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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 132
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Walden, Herwarth: Zeitgeschichten
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0183

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Bilder mit Dingen / Zur Beruhigung der berliner Kunstkritik / I: Die Künstler der Lebensfreude /
Originalzeichnung aus dem Anzeigenteil der geführten Tageszeitungen


Zeitgeschichten
Kandinsky
Die Presse beginnt, sich über die Kandinsky-
Ausstellung dieser Zeitschrift zu äußern. Herr
Fritz Stahl wird es offenbar erst durch diese Zeilen
erfahren, daß die Ausstellung vom Sturm und
nicht vom „Atelierhaus Königin-Augusta-Straße
50“ veranstaltet ist. Herr Stahl verträgt den Sturm
eben nicht. Und im Sturm kann man leicht sogar
die Hausnummern verwechseln. Ich habe nichts
dagegen, daß Herr Stahl die Veranstalterin der Aus-
stellung nicht nennt. Er darf aber dann niemand
nennen und nicht unter Angabe einer falschen
Hausnummer ein harmloses Atelierhaus für „Bilder
ohne Dinge“ verantwortlich machen. Man kann
nicht wissen, ob so ein Atelierhaus sich nicht einmal
rächt und dem über dem Kopf zusammenstürzt, der
die Bilder ohne Dinge und die Dinge ohne Bilder
sieht. Es ist natürlich unmöglich, mit Herrn Stahl
über Kunst zu diskutieren. Es ist auch zwecklos,
mit einem unkünstlerischen Menschen über Kunst
theoretisch zu verhandeln. Aber einem stärkeren
Intellekt selbst, als Herrn Stahl, müßte die
überragende Bedeutung von Kandinsky auf-
gehen. Herr Stahl bestätigt ihm eine „sehr starke
aber einseitige Begabung“. Eine sehr starke Be-
gabung ist stets einseitig. Wenn Herr Stahl aber
auf den Bildern wenigstens die sehr starke Be-
gabung zu sehen glaubt, so sollte er doch lieber
an sich irre werden, als in dem Künstler einen
Irren oder Irrenden zu suchen. Diese Kunstkritiker
sehen von Bild zu Bild statt vom Erlebnis zum
Kunstwerk. Ist ihnen die Gestaltungsformel eines
Erlebnisses annähernd bekannt, so loben sie die
„Form“. Schafft der Künstler sich selbst die so-
genannte Form, fehlt also die Vergleichsmöglich-
keit, so wird der Mangel an Form gerügt. Als ob
Form etwas Feststehendes ist. Als ob man den
■ewigen Wechsel künstlerischer Erscheinungen an
ieste Körper binden kann. Sind denn Linien oder
Flächen mehr als Vorstellungen. Wie schafft man

sonst selbst „Dinge“ neu, deren Form angeblich
gegeben ist.
Herr R. Breuer ist noch immer so kunstlos wie
er war. Und er hat einen Nachteil gegen Herrn
Stahl, er ist sogar physisch blind. Sonst wäre es
unmöglich, daß jemand diese Sätze über Kandinsky
schreibt: „Die Analyse des Kandinsky ist sehr
rasch getan. Er hilft uns zu ihr nachdrücklich
durch die Vorführung seiner früheren Bilder, von
denen er selber sagt, daß sie die Vorläufer der
jetzigen Arbeit seien. Nun: Diese früheren Bilder
sind höchst harmlos und nur in einem absolut: näm-
lich im Mangel an Talent.“ Man sollte wirklich
glauben, daß das Talent selbst ein Blinder sieht.
Solche Torheiten kann nur ein Blindwütiger
schreiben. So sehr die Herren Stahl und Breuer
auch sich über die Befähigung von Kandinsky ge-
genseitig an die Köpfe stoßen,. so sind sie sich doch
„in einem“ einig: Beide empfehlen dem Künstler,
Weber zu werden. Herr Stahl empfiehlt ihm Stoff-
fabriken und Teppichmanufakturen als „Dessina-
teur“. Herr Breuer verweist ihn auf das Hand-
werk selbst. Wenn die beiden Herren sich ent-
schließen könnten, ihrem Beruf als Schuster und
Schneider nachzugehen, so würden sie allerdings
hierin noch nicht einmal das leisten, was Kandinsky
als Dessinateur und Weber könnte. Unschöpfe-
rische und phantasielose Menschen müssen deshalb
Kunstkritiker an Tageszeitungen werden. Dazu
sind sie auserwählt, aber nicht berufen. „Es gibt
keine absolute Malerei, solange das Auge noch nicht
blind geworden gegen die Wirklichkeit und noch
nicht müde, die Natur immer tiefer und reiner zu
sehen.“ So lange gibt es überhaupt keine Malerei
Herr Breuer, und keine Kunst, sondern nur abso-
luten Blödsinn. Blöde Augen glauben immer die
Wirklichkeit und die Natur zu sehen. Eine schöne
Wirklichkeit und eine schöne .Natur, die dieser
Herr R. Breuer sieht
Auch der feinsinnige Professor Oskar Bie hat
sich geäußert: „Schließlich, wer sich durchaus für
Kandinsky interessiert, pilgere nach Königin-
Augusta-Straße 51“. Auch Herrn Professor Bie Z2

hat das Schild des Sturms vor dem jetzt berühmten
„Hause“ Königin-Augusta-Straße 51 zu sehr in die
Augen gestochen. Es ist ihm aber zu unserem
Glück nicht in die Augen gefallen, so daß er wenig-
stens die Hausnummer entziffern konnte. Da Herr
Professor Bie sich also „durchaus“ für Kandinsky
interessierte, ging er, nein, er pilgerte dorthin:
„Dort ist er ganz zuerst romantisch, dann bunt,
dann stickereimatt, dann bloß noch unwirkliche
Farbengebilde.“ Man freut sich, daß der Professor
des Herrn Bie wenigstens wirklich ist, vielleicht
romantisch oder bunt. Auch über die „Entwicklung“
des Künstlers ist Herr Professor Bie noch nicht mit
sich einig: „Vielleicht war die Entwicklung auch
anders, daß erst die Stickerei, und dann das Bunte
kommt.“ Ein Problem. Vielleicht war es auch so.
daß die Stickerei bunt und das Bunte gestickt
wurde. Aber man braucht sich darüber nicht die
Augen zu verderben. Denn: „Es ist Privatsache
geblieben, Ausgeburt eines zu intellektuellen Men-
schen.“ Herr Professor Bie hingegen ist leider keine
Privatsache geblieben, trotzdem er sich auf die
Ausgeburt eines zu intellektuellen Menschen ver-
stehen müßte. Nur ist er nicht intellektuell genug.
Denn: „Wenn einer schreibt, kann er es immer so
drehen, als ob er . recht hat.“ Wenn einer so
schreibt wie Herr Professor Bie, kann man es nie-
mals drehen: er hat immer recht. Und sein Recht
soll sein Recht bleiben. Er soll fürder recht untl
schlecht durchs Leben pilgern und weiter drehn und
deuteln.
Die Wirkung der Klassiker
Herr Rektor Bock hat eine Broschüre geschrie-
ben. Man hatte ihn zu einer schweren Gefängnis-
strafe verurteilt, weil er sich an seinen Schüler-
innen unsittlich vergangen haben sollte. In dieser
Broschüre „schildert der Rektor den nachträglichen
Umfall seiner Hauptbelastungszeuginnen“. Die
Sittlichkeit oder Unsittlichkeit des Herrn Bock in-
teressiert hier nicht. Wohl aber seine Schilderung,
wie er das angebliche Geständnis der angeblich
meineidigen Zeuginnen hervorrief. Nämlich mit

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