mich
verstehen wollen, müssen sie sterben, vernichtet
sein wie ich, indifferenziert. Ich bin der, auf den
der Mensch wartet, ohne daß er es deutlich weiß.
Welcher Hohn! Diese Schwachköpfe und dum-
men Herzen, diese Mensch genannten Impotenzen,
bilden sich ein, sie würden mich erkennen, wenn
ich erschiene! O nein! Ich erscheine keinem Men-
schen, nur meinesgleichen. Ich bin die Indifferenz,
der Mensch ist mein Spielzeug, die Zeit ist das
Triebrad meiner Ewigkeit, meiner ewigen Gegen-
wart. Ich bin präsent, Menschen waren oder
werden: ich bin und spiele mit War und Werde.
Ich bin das lebendige Nichts, das mit dem gesam-
ten Augenschein bis ins Getast hinein differen-
zierend spielt. Ich habe alle Gegensätze in
mir annulliert und bin ihrer deshalb von außen
mächtig: denn alle bedürfen mich und können ohne
mich ihr Spiel nicht treiben. Mein inneres Nichts
ist die Synthese der Welt, worin ihre gesamte
Antithctik persönlich identifiziert ist. Ich hieß als
Mensch Friedrich Nietzsche und starb an den
Verdauungsbeschwerden, die mir die Menschen
verursachten. Der Berufnngstitel zur Entmen-
schung kam an einen Juden. Ich spürte lange die
Prädestiniertheit der Juden, deswegen indifferen-
zierte ich einen Juden. Diese innerlich uner-
meßlich aristokratischen, von außen aber zerrisse-
nen, bespienen, gekreuzigten, verbrannten Wesen
hatten damit die Prädisposition zu m i r erlangt.
Ich bin der Herrscher, während es Manche
scheinen, weil ich es bin. Ich herrsche, weil
ich der gemeinsame neutrale Schwerpunkt aller
verschiedenen Gewichte bin. Ich herrsche, weil
ich innerlichst persönlich die Zentralisation aller
möglichen Zweifel und Dogmen b i n. Ich b i n
diese Wahrheit der Indifferenz. Was der Mensch
gar nicht schätzt, das Nichts,das habe ich in
mir als das Nichts aller Unterschiede personifi-
ziert und inkarniert. Folglich herrsche ich un-
fehlbar und unbedingt, und man gehorcht mir,
gleichviel ob positiv, ob negativ. Ich kenne kein
Ja, kein Nein a u ß e r einander, das ich nicht
ebenso kraftvoll in mir verschmelzen könnte:
ich bin die Neutralität in eigener Person, durch
mich kommuniziert alle Welt, ich bin der soge-
nannte „Kuß der ganzen Welt“, Schließe an der
Wesenskette. Ich bin keine Vernunft, aber des-
halb alle: weil ich das indifferente Zentrum aller
Vernunft bin, das neutrum aller Logik, die logische
Null! Erst von der „Aufhebung“ aller Gegensätze
aus habe ich die Herrschaft über alle erlangt.
Als ich auch noch das Ich, diese Menschlichkeit,
aus meiner Person warf, erhielt ich es nur als
ihren Spielball zurück. Ich lache über die größ-
ten Menschen wie über kranke Affen und när-
rische Antizipationen meiner selbst; weil ich noch
über mich selbst lache ich bin daskaiser-
liehe Nichts: nicht die negative Null, son-
dern die neutrale mediale indifferente, die ich per-
sonifiziere und mit der ich wie als Stern im Chaos
aller Negationen und Positionen tanzen kann.
Kraft dieser radikalen Reinheit meiner Person
von allen differenten Bestimmungen herrsche ich
über alle differenten Bestimmungen. Meine In-
differenz ist als neutrale Quintessenz
aller verschiedenen Wesen das Kostbarste von
allem, ich verschwende an jedes aus dem uner-
schöpflichen Quell dieses Nil. Ich bin das Kind,
das seine Eltern erzeugt. Ich bin herz- und ge-
wissenlos: nicht wie ordinäre Menschen im nega-
tiven Verstände, sondern im neutralen Doppel-
verstände. Ich bin herz- und gewissenhaft: nicht
wie ordinäre Menschen positiv, sondern negativ-
positiv, also neutral. Ich führe die — per-
sönliche neutrale Größe in alle Welt
e i n. Ich beweise, daß nicht der „Wille frei“,
sondern daß der indifferente Wille, die neu-
trale „Seele“, die „vernichtete“ Person — all-
mächtig ist: alles menschliche Dynamit ist
Schnupftabak gegen ihres! Ich bin der
253