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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 138/139
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Apollinaire, Guillaume: Realité, peinture pure
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Wagner, Hermann: Die rote Flamme, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0224

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ligenz Harmonie zn schaffen, hervorgegangen
Farbenmaße, besitzen.
„Die Harmonie ist Empfindungsvermögen, durch
den Bildner geordnet, der sich bemühen muß, das
Höchste an realistischem Ausdruck zu geben, das,
was man den Vorwurf (le suet) nennen kann: Das
„Suget“ ist das harmonische Verhältnis und die-
ses Verhältnis ist zusammengesetzt aus verschie-
denen simultanen Gliedern in einer Aktion. Das
„Suget“ ist ewig im Kunstwerk und muß dem Ein-
geweihten in seiner ganzen Ordnung, /in seiner
ganzen Wissenschaft erscheinen.
„Ohne das „Suget“ keine Möglichkeit: Das be-
deutet deshalb noch kein literarisches, folglich
anekdotisches Suget: das malerische Sujet ist
durchaus plastisch und entspringt der Vision, es
muß der reine Ausdruck der menschlichen Natur
sein.
„Der ewige Vorwurf ist in der Natur selbst ge-
funden; die Inspiration und klare Vision, welche
dem Weisen eigen ist, der die schönsten und kräf-
tigsten Grenzen entdeckt.
*
Solche Worte bedürfen keiner Kommentare.
Sie wollen unmittelbar begriffen werden und er-
regen die „Simultaneite“, die allein die Schöp-
fung ist. Der Rest bleibt Aufzeichnung, Betrach-
tung, Studium. Die Simultaneite ist das Leben
selbst und wie die Aufeinanderfolge von Elemen-
ten in einem Werke auch immer ist, sie führt zu
verhängnisvollem Ende, zum Tode, während der
Schöpfer nur die Ewigkeit kennt. Der Künstler
hat sich zu lange im Vereinigen unfruchtbarer Ele-
mente der Kunst, also um den Tod abgemüht, und
es ist Zeit, daß er zur Fruchtbarkeit, zur Dreieinig-
keit, zur Simultaneite gelangt.
Und Delaunay hat das nicht nur in Worten er-
reicht. sondern auch in seinen Werken — reine
Malerei, Realität.
Guillaume Apollinaire

Die rote Flamme
Von Hermann Wagner
Fortsetzung
Aber die beiden, sie und ihr Mann, hatten die Ju-
gend für sich, diesen Zauber, vor dem alles, was
sonst noch Geltung im Leben hat, verblaßt.
Diese Jugend, gegen die er ohnmächtig war
und die er, wenn er sie an der Seite des Geliebten
gleichsam einherschweben sah, wie eine Verhöh-
nung seines brennenden Verlangens empfand!
Es war sein größter Schmerz, die Geliebte an
der Seite ihres Mannes zu sehen.
Ja, noch mehr: er hatte bei diesem Anblick das
Gefühl des zynisch Getretenen und Betrogenen.
Ihm war, als geschehe Ihm ein Unrecht, J als
schleppe man etwas fort, das ihm gehöre, als ent-
reiße man ihm etwas gewaltsam.
In ihm wühlten bohrend Haß und Eifersucht und
stachelten sein siedendes Gehirn zu Plänen auf,
denen glücklicherweise seine lahme Energie am
Ende nicht mehr gewachsen war.
Dermaßen hatte sich in diesem sonst in allen
Dingen so konventionell denkenden Menschen das
Gefühl für das, was recht und unrecht war, ver-
schoben, daß er das Verhältnis dieser beiden als
etwas Schmutziges und Unnatürliches ansah, als
einen Ehebruch, den man an ihm verübte, dazu als
einen, zu dem man die Geliebte mit Gewalt trieb.

Denn das war sein heimlicher Trost, der ihn
aufrecht erhielt: sie war nicht glücklich.
Aus ihren Zügen glaubte er es zu lesen, aus der
verträumten Melancholie, mit der ihre klugen klei-
nen Augen in die Welt hineinsahen, aus der etwas
müden Art ihres Ganges, überhaupt aus ihrem gan-
zen Wesen, das ihm gedrückt, resigniert, voller
Enttäuschung schien.
Das Paar war kinderlos.
Einmal hatte er sie beobachtet, wie sie ein
fremdes fünfjähriges Mädchen liebkoste, und da
hatte er aus dem mächtigen Strom von Licht und
Freude, der jäh aus ihren Augen hervorbrach, er-
kannt, daß etwas in ihr niedergehalten und erstickt
ward.
Auch er liebte die Kinder, war gegen sie voll
hingebungsvoller Zärtlichkeit und wußte, da er
keine besaß, sein Leben leer und kalt.
Er sah so ihrer beider Sehnsucht vereint: nach
dem Leben, das aus ihnen hervorquellen müßte,
das ihrem Dasein erst den Zweck und das Ziel gab.
Herr Theobald faßte seit jenem Tage zu dem
fünfjährigen Kinde, das er von ihr geliebt wußte,
eine tiefe Zuneigung.
Er wußte es einzurichten, daß die dürftigen El-
tern es des öfteren seiner Obhut anvertrauten, und
seinem naiven Gemüte war es ein leichtes, sich
seinen Liebling geneigt zu machen.
Die Kleine hieß Lina.
Er nahm sie mit auf seinen Spaziergängen nach
dem Walde, brachte sie mit in seine Wohnung, gab
ihr die Katze zum Spielen oder er erzählte ihr die
seltsamsten Märchen, ja er konnte in ihrer Gegen-
wart seinen Freund Joachim völlig vergessen, der
ihm kopfschüttelnd zusah und außerstande war.
sich den Freund zu enträtseln.
Einmal, als er mit Lina gespielt hatte, und die
Kleine müde geworden, plötzlich ihren Kopf auf
seinen Schoß fallen ließ und einschlief, glaubte er
mit Bestimmtheit auf dem ruhenden Gesicht des
Kindes die Züge der Geliebten zu erkennen.
Da kam es mit aller Macht über ihn.
Er küßte innig die widerspenstigen Locken, die
wirr und goldig über die weiße Stirn herabhingen,
legte den kleinen, federleichten Körper behutsam
auf sein Lager und kniete vor ihm nieder.
Die Tränen liefen ihm unaufhaltsam und er
fühlte sich so leicht und frei wie noch nie in sei-
nem Leben . . .
Auf diese Weise verrannen fast zwei Jahre, in
deren Verlaufe Herrn Theobalds Leidenschaft all-
mählich stiller und kühler wurde, seine Liebe aber
wuchs und sich vertiefte.
Er konnte jetzt die Geliebte sehen, ohne von dem
Verlangen ergriffen zu werden, sie zu besitzen,
selbst der Anblick ihres Mannes verursachte ihm
nicht mehr die früheren Qualen.
Es gelang ihm zuweilen sogar, auf ihn mit einer
Art von Ueberlegenheit herabzusehen, der sich in
seiner gütigen Seele nach und nach ein sonder-
bares Mitleid verband.
Wußte denn dieser armselige Mensch, was er
besaß? Was konnte ihm sein Weib sein?
Ein Körper, wie es deren nach Millionen gab.
Ja, das war es: dieser hatte nur den Körper
besessen. Das, was er — Theobald — an ihr
liebte, hatte noch niemand erbrochen: die Seele.
In diese Vorstellung spann Herr Theobald sich
ein und wurde immer ruhiger und heiterer.
Und als er eines Tages erfuhr, daß sein Neben-
buhler versetzt worden war, daß das Paar für
immer die Stadt verlassen würde, da durchbebte
es ihn nur mit einer stillen und zitternden Weh-
mut: als stände er am Grabe eines längst verstor-
benen teueren Freundes und es beschlichen ihn die
Erinnerungen an die Zeiten, da dieser lebend an
seiner Seite gewandelt hatte.

Eines aber konnte Herr Theobald sich nicht
versagen. Am Tage der Abreise ging er zum
Bahnhofe.
Er fand die beiden sehr echauffiert damit be-
schäftigt, in wilder Hast ihr Gepäck aufzugeben.
Sie sahen nichts und hörten nichts.
Kaum waren sie in den Wagen gestiegen, pfiff
schon der Zug.
Im letzten Augenblicke aber sah Herr Theo-
bald, wie die Frau an das Fenster trat.
Sein Herz flammte lichterloh.
Einmal! schrie es in ihm auf, einmal im Leben!
Hastig trat er näher, zog sein Taschentuch und
winkte erregt, während der Zug sich langsam in
Bewegung setzte.
Er winkte ihr Abschied und lächelte ihr zärtlich
zu — das erste Zeichen, das er ihr gab, seit er sie
liebte. Und er glaubte, zu träumen, als er in ihr
Gesicht sah: er fand es gerötet, aber gar nicht
verwundert. Und als der Zug schon in eine Kurve
einbog, sah er gerade noch, wie sie ihm zweimal
zunickte, sah er gerade noch ihr Lächeln.
Ihr Lächeln . . .
Die Jahre waren seitdem vergangen und Herr
Theobald hatte nie mehr daran gedacht, nach,
einem neuen Weibe auszuschauen.
Ihm war jetzt nicht mehr, als sei seine Liebe
ein bloßer Traum gewesen.
In ihm setzte sich vielmehr die Vorstellung fest
und ging ihm in Fleisch und Blut über, daß er sie,
seine Königin, wirklich besessen hatte, daß sie ihm
gestorben war und er ihr nun nachtrauere.
Und das Merkwürdige geschah, daß ihr Bild
in ihm von Tag zu Tag lebendiger wurde.
Seine Leidenschaft war seit der Stunde, da ihm
ihr Lächeln wie eine Verheißung zugeflogen war,
wieder heftiger und brennender geworden und
verlor sich mit der Zeit in einem tiefen und beißen-
den Schmerze, der sich namentlich des Nachts zu
unnennbaren Qualen auswuchs.
Gepeinigt von der Oede und der Verlassenheit,
die um ihn und in ihm waren, entriß er sich oft den
zerwühlten Kissen und verließ bloß die Schlaf-
kammer, um sich in der Stube verzweifelt in eine
Ecke zu drücken.
Er ertrug nicht den Anblick seines Freundes
Joachim, der ruhig und gleichmäßig Atem holte
und fest schlief, in ihm war überhaupt ein sonder-
barer und greller Haß gegen sich, gegen die ganze
Welt.
Weinen hätte er mögen, aufschreien, sich zer-
fleischen, aber er konnte es nicht, brachte nur wür-
gende Laute hervor, und seine Augen blieben ,giä-<
sern und trocken. Es blieb ihm zuletzt immer hur
der eine Gedanke, der eine Trost: der Tod —
Es überlief ihn bei diesem Gedanken ein Frö-
steln und ein trockenes und höhnisches Lächeln er-
schien auf seinen schmalen, blutleeren Lippen, ein
Lächeln, das verächtlich, schadenfroh war, in dem
sich seine Seele widerspiegelte, die voller Haß
gegen den zögernden und zaudernden Körper war«
Was wollte er noch hier? Lebte er denn?
Er trat, wie um sich zu überzeugen, vor den
Spiegel, und dieser warf ihm, in dem bleichen
Mondlichte, das sich durch die Fenster brach, sein
Bild gespenstisch und unheimlich entgegen.
Er prallte dann entsetzt vor seiner eigenen Ge-
stalt wie vor der eines Fremden und Toten zu-
rück und zu seinem Schmerze gesellten sich Furcht
und Grauen. Er magerte in jener Zeit furchtbar
ab, und das Alter grub seinem Gesichte tiefe
Falten.
Sein Leiden aber härtete ihn auch, stählte
seine Seele, und es entstand in jenen Tagen um
seinen Mund der bittere Zug, der seinem Antlize
bei aller Güte und Weichheit, etwas Asketisch-
Starres, etwas Hartes gab.

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