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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 138/139
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Wagner, Hermann: Die rote Flamme, [2]
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Ehrenstein, Albert: Antwort
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0228

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Kaum aber war sie auf den Füßen, überfiel sie
ein Weinkrampf.
Sie zog ihr Taschentuch und drückte es vor
das Gesicht.
Sofort färbte es sich rot mit ihrem Blute.
Herr Theobald wußte sich keinen anderen Rat,
als sie mit in seine Wohnung zu nehmen.
„Kommen Sie!“ sagte er energischer, als es sonst
seine Gewohnheit war, und nahm sie bei der Hand.
Sie ging ohne Widerrede mit ihm.
Nachdem er sie durch das finstere Vorhaus und
die schmale hölzerne Stiege hinauf in die warme
Stube geführt hatte, goß er ihr warmes Wasser in
ein Becken und gab ihr Handtuch und Seife.
„So — hier waschen Sie sich,“ sagte er nicht
ohne Verlegenheit und fügte, nur um etwas zu sagen,
hinzu: „Haben Sie sich etwas getan?“
„Nein . . . danke ... es wird schon gehen!“
Das Mädchen sprach leise und verlegen.
Es hatte das blutbefleckte Tuch wieder einge-
steckt und vermied es, Herrn Theobald anzusehen.
Beim Waschen benahm es sich recht unge-
schickt.
Herr Theobald hätte der Fremden gern gehol-
fen, doch hinderte ihn seine wachsende Befangen-
heit, ihr näher zu treten.
Erst jetzt fühlte er, daß ein Weib bei
ihm war, ein Weib, das jung und nicht unschön
schien. Die langen, aufgelösten Haare, die in ihrer
Fülle die halbe Gestalt hinab Gelen, der bloße
Nacken und die nur mangelhaft bedeckte Brust
machten ihn verwirrt . . .
Endlich war sie fertig und trocknete sich ab.
Auf ihrem Gesicht zeigte sich eine nur unbe-
trächtliche Wunde, die sie sich bei ihrem Falle zu-
gezogen haben mochte.
„Ach bitte,“ sagte sie und ihre Stimme klang
schon viel gefaßter, „hätten Sie nicht ein Stück
Leinwand . . . zum Verbinden?“
Sie lächelte leicht und sah Herrn Theobald zum
ersten Male ins Gesicht.
„Ja — natürlich! . . antwortete er und wurde
noch verlegener.
Er stürzte in die .Schlafkammer, fand aber nicht
gleich, was er suchte, so daß er kurz entschlossen
aus einem seiner weißen Hemden einen Fetzen
herausriß.
„Ich danke vielmals,“ sagte das Mädchen, als
er ihr das Zeug gab, und lächelte ihn wieder an.
Sie hatte eine liebe Art, zu lächeln. Auch war
in ihrer Stimme wirkliche Dankbarkeit.
„Jetzt — wenn Sie noch irgend ein altes Tuch
hätten,“ sagte sic einfach, indem sie den Leim-
wandfetzen mit Wasser tränkte,' ihn auswand und
auf die Wunde legte.
Herr Theobald brachte eines seiner großen
roten Taschentücher, das gerade groß genug war,
um einmal um den Kopf gewunden zu werden.
„Wollen Sie mir helfen?“ bat wieder die
Fremde. „So . . .“
Sie wand das Tuch um den Kopf und Herr
Theobald : uGie es ihr binden.
Sie stand mit ihrem Gesichte ihm zugekehrt.
Er wagte 1- ■ rm die Augen zu erheben. Ihre Bluse
war noch immer offen.
„Ach, nochmals vielen Dank!“
Sie atmete auf.
Und als wäre es die natürlichste Sache von der
Welt, ohne jede Scham, fing sie jetzt an, ihre Bluse
zuzuknöpfen.
Sie wandte sich dabei Herrn Theobald zu, der
rasch an das Fenster getreten war, und hörte nicht
auf sich zu entschuldigen.
„Sicherlich - ich bin Ihnen lästig gewesen,“
sagte sie mit ihrer weichen Stimme, sah ihn aber
mit jener selbstsicheren Ruhe an, die sich bewußt
ist, Eindruck zu machen.

„Nein — est ist nicht der Rede wert,“ erwi-
derte Herr Theobald und ärgerte sich, daß er rot
geworden war.
Zuletzt warf die Fremde ihren Kopf zurück,
packte mit den Händen die Flut ihrer Haare und
bat Herrn Theobald um einen Kamm.
Und indem sie sich auf einen Stuhl niederließ
und mit wenigen Handgriffen ihre Frisur in Ord-
nung brachte, fragte sie:
„Sie wohnen allein?“
„Nein, ein Freund, ein Kollege wohnt mit mir,“
antwortete Herr Theobald.
Er wußte aber gar nicht was er sagte, seine
Antwort war rein mechanisch. Jetzt, wenn sie fertig
sein wird, wird sie danken und wieder gehen,
dachte er. Ich werde sie nie mehr sehen. Und er
begriff nicht, warum ihn der Gedanke so traurig
machte. Aber sie dachte nicht daran, sich zu er-
heben.
Sie stütze vielmehr den Kopf auf ihren rechten
Arm und sagte ganz unvermittelt: „Und ich weiß
nicht, was ich anfangen soll . . .“
Sie sprach müde, ohne Verstellung.
„Man hat mich hinausgeworfen . . fuhr sie
langsam, ohne zu betonen, fort und richtet dabei
ihren Blick auf Herrn Theobald.
Als handle es sich um etwas völlig Belangloses
und Selbstverständliches, von dem zu reden, sich
kam lohnte, sagte sie es.
Ihr Blick ist ganz der der Mädchen auf der
Gasse, dachte Herr Theobald. Und doch nicht ganz
so. In seiner beißenden Ruhe und Kälte liegt noch
etwas, das anders ist — wie Müdigkeit, wie Er-
schöpfung sieht es aus. Was mag es sein?
Herr Theobald mußte an Menschen denken, die
mit ihrem Leben, als sei es ein Spielzeug, Fangball
spielen. Genau so kam ihm die Fremde vor.
„Ich tun?“ gab sie zurück, und es klang, als
verachte und höhnte sie sich selbst. „Was werde
ich tun?!“
Mit einer Gebärde scheuchte sie alle Gedan-
ken von sich. Sie sprang jäh auf, lachte und trat
an das Fenster.
„Sie kennen mich wohl gar nicht, Herr Theo-
bald?4 fragte sie.
Dieser war noch, mehr erschrocken als erstaunt.
„Ich . .? Nein? —■ Woher sollte ich iSe
kennen!“
Die Fremde lachte ihn voll an. Sie wurde mit
einem Male sehr lebhaft und tat ganz ungeniert.
„Sehen Sie, ich kenne Sie sehr gut! Tag für
Tag sind Sie bei uns vorüber gegangen. Mit jenem
dicken Herrn. Das ist doch Ihr Freund?“
Und auf Herrn Theobalds Bejahung:
„Ich weiß auch, wie Sie heißen, Sie und Ihr
Freund! . . . Gott, ja, hier erfährt man ja alles!
Ich bin fast ein halbes Jahr dort unten gewesen.
Und gerade heute — —“
Sie bach plötzlich ab und war ratlos.
„Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich anfangen
soll. Ich habe garnichts, um mich umzutun, kein
Geld, keine Wäsche, keine Kleider. Sie glauben
es nicht: nicht einmal das da gehört mir!“
Sie wies auf ihre luftigen niedrigen Schuhe, die
für den Ballsaal gearbeitet waren, und auf ihren
dünnen Rock. Hut hatte sie auch keinen.
...Muß man Ihnen Ihre Sachen nicht wieder her-
ausgeben?“
„Ich habe nichts, was mir gehört,“ sagte sie
und war ganz gleichgiltig. „So geht es uns wenn
wir älter werden. Wir verdienen nur wenig und
werden den Wirten unbequem ... Da liegt man
schnell einmal draußen . . . Ja, als ich jung war!“
Herr Theobald verschlang sie mit den Augen.
„Sie sind doch noch jung, Fräulein.“ sagte er.
Da stellte sie sich vor ihn hin und drehte sich
auf ihren Absätzen langsam herum.

„Betrachten Sie mich, Herr Theobald! Neun-
undzwanzig Jahre bin ich alt! Finden Sie, daß ich
noch jung ausschau?“
Sie bot sich, ihm mit ihren Augen rückhaltlos
an. Herr Theobald mußte sich mit Gewalt zu-
sammennehmen. Er zitterte. Warum fiel ihm
nicht ein Scherz ein, etwas Harmloses? Wenn er
es auch würgend und stotternd herausgebracht
hätte.
„Also wirklich, Sie halben mich niem|als ge-
sehen? Als ich am Fenster stand und Ihnen sogar
winkte? — Jawohl, Zeichen habe ich Ihnen ge-
macht! . . . Aber Sie — Sie lieben das wohl
nicht?“
„Nein,“ sagte kurz Herr Theobald und es klang
rauher als es seine Absicht war.
Fortsetzung folgt in nächster Nummer

Antwort
Kurt Hiller nannte mich am 31. Oktober 1912
öffentlich, vor dem Publikum, im literarischen
Kabarett „Gnu“ ungefähr: einen dahergelaufenen
Oesterreicher, einen armen Schlucker, der kotige,
zum Himmel stinkende Feuilletons schreibe, statt
mit alten Hosen zu hausieren.
Es fiel mir nicht bei, Beleidigungen sol-
cher Art in polemischer Form zu beantwor-
ten. Es ist in derlei Fällen schwer, an der
Existenz von Indianernamen vorüberzugehen. Da-
raufhin sammelten vierzehn Leute ihre Namen.
Und sagten zierlich: „Shoking! Man entrüste sich’“
Vielen dieser Subskribenten dürfte der mich betref-
fende Passus der Rede Hillers — somit die gefühls-
mäßige Berechtigung meiner Aeußerungen unbe-
kannt sein.
Alle unterschrieben in dem kamerad-
schaftlichen Glauben, ich wäre Bürger genug
gewesen, in diversen Sätzen auf menschliche Bezie-
hungen Hillers anzuspielen. Dies war und ist nicht
der Fall. Mein Entwertungssystem galt nicht mir
unbekannten, nicht mir ewig gleichg.iltigen, sondern
literarischen Angelegenheiten.
Auf jene Unterschriftsteller, die nun ihre gegen
mich gerichteten Sätze nicht zurückziehen, fallen
automatisch die häßlichen, schlecht geformten und
gar nicht dokumentierten Beleidigungen „Unan
ständigkeit“, „nichtswürdig“ zurück.

Albert Ehrenstel i
Dies die Antwort auf folgende „Erklärung“:
Schärfe und Unanständigkeit sind zweierlei.
Nichtswürdig und nichts wert war, was an soge-
nannter Polemik Herr Ehrenstein gegen Kurt Hiller
erscheinen ließ — unter dem Titel . Anmerkungen“
in einer Berliner West-Wochenschrift.
Dieses Blatt, indem es derlei brachte gegen je-
manden/ der ihm lange und häufig seine (wertvolle)
Mitarbeit geschenkt hatte, ... cs hat sich deklas-
siert und erledigt.
Wir wollen, daß man unseren Widerwillen teile
gegen so häßliche, schlecht geformte und gar nicht
dokumentierte Beleidigungen.
Der Schriftsteller Kurt Hiller, dessen Tapferkeit,
dessen enthusiastische Geistigkeit unseres Schutzes
nicht bedarf —, möge wissen, daß wir kamerad-
schaftlich auf seiner Seite stehen.
Ernst Blaß, Dr. Franz Blei und Arthur Drey.
Ferdinand Hardekopf. Wilhelm Herzog. Hoexter.
Herbert Ihering. H. E. Jacob. Koffka. Dr. med.
et phil. Arthur Kronfeld. Alfred Lichtenstein (WIL

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