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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 140/141
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Kunowski, Lothar: Kunst sühnt den Tod der Natur
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Epstein, Elisabeth: Einige Gedanken über Bildentstehung
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0234

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hauptes gleicht, daß er dessen Würde symbolisiert,
daß er das Postament seiner Arbeitsleistung zu
sein scheint, uns von einer Generation auf die
andere vererbt zum Mitglied einer starken und
dauerhaften Familie wird, der hat mehr im Sinne
der Kunst getan und der Natur zarteres Ver-
ständnis entgegengebracht als die, weiche ihren
Tapezier Kunstsinn heucheln lassen neben dem
Leben, aber nicht für es. Wollen wir $em Arbei-
ter und Bürger helfen, so müssen die Menschen
feiner Bildung als Vorbild vorausgehen, denn die
Kunst für die Vielen beginnt mit der Kunst der
Wenigen, die nicht nur für siel», sondern für viele
zu schaffen vermögen.
Die gemeine und überaus lächerliche Art, in
der wir unsere Kirchhöfe herrichten, könnte dem
zynischen Witzbold reichliche und obendrein be-
rechtigte Gelegenheit zu Späßen und mancherlei
Lustigkeit geben. Niemand würde einem Leichen-
begängnis folgen wollen, wenn man den Toten
unter wiederholtem Absingen von Gassenhauern
und unablässigen Prügeln auf einer Biertonne zu
Grabe trüge. Daran aber, daß man den Verstor-
benen einen Gemeinplatz, eine Trivialität von Mar-
mor aufs Grab setzt und von Grabstein zu Grab-
stein ein sichtbares Geplapper abgedroschener
Formeln und Formen ertönen läßt, nimmt niemand
Anstoß, weil der moderne Individualismus es für
bedenklicher hält, daß der Name eines beliebigen
Toten vergessen werde, als daß Auge und Geist
der Lebenden systematisch gewöhnt wird, den
Tod sich als eine Art Interpunktion hinter dem
Lebensdrama vorzustellen, als ein Kreuz, Punkt
oder Fragezeichen, mit denen jeder gestempelt und
als ein für allemal abgetane Sache bezeichnet
wird. Wenn ihr den edlen Marmor vorn Berge
schlagt, um seihe Schönheit durch gleichgültige
Behandlung zu vernichten, statt durch sie eine
erhabene Totenklage anzustimmen, die für alle
Toten auf den Gräbern derer ertönen möge, welche
für viele und nicht nur für sich selbst starben,
dann wird die Natur des Marmors ihre humo-
ristische Seite offenbaren, er dient dann als
Vogelscheuche, alle ernsten und tiefen Gedanken
von den Gräbern zu verscheuchen wie Spatzen
vorn Spargelfeld. Wenn unsere Kunst nicht aus-
reichend. tausend Toten tausend Denkmäler zu
setzen, so setzt ihnen insgesamt ein einziges.
Kunst soll rings um uns eine geistige Atmo-
sphäre schaffen, die unsere Seele bewegt zu jeder
Tagesstunde, die uns beständig mit Leben umgibt
und selbst den Tod als einen Abschnitt des Lebens
erscheinen läßt und die Toten als geistig mit uns
verbunden. Kunst sollte uns umgeben mit einem
Reich aller Seelen, die sie durch Schönheit aus-
spricht. Aber unsere Kunst ist nur ein Schmücken
dessen, was wir getötet haben, sie ist ein Kranz,
geworfen auf die Leichen der edelsten Bäume,
Metalle und Steine. Schaut euch um in euren
Städten und Wohnungen und ihr werdet Kunst
tätig sehen, die Häuser mit Schmuck zu über-
laden, die Wände und Teppiche mit Blumen, die
Gefäße mit Blattwerk und Schnörkeln, die Stühle
mit Schnitzereien, die Dächer mit Männern und
Männchen. Diese Kunst tötet die Toten vollends,
sie entzieht restlos unserem Auge die Kräfte,
welche in Mauern, Bögen, Fenstern, Pfeilern tätig
sind, sie nimmt uns jede Unterscheidungsgabe, so-
daß es gleichgültig ist, ob Gold, Silber, Glas, Eisen
oder Papiermasse sich in unseren Diensten ab-
mühen, sie überzieht alle Formen mit ihren Guir-
landen. sie jubelt mit entsetzlicher Grimasse von
allen Flächen der Decke. Oefen und Vorhänge,
sie grinst mit tausend Fältchen in ihrem alten Ge-
sicht aus jedem Winkel, jeder Ecke: eine lustige,
schäkernde Greisin, die ihr Leben als Blumenver-
käuferin fristet. In solcher Gestalt begegnet sie

■$*ns überall, denn auch die Festlichkeit, Konzert,
Theater, Lyrik und Vortrag sind allmählich zu
Schmuckgegenständen unserer Tage geworden,
auch sie sind Kränze auf den Leichen trüber Stun-
den, engherziger Vereinsamung.
Aber die echte Kunst weiß, daß ein Wesen erst
lebendig sein muß, ehe man es beginnt zu
schmücken, daß nur am Hals des blühenden Wei-
bes ein Geschmeide Sinn und Bedeutung gewinnt.
Sie weiß mit leiser Biegung zu erreichen, was die
lügenhafte Kunst durch Ueberfülle nicht erreicht,
mit wenigen Farben mehr Glück als mit vielen.
Unmerklich hilft sie dem rohen Gerüst praktischer
Schränke, Tische und Stühle durch verschiedene
Krümmung der Hölzer, hier die markige Kraft der
Eiche, dort die Einfachheit der Fichte und hier die
Eigenheit des Nußbaums auszudrücken und ehe sie
eine eiserne Brücke mit Statuen versieht oder mit
Trophäen, fast sie eine Legion von Stäben, Stan-
gen und Stäbchen in einem Bogen von märchen-
hafter Grazie, Kühnheit, Lebendigkeit zusammen,
das Bild einer wunderbaren Gemeinschaft un-
zähliger Kräfte in unzähligen Einzelwesen, ein
Vorbild, wie menschliche Gemeinschaft, lebendiges
Zusammenwirken sein muß, will sie ihr Jahr
schmücken mit der Pracht besonderer Festtage.

Einige Gedanken über
Bildentstehung
Von E. Epstein
Die meisten Zuschauer: Bewunderer oder
Fremde —- wissen nicht, wie ein Bild entsteht, wie
ein Künstler dazu kommt, gerade so und gerade
dies zu malen, gerade da und nicht dort den oder
den Pinselstrich zu setzen. Der Betrachtende
nimmt das ganze Bild in sein Auge, akzeptiert oder
refüsiert es, bleibt eine Weile dabei oder geht
weiter. Ist ein Bild von einem wahren Künstler
gemalt, so ist kein Pinselstrich ohne ihn entstan-
den, ohne seinen Geist, ohne sein Bewußtsein oder
vielmehr sein Halbbewußtsein. Streng gehabten
gesammelt als Ganzes, da Joszulassen, dort aufzu-
halten ging seine Hand über die Fläche noch und
noch einmal der Vision entgegen, die er als un-
klares Bild in seinem Geiste hielt und die zum
Geschehnis auf der Leinwand wurde. — Die Lein-
wand, das Bild ist ein Geschehnis, ist eine Reali-
sation des Kampfes der Mittel des Künstlers mit
seiner Idee. Das was in diesem Kampfe gesiegt
hat, das stärkere, wird zum Bild und die unbesieg-
ten, die fehlenden, zeichnen die Eigenschaften prä-
ziser, charakterisieren als Realisationsgrenzen
ebenfalls. Seine Natur, sein Talent macht die
Wahl unbewußt. Er empfängt und auf der Lein-
wand wird es, geschieht es. Im Geiste ahnend
ohne Worte findend und in vagen Umrissen
behaltend, realisiert er sein kaum Gedanke
gewordenes Empfinden auf der Leinw'and
zum Kunstgedanken, zum Malergedanken, mit
einem Wort: zum Bilde. — Ein Maler, der
eine vorher gedachte, vorherbewußte Idee voll-
bringt, denkt nicht auf der Leinwand, sondern in
seinem Kopf — und sein Werk wird nie ein Wah-
res. Es dürfte ungeschaffen bleiben oder es bleibt
Illustration seines Geistes, kein Neuwert. Neu-
werte, unersetzliche, in keinem Gedanken mögliche,
sollen Bilder sein. Dies waren sie, dies sind sie
vielleicht auch manchmal heute. Der Drang nach
Abstraktion wird immer größer; dies echte Be-
dürfnis dringt immer und immer weiter und Ab-

straktion wird erste Forderung. Wie viele aber
können abstrahieren ohne allen Sinn zu verlieren,
wie viele können ihren Boden lassen, nm auf siche-
reren zu gehen — in Abstraktion? So entstehen
Werke, die abstrakt aussehen, die nichts sind und
von nichts sagen, wenn sie auch formell in moder-
nen Gesetzen gehen.
Das Bedürfnis, nur das zur Gestaltung zu brin-
gen, was das Wesentliche ist, das festzuhalten, um
dessentwillen ein Werk begonnen werden kann,
und nur dies ohne formellen anderen Inhalt, ohne
Dinge, ohne Objekte, sondern von allem, das
Wesen, die Art und die Relation wiederzugeben,
im geschlossenen Bildraume, in sich abgewogen,
ausfallend — dies Bedürfnis ist das Charakteristi-
kum der heutigen Malerei, soweit sie sich abstrakt
äußert.
Statt dieses oder jenes Dinges, statt allen Zu-
falls oder Momentes der Impressionen kommen
Werke ohne dies oder jenes, ohne Zufall, ohne
konkrete Beleuchtung, es kommen Malereien,
die gemalt werden wollen, an und für sich des
selbsteigenen Zweckes wegen. — Wahr ist der
Weg, wo der Blick des Schaffenden über dem Ob-
jekte steht und dies umwandelnd das Wesens-
leben wiedergibt oder noch weiter geht und aus
allem Empfangenen die Objekte wegschiebend die
Relation der Formen, der Formengesetze, der
Farben an und für sich gibt. Der abstrakte Geist,
der sie zur Entstehung ruft, hat nur in sich die
Kontrolle für das Resultat, weder in unmittelbarer
Naturähnlichkeit, noch in Ideenähnlichkeit, noch in
Stimmungsgehalt kann er die Kontrolle der Bild-
realität schöpfen. Stark umfassend, realisierend
muß der malerische Gedanke sich auf der Lein-
wand gestalten, aus sich heraus. Die Schwierig-
keiten sind klar. Darum sind heute so viele
Scheinwerke und Scheinwerte geschaffen. Ein
Künstler, der sich der kubistischen oder anderer
ähnlicher Formen bedient, ist einer, der seine
Gedanken denkt, mehr oder weniger zurechtlegt
und dann niedermalt. Jede Zeit hat ihre Merk-
male, ihre „Meister“, aber das „man“ kubistisch
malt, ist gerade ein Widerspruch, der größte Wi-
derspruch mit der wahren Abstraktion, mit der, die
auf dem Bilde langsam und schwer zur Entstehung
kommt, aus innerem Bedürfnis des Malergedan-
kens heraus. Es sind da vielleicht noch so we-
nige gefundene Mittel, so wenige Arten der
Wiedergabe, um den allgemeinen persön-
lichen Natureindrnck — denn schließlich kommt
es doch daraus und darauf zurück — auszu-
drücken, daß natürlich die meisten zu den plausibel
gefundenen Formeln greifen. Noch eine kurze Zeit
und wir haben kubistische Akademien, haben sie
vielleicht schon jetzt. Ist das nicht der größte
Spott über den wesentlichen Gehalt der kubisti-
schen Malerei, die doch auf persönlich empfunde-
nen zu allgemeinen Gesetzen erst werdenden Neu-
schaffungen beruht, auf dem Gebiete, wo die Im-
pressionen nicht mehr genügen, wo man durch ge-
schlossene kompositionelle Raumvorstellungen ab-
gewogene Bilder schaffen will?
Wenn ein Künstler wie ein schwangeres Werb
ist, hat er von Natur, vom Leben empfangen, und
muß sein Bild gebären, von dem er die Puls-
schläge hört, die Bewegungen spürt, dessen Ant-
litz er aber noch nicht kennt, es in großer Liebe
mit seinen Zügen und denen des geliebten Gottes
ähnlich ahnt, es aber erst nach Entstehen völlig
wahrnehmen kann. Wie wäre es, wenn ein Werb,
statt zu gebären, Rechnungen zusammenstellen
würde, die das genaue Resultat ihrer Empfängnis,
ihrer Liebe und ihrer und des Vaters Körperzüge
enthalten würde? — Die Natur wäre doch stärker.
Warum ist das in der Kunst oft, und wie oft so?
— Tote Kinder werden geboren, nicht geboren, sie

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