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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 148/149
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Scher, Peter: Das Herz der Else Lasker-Schüler
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Wagner, Hermann: Die rote Flamme, [7]
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0272

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Das Publikum — als dankbarer Voyeur — be-
lohnt sie, indem es die Lust für die (vermeintliche)
Absicht nimmt. Es hat dabei den Profit, sich selbst
vom Vorwurf des Voyeurismus frei zu glauben.
So profitieren beide an der bewußten gegenseiti-
gen Täuschung.
Und es gibt Dichter, die sich entkleiden müssen,
weil sie das Herz hab^n, das keine Hülle leidet.
Denn es ist das Herz, aus dem. wie aus Diaman-
ten, das Licht nach außen brennt.
Strindberg und Hamsun mußten sich entkleiden.
Jede Törenbeichte, alle. Mysterien sind Entkleidun-
gen, die ein Wille erzwingt, der dem des Exhibi-
tionismus schroff entgegen geartet ist.
Der Voyeur .— das Publikum — fühlt hier ent-
weder den höheren Willen nicht und hält die Dich-
ter aus Ignoranz für Exhibitionisten oder es ahnt
gerade den höheren — also seinen Instinkten ent-
gegen gearteten — Willen und, rächt sich für die
Zumutung eines Anblicks höherer Art durch den
gleichen Vorwurf.
Das Herz der Else Lasker-Schüler ist aus Hül-
len herausgesprungen, die zu halten ihren Händen
nicht gegeben war — wenn sie es gleich gewollt
hätten.
Das Herz der Else Lasker-Schüler spricht:
„Ich sage zu G o 11 D u sie duzen
sich m i t i h m.“
Ja, Schriftsteller, die das Herz haben, sich zu
entkleiden (und weiter nichts) duzen sich mit Ihm
und der Voyeur preist ihren Glauben und läßt sie
leben.
Aber Dichter, die sich entkleiden müssen, weil
sie Du zu Ihm sagen dürfen, straft der Voyeur als
Exhibitionisten. Denn es ist peinlich, ein Herz zu
sehen, das sich nicht aus Lust am Vorgang ent-
kleidet — sondern weil es m u ß.
Peter Scher
Else Lasker-Schüler: Mein Herz / Ein Liebesroman mit
Bildern und wirklich lebenden Menschen / Verlag Hein-
rich F. S- Bachmair / München und Berlin

Die rote Flamme
Von Hermann Wagner
Schluß
Bis sich sein Paroxismus' gelegt hatte und er
endlich die Kraft fand, sich 'zu sammeln.
Er ging dann wieder gemäßigter, und von sei-
nem Feuer haftete'äußerlich nichts' als ein schwer-
mütig 'glücklicher Schleier von Versunkenheit um
seine Augen.
Als cs zwei Uhr schlag, war er schon pünkt-
lich in.' der Kanzlei.
Sogar zwei Minuten früher als Herr Joachim,
der ihm -auf dem Fuße folgte.
Herr Joachim benahm sich höchst sonderbar.
Er hatte für seinen Freund nur kalte, fast
feindselige Blicke und fand den ganzen Nachmittag
für ihn nicht ein freundliches Wort.
Herr 'wccbald bemerkte es nicht. Er be-
merkte es wirklich nicht.
Er schrieb mit einer gelassenen inneren Heiter-
keit unbeirrt sein Pensum.
Als cs vier Uhr vorbei war und nötig wurde,
daß mm: Licht machte, kam ihm eine Idee.
Er holte sich ein Kursbuch und sah nach, in
welcher Gegend der Zug, den sie benützt haben
mußte, jetzt fuhr.
Es war die Strecke zwischen zwei Dörfern,
die er sehr gut kannte, die, au langgestreckten
Wiesen vorbei, durch einen großen Buchen- und
Birkenwald führte.
Er malte sich aus, wie sie diese Strecke ent-
lang fuhr, und was sie empfand, während ihre
Blicke an den vorbei hastenden winterlichen Bäu-
men hafteten.

Er sah die schlanken und dünnen Birken, wie
ihre silberweißen Leiber in der Sonne glitzerten,
wie die dunklen, unendlich zarten Aestchen sich
von dem reinen Blau des Himmels scharf ab-
hoben, er sah sie melancholisch nicken und unter
den rauhen Küssen der Luft schauernd erzittern.
Die schwarzen Buchen sah er vorüber ziehen,
in ihrer düsteren Mächtigkeit, ihre Aeste quollen
schon drohend und trotzig dem Himmel entgegen,
sie waren voller Kraft und Starrsinn, und es ge-
lang dem Winde nicht leicht, sie zu beugen.
Auf der weiten weißen Fläche der Felder be-
wegten müde und träge die großen schwarzen
Krähen ihre Flügel, sie ließen ihr trauriges und
verdrossenes Gekrächze hören und wirkten auf
dem schlafenden und totem Gefilde , wie schreck-
hafte Träume von Mißmut . . .
Allmählich wurde es düster.
Die sinkende Sonne übergoß den Wald mit
einem letzten feurigen Strahl, an den Stämmen
blitzte es goldig und purpurn auf, wie eine Melo-
die glitt es durch die Luft, wie ein leises Abend-
lied, dem die Bäume versunken lauschten, bis sie
schliefen.
Es war plötzlich sechs Uhr geworden.
Die Leute in der Kanzlei rückten die Stühle,
fuhren in ihre Kleider.
Herr Joachim hatte schon seinen Frack ange-
zogen und kramte unentschlossen in den Papieren
auf seinem Tische.
„Gehst du mit?“ fragte er schließlich, ohne den
Freund anzusehen.
Herr Theobald fuhr auf.
Schon sechs! Schon sechs!
„Ja,“ sagte er und atmete auf. „Ich komme
mit.“
Er zog sich hastig an.
Draußen schritten die Freunde eine Weile
stumm nebeneinander.
„Du hast mir etwas zu sagen?“ brach schließ-
lich Herr Theobald das Schweigen und seine
Stimme klang ungemein versöhnlich.
„Ja,“ sagte Herr Joachim und zögerte noch
immer.
Er fand nicht die rechten Worte.
„Es liegt mir fern, dich zu beleidigen,“ fuhr er
fort.
„Du kennst mich ... Ich habe es immer gut
mir dir gemeint . . .“
„Ich wreiß, ich weiß!“ ermunterte ihn Herr
Theobald.
„Aber du hast manchmal Marotten . . .“
„Nimm sie mir nicht übel,“ sagte einfach Herr
Theobald.
Innerlich lachte er und stellte fest, welche Kluft
ihn von seinem Freunde trennte.
Welche Kluft? Welche Kluft!
„Nein, nein . . . nichts nehme ich dir übel...“
sagte schon versöhnt Herr Joachim. „Aber, —
nicht wahr? — das von gestern kommt nicht mehr
vor? ... ich meine ... die da . . . das Weib
bringst du nicht mehr zu uns?“
„Sie kommt nicht mehr zu uns,“ sagte still
Herr Theobald. „Sie ist fort von hier . . . Heute
mittag . . . abgereist . . .“
„Die ist nicht abgereist,“ sagte leichthin Herr
Joachim, ohne auf diesen Umstand irgendeinen
Nachdruck zu legen. „Gib dich mit diesem Weibs-
stück nicht ab? Sei froh, daß du sie los bist!
Eine ganz gemeine, ganz gefährliche Frauensper-
son ist das! Heute nach dem Essen, als ich in die
Kanzlei ging, sah ich sie mit einem Burschen in
die ,Totenschänke4 einbiegen. Mit einem rohen
Kerl, einem Fleischer oder dergleichen .. .
Herr Theobald blieb stehen.
Es würgte in ihm.
Mühsam fand er die Sprache.

„Du lügst!“ sagte er heiser.
„Ich-“
„Du lügst!“ wiederholte er.
„Du lügst, du Schuft, du lügst!“ schluchzte er.
drehte sich um und ging davon.
Es war komisch, wie er, ohne es zu wollen«
zur Totenschänke gekommen war.
„Komisch! Komisch!“ sagte er vor sich hin.,
lachte und sah tränenden Auges zu der rotem
Flamme hinauf.
Nichts hielt ihn mehr.
Er öffnete die schwere Haustür, ging durch de»
Flur, klinkte die Türe auf, die in das Gastzimmern
führte.
Ein dünner Lichtstrahl fiel heraus.
Ein Weib trat an die Spalte.
„Was gibt’s?“ fragte das Weib.
„Ist Fräulein Hermine da?“ fragte Herr Theo-
bald.
Seine eigene Stimme flößte ihm Entsetzen eirk
„Hermine!“ schrie das Weib.
„Ja, — ich komme schon?“ rief eine Stimme
aus einem zweiten Zimmer.
Ihre Stimme! Ihre Stimme!
Herr Theobald rannte davon.
Er rannte wie besessen die „Sorge“ hinauf,
seine Angst hinter ihm her, er nahm spielend die
Stiegen in seinem Hause und brach in der Stube
zusammen.
* * *
Herr Joachim war durch den jähen Zornesaua-
bruch seines Freundes so erschrocken, daß er ga.c
nicht bemerkte wie Herr Theobald ihm davon lief.
Erst nachdem es ihm gelungen war, sich zu sam-
meln, dachte er daran, dem Freunde nachzueilen.
Aber es war schon zu spät.
Herr Theobald war verschwunden.
Herrn Joachim trieb eine geheime Angst, nacfc
ihm zu suchen.
Er rannte kopflos nach den verschiedenstem
Orten und fragte alle Passanten, ob sie den Ver-
lorenen nicht gesehen hätten.
Die Leute sahen im kopfschüttelnd nach, nie-
mand aber wußte Auskunft zu geben.
Erregt, atemlos und voll trüber Ahnungen
machte sich Herr Joachim endlich auf den Heim-
weg.
Als er die schweren Beine mühsam die Stiege
hinaufschleppte, sah er zu seinem Entsetzen, daß
die Tür weit offen stand.
Plötzlich schrie er auf —
Unmittelbar hinter der Türe, in der Stube, lag
ein dunkler Körper ausgestreckt auf dem Boden.
„Herr Jesus!“ flüsterte Herr Joachim und
schlich zitternd an dem dunklen Körper vorbei.
Die Stube war in das fahle Licht des Mondes
getaucht, das sich durch die Fenster tastend Bahn
brach. Herr Joachim mußte mehrere Streich-
hölzer anritzen, ehe eines in Brand blieb.
Mit dem Lichte beugte er sich über den Körper
hinab.
Es war Herr Theobald.
„Theobald!“ rief Herr Joachim und rüttelte den
Freund.
Er erlebte in diesem Augenblicke die größte
Freude seines Lebens. Das Blut schoß ihm wie
eine einzige große Welle in den Kopf.
Herr Theobald weinte . . .
Wie hatte er das übersehen können! Wit
hatte er das übersehen können!
„Er ist nicht tot!“ sagte er immer wieder vor
sich hin, und das klang wie Gesang.
Nein, Herr Theobald war nicht tot
Er lag ausgestreckt auf dem Boden, sein Ge-
sicht war der Erde zugekehrt, seine Finger hat-
ten sich krampfhaft in den dürftigen Teppich ein-
gegraben.

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