Wille geschehe, dein Wille geschehe!..,..
Niicht dein., nein, nicht mein, sondern dein Wil-
le geschehe!
Ja, ja., ich verzichte. Ich begehre die Komtesse
Riom nicht.
Gott, ich danke dir! Ich liebe sie beide. Meine
Liebe umarmt beide, ohne Begehrlichkeit.
Ich segne sie beide mit meiner Liebe, meinen
Freund Frangart und die Komtesse Riom.
Es gibt keine Komtesse Riom mehr. letzt nicht
mehr.
Ich segne die Baronin Frangart und ihren Ge-
mahl, meinen Freund, .f. .
Paris, 2. Mai 1884
Ob das nicht ein Frevel ist! —
Seit einer Woche habe ich Urlaub. Und heute
habe ich zum siebenten Male eine Kokotte ins
Hotel eingeladen. Jedesmal eine andere.
Keine habe ich berührt. Jeder habe ich hundert
Franken geschenkt und zu jeder habe ich gesagt:
„Du mußt mit mir beten, für das Wohl einer Dame!
Eine hat mich gefragt: „Ist das eine neue Per-
versität?“ Ich habe sie gleich forgebeten.
Die anderen haben geweint und gebetet, innig
gebetet. Und von einer, ,der letzten, weiß ich, daß
sie so innig gebetet hat wie noch nie ein Mensch
— nach der heiligen Magdalena, welche die Füße
des Herrn mit ihren Haaren trocknen durfte.
Der alte Choiseul ist wütend, weil ich soviel
Geld gebraucht habe. „Vous etes ton, rentrez de
suite!“ Auf offener Karte.
Ich werde heimfahren; aber verrückt bin ich
nicht.
Clermont-Ferrand, 14. Mai 1884
Choiseul hat mir geschrieben, daß die Baronin
Frangart in anderen Umständen ist, und daß er
mit den Ärzten für ihr Leben fürchte. Gott erhalte
sie! -—- Sie stationieren in Wien: es muß auch
hart für Baron Frangart sein, der sich so gefreut
hatte, mit ihr zu repräsentieren.
Wie merkwürdig! Ich liebe sein Kind wie
mein eigenes, noch bevor es geboren ist.
Oh, ich habe es ja frühzeitig gesegnet, das
Kind und auch seine Eltern). Damals . . .
Mein Segen war von allem Anfang an bei
diesem Kind. Die Baronin sieht mir ähnlich; viel-
leicht wird mir auch das Kind ähnlich sehen. Das
wäre kein Wunder,, aber eine große Gnade.
Clermont-Ferrand, 23. Mai 1884
Ich benehme mich so komisch im Regiment. Die
Nacht von gestern auf heute haben wir gespielt. Mir
war alles ganz gleich, ich dachte an weit weg, wo
alles in großer Ruhe liegt, unter schwarzen,
schweigenden Zypressen. Ich dachte überhaupt an
nichts, ich sehnte mich nach etwas . . . Aber ich
soll fürchterliche Summen gewonnen haben. Vi-
sitenkarten mit höchsten Zahlen haben sich bei mit
angehäuft. Ein Kamerad, der kleine Tourgot, —
er mußte doch ein Jude sein —- hat vielmehr, als
er überhaupt in seinem Leben hätte aufbringen
können, an mich verspielt. Per Visitenkarte
natürlich.
Heute mittag, als ich noch zu Bett lag, kam der
alte Choiseul angefahren, drang mit Gepolter in
mein Schlafzimmer und schrie mich an: „Her mit
der Karte des Herrn Tourgot!“ „Aber lieber Herr
Choiseul sagte ich verstimmt, .„suchen Sie Sich
doch die Karte, Ich weiß nichts mehr.“ Er suchte
in meinem Visittäschchen und außerdem in allen
Taschen der Uniform, deren einzelne Stücke an den
Möbeln herumhingen, aber er fand nichts. Da kam
er denn zu mir ans Bett, zog meine Hand unter
der Decke hervor und drückte sie so fest, daß ich
vollends aufwachte. „Sie sind doch ein guter Kerl,
Mieville!“ Aber ich hatte wirklich keine Ahnung,
wohin ich die Karten getan haben mochte.
Im Regiment spottet man über mich.
116
Clermont-Ferrand, 10. Juni 1884
Ich bin manchmal so müd. Alle Dinge um mich
her werden zu Schatten, und ich verstehe nicht,
warum die andern sie so wichtig nehmen. Vor
allem verstehe ich nicht, warum ich selbst sie ein-
mal so wichtig genommen habe.
Das alles ist doch nur aufgebauscht. Neulich
fing ich mitten im Rapport an zu lachen, und da
ich mich garnicht beherrschen konnte, endigte es
in einer bösen Blamage.
Ich lachte nicht über das Militär. Umlängst,
als ich in einem Laden Schuhe aussuchte, erging
es mir genau so: Ich mußte einfach gerade hinaus-
lachen über die allgemeine Wichtigkeit.
Clermont-Ferrand, 12. Juli 1884
Man hat mir heute nahegelegt, meinen Abschied
einzureichen. Ich ertrage es ruhig. Früher oder
später hätte ich den Dienst von selbst quittiert;
denn daß es so wie in der letzten Zeit mit meinen
täglichen Verspätungen, meinen Unaufmerksam-
samkeiten, meiner lächerlichen Güte gegen die
Mannschaft nicht weitergehen könne, hätte mir all“
mählich schon eingeleuchtet. Ich war| nui4* zu
geistesabwesend, um darüber nachzudenken.
Aber der eigentliche Grund, den man im Con-
seil gegen mich angeführt hat, daß ich seit einiger
Zeit in den Kirchen herumsäße wie ein altes Weib
und daß dazu nur die Adligen das traurige Privileg
hätten, — der ist nicht stichhaltig für einen Ab-
schied. (Übrigens haben sie vor kurzem in )Paris
auch einige Adlige unter dem gleichen Grund aus
der Armee hinausgeekelt. Als ob das Kirchengehen
jemals einem Soldaten geschadet hätte!) Es
scheint, daß der kleine Tourgot dahintersteckt;
seit jener Spielnacht oder vielmehr seit dem Mor-
gen darauf schämt er sich nicht wenig und haßt mich
deshalb nicht wenig.
Ich gehe. Es hätte ja so wie so keinen Sinn
mehr.
Alle Wege sind dunkel, welchen werde ich nun
gehen? '
Nizza, Oktober 1884
Oh verlorene Jugend! Oh Schrei der Sehn-
sucht! Klinge duflph jdie weiche, süße, südliche
Luft hinauf zur geliebten Sonne! Heilige Flamme,
steh mir bei!. . .
Nizza, Ende Oktober 1884
Dem Menschen bleibt an sich selber alles We-
sentliche dunkel, immerfort und solange, bis er tot
ist. Dann beten die Ueberiebenden: „Der Herr gebe
ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte
ihm!“
Durch das weite Dunkel des Daseins aber tönt
unaufhörlich der langgezogene grausige Schrei
aus aller Menschen Mund, der Schrei der Sehn-
sucht nach dem Lichte.
Und manche Menschen scheinen gleich einem
Wald, in dem sich dieser Schrei wie in einem
Echo fängt. Ich bin so ein Mensch. Ich leide
nicht mehr um mich, ich leide um das ganze
Dasein.
Nizza, Novemler 1884
Ich bete unaufhörlich, daß die Baronin Fran-
gart, über die Choiseul mir so betrübende Nach-
richten und Befürchtungen mitteilt, die Entbindung
überlebe und auch das Kind mit dem Leben davon-
komme.
Chamfort, 18. Dezember 1884
Gott sei Dank! Die Baronin und ihr kleiner
Sohn leben beide. Soeben bekam ich das Tele-
gramm von Choiseul.
Ich habe heute meinen Eintritt in den Jesu-
itenorden erbeten.
Chamfort. Weihnacht 1884
Mein letzter Wille
Heute erfolgt mein Eintritt in den Orden. In-
dem ich von der Welt draußen Abschied nehme,
verfüge ich letztwilldg wie folgt über meine welt-
lichen Dinge: Ein Drittel meines Vermögens gehö-
re dem Collegium Societatis Jesu in Chatmforjt
das zweite Drittel etwa von mir noch lebenden
Verwandten, und, wenn deren nicht zu finden sein
sollten, den Armen in der Umgebung des Schlosses
Riom, Departement Puy-de-Döme, Frankreich;
das letzte Drittel gehöre, mit Zinsgenuß vom heu-
tigen Tage ab, dem jüngstgeborenen Freiherrn von
Frartgart, Fritz Paul Joachim, auf (Frangart m
Südtirol. Ihn liebe ich, wie wenn er mein eigenes
Kind wäre. Ich segne ihn heute, wie ich ihn von
allem Anfang an gesegnet habe.
Gott sei mit ihm und seinen Eltern!
Anno Domini 1884, Weihnacht.
Paul Mieville,
Frater Bonaventura S. J.
Fortsetzung folgt
Aus einem Gelächter Zyklus
Von Grete Tichauer
Erika war ein Strich. Ihre Augen waren
klein und leer und ihr Mund abscheulich häßlich.
Ich habe es nie über mich bekommen können, sie
zu küssen, trotzdem sie mich so darum bat, im
Tiergarten zur Dämmerung auf einsamen Wegen;
zu Hause auf ihrem geblümten Sofa, wo sie mich
manchmal eingefangen hielt und vor mir kniete. Ich
wäre acht Tage krank gewesen, hätte ich ihren
Mund küssen sollen.
Als ich sie auf einem Gang durch die Straßen
kennen lernte, sagte ich zu ihr: „Erika, entschul-
dige, aber du bist pervers“. Da war sie unglück-
lich und wollte sich verteidigen.
Dann hatte ich sie drei Wochen in meiner
Macht. Ich muß da Vampyrdürste gehabt haben;
ich merkte, wie ich ihr das dünne bischen Blut, da®
sie von Natur hatte, abzapfte, oder aus lauter Spaß
das dünne Blut klecken zu hören. Und dabei war
sie mir immer eklig. Aber ich mußte erleben, wie
sie ganz blutlos aussah.
Als ich sie endlich so weit hatte, daß sie nur
noch durch meine Stütze existieren konnte, schenk-
te ich ihr einen Strauß von Leben. Bis sie sich
blähte. Herrgott, es gehörte nicht so furchtbar viel
dazu. Ihre Haut nahm nicht viel mehr Oberfläche
ein, als vier normale Wurstpellen. Sie war also
doch blos ein Strich.
Sie ist heute noch gebläht. Ihr Mund ist wohl
aber noch häßlicher geworden, als er früher war.
Denn die Falten die sie sich damals nach mir sehn-
te, möchte ich ihr nicht weg bringen.
Huch, ich habe sie stets gehaßt; aber ich habe
Jtn ihr erlebt, wie ein Mensch blutlos und schlap-
pig wird, und wie man ihn dann plötzlich aufblähen
kann. Wenn er dann nachher so aufgebläht da-
steht, sieht er so komisch aus, daß man an ihm
Lachen lernen kann.
Wirklich Lachen hab ich an ihr geerntet. Ich
lache noch heute, wenn ich an die aufgeblähte
Strich-Erika denke.
(Heut sagt sie freudestrahlend und aufge-
pustet: „Donnerwetter bin ich aber mal pervers
seit heut Morgen“.)
Niicht dein., nein, nicht mein, sondern dein Wil-
le geschehe!
Ja, ja., ich verzichte. Ich begehre die Komtesse
Riom nicht.
Gott, ich danke dir! Ich liebe sie beide. Meine
Liebe umarmt beide, ohne Begehrlichkeit.
Ich segne sie beide mit meiner Liebe, meinen
Freund Frangart und die Komtesse Riom.
Es gibt keine Komtesse Riom mehr. letzt nicht
mehr.
Ich segne die Baronin Frangart und ihren Ge-
mahl, meinen Freund, .f. .
Paris, 2. Mai 1884
Ob das nicht ein Frevel ist! —
Seit einer Woche habe ich Urlaub. Und heute
habe ich zum siebenten Male eine Kokotte ins
Hotel eingeladen. Jedesmal eine andere.
Keine habe ich berührt. Jeder habe ich hundert
Franken geschenkt und zu jeder habe ich gesagt:
„Du mußt mit mir beten, für das Wohl einer Dame!
Eine hat mich gefragt: „Ist das eine neue Per-
versität?“ Ich habe sie gleich forgebeten.
Die anderen haben geweint und gebetet, innig
gebetet. Und von einer, ,der letzten, weiß ich, daß
sie so innig gebetet hat wie noch nie ein Mensch
— nach der heiligen Magdalena, welche die Füße
des Herrn mit ihren Haaren trocknen durfte.
Der alte Choiseul ist wütend, weil ich soviel
Geld gebraucht habe. „Vous etes ton, rentrez de
suite!“ Auf offener Karte.
Ich werde heimfahren; aber verrückt bin ich
nicht.
Clermont-Ferrand, 14. Mai 1884
Choiseul hat mir geschrieben, daß die Baronin
Frangart in anderen Umständen ist, und daß er
mit den Ärzten für ihr Leben fürchte. Gott erhalte
sie! -—- Sie stationieren in Wien: es muß auch
hart für Baron Frangart sein, der sich so gefreut
hatte, mit ihr zu repräsentieren.
Wie merkwürdig! Ich liebe sein Kind wie
mein eigenes, noch bevor es geboren ist.
Oh, ich habe es ja frühzeitig gesegnet, das
Kind und auch seine Eltern). Damals . . .
Mein Segen war von allem Anfang an bei
diesem Kind. Die Baronin sieht mir ähnlich; viel-
leicht wird mir auch das Kind ähnlich sehen. Das
wäre kein Wunder,, aber eine große Gnade.
Clermont-Ferrand, 23. Mai 1884
Ich benehme mich so komisch im Regiment. Die
Nacht von gestern auf heute haben wir gespielt. Mir
war alles ganz gleich, ich dachte an weit weg, wo
alles in großer Ruhe liegt, unter schwarzen,
schweigenden Zypressen. Ich dachte überhaupt an
nichts, ich sehnte mich nach etwas . . . Aber ich
soll fürchterliche Summen gewonnen haben. Vi-
sitenkarten mit höchsten Zahlen haben sich bei mit
angehäuft. Ein Kamerad, der kleine Tourgot, —
er mußte doch ein Jude sein —- hat vielmehr, als
er überhaupt in seinem Leben hätte aufbringen
können, an mich verspielt. Per Visitenkarte
natürlich.
Heute mittag, als ich noch zu Bett lag, kam der
alte Choiseul angefahren, drang mit Gepolter in
mein Schlafzimmer und schrie mich an: „Her mit
der Karte des Herrn Tourgot!“ „Aber lieber Herr
Choiseul sagte ich verstimmt, .„suchen Sie Sich
doch die Karte, Ich weiß nichts mehr.“ Er suchte
in meinem Visittäschchen und außerdem in allen
Taschen der Uniform, deren einzelne Stücke an den
Möbeln herumhingen, aber er fand nichts. Da kam
er denn zu mir ans Bett, zog meine Hand unter
der Decke hervor und drückte sie so fest, daß ich
vollends aufwachte. „Sie sind doch ein guter Kerl,
Mieville!“ Aber ich hatte wirklich keine Ahnung,
wohin ich die Karten getan haben mochte.
Im Regiment spottet man über mich.
116
Clermont-Ferrand, 10. Juni 1884
Ich bin manchmal so müd. Alle Dinge um mich
her werden zu Schatten, und ich verstehe nicht,
warum die andern sie so wichtig nehmen. Vor
allem verstehe ich nicht, warum ich selbst sie ein-
mal so wichtig genommen habe.
Das alles ist doch nur aufgebauscht. Neulich
fing ich mitten im Rapport an zu lachen, und da
ich mich garnicht beherrschen konnte, endigte es
in einer bösen Blamage.
Ich lachte nicht über das Militär. Umlängst,
als ich in einem Laden Schuhe aussuchte, erging
es mir genau so: Ich mußte einfach gerade hinaus-
lachen über die allgemeine Wichtigkeit.
Clermont-Ferrand, 12. Juli 1884
Man hat mir heute nahegelegt, meinen Abschied
einzureichen. Ich ertrage es ruhig. Früher oder
später hätte ich den Dienst von selbst quittiert;
denn daß es so wie in der letzten Zeit mit meinen
täglichen Verspätungen, meinen Unaufmerksam-
samkeiten, meiner lächerlichen Güte gegen die
Mannschaft nicht weitergehen könne, hätte mir all“
mählich schon eingeleuchtet. Ich war| nui4* zu
geistesabwesend, um darüber nachzudenken.
Aber der eigentliche Grund, den man im Con-
seil gegen mich angeführt hat, daß ich seit einiger
Zeit in den Kirchen herumsäße wie ein altes Weib
und daß dazu nur die Adligen das traurige Privileg
hätten, — der ist nicht stichhaltig für einen Ab-
schied. (Übrigens haben sie vor kurzem in )Paris
auch einige Adlige unter dem gleichen Grund aus
der Armee hinausgeekelt. Als ob das Kirchengehen
jemals einem Soldaten geschadet hätte!) Es
scheint, daß der kleine Tourgot dahintersteckt;
seit jener Spielnacht oder vielmehr seit dem Mor-
gen darauf schämt er sich nicht wenig und haßt mich
deshalb nicht wenig.
Ich gehe. Es hätte ja so wie so keinen Sinn
mehr.
Alle Wege sind dunkel, welchen werde ich nun
gehen? '
Nizza, Oktober 1884
Oh verlorene Jugend! Oh Schrei der Sehn-
sucht! Klinge duflph jdie weiche, süße, südliche
Luft hinauf zur geliebten Sonne! Heilige Flamme,
steh mir bei!. . .
Nizza, Ende Oktober 1884
Dem Menschen bleibt an sich selber alles We-
sentliche dunkel, immerfort und solange, bis er tot
ist. Dann beten die Ueberiebenden: „Der Herr gebe
ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte
ihm!“
Durch das weite Dunkel des Daseins aber tönt
unaufhörlich der langgezogene grausige Schrei
aus aller Menschen Mund, der Schrei der Sehn-
sucht nach dem Lichte.
Und manche Menschen scheinen gleich einem
Wald, in dem sich dieser Schrei wie in einem
Echo fängt. Ich bin so ein Mensch. Ich leide
nicht mehr um mich, ich leide um das ganze
Dasein.
Nizza, Novemler 1884
Ich bete unaufhörlich, daß die Baronin Fran-
gart, über die Choiseul mir so betrübende Nach-
richten und Befürchtungen mitteilt, die Entbindung
überlebe und auch das Kind mit dem Leben davon-
komme.
Chamfort, 18. Dezember 1884
Gott sei Dank! Die Baronin und ihr kleiner
Sohn leben beide. Soeben bekam ich das Tele-
gramm von Choiseul.
Ich habe heute meinen Eintritt in den Jesu-
itenorden erbeten.
Chamfort. Weihnacht 1884
Mein letzter Wille
Heute erfolgt mein Eintritt in den Orden. In-
dem ich von der Welt draußen Abschied nehme,
verfüge ich letztwilldg wie folgt über meine welt-
lichen Dinge: Ein Drittel meines Vermögens gehö-
re dem Collegium Societatis Jesu in Chatmforjt
das zweite Drittel etwa von mir noch lebenden
Verwandten, und, wenn deren nicht zu finden sein
sollten, den Armen in der Umgebung des Schlosses
Riom, Departement Puy-de-Döme, Frankreich;
das letzte Drittel gehöre, mit Zinsgenuß vom heu-
tigen Tage ab, dem jüngstgeborenen Freiherrn von
Frartgart, Fritz Paul Joachim, auf (Frangart m
Südtirol. Ihn liebe ich, wie wenn er mein eigenes
Kind wäre. Ich segne ihn heute, wie ich ihn von
allem Anfang an gesegnet habe.
Gott sei mit ihm und seinen Eltern!
Anno Domini 1884, Weihnacht.
Paul Mieville,
Frater Bonaventura S. J.
Fortsetzung folgt
Aus einem Gelächter Zyklus
Von Grete Tichauer
Erika war ein Strich. Ihre Augen waren
klein und leer und ihr Mund abscheulich häßlich.
Ich habe es nie über mich bekommen können, sie
zu küssen, trotzdem sie mich so darum bat, im
Tiergarten zur Dämmerung auf einsamen Wegen;
zu Hause auf ihrem geblümten Sofa, wo sie mich
manchmal eingefangen hielt und vor mir kniete. Ich
wäre acht Tage krank gewesen, hätte ich ihren
Mund küssen sollen.
Als ich sie auf einem Gang durch die Straßen
kennen lernte, sagte ich zu ihr: „Erika, entschul-
dige, aber du bist pervers“. Da war sie unglück-
lich und wollte sich verteidigen.
Dann hatte ich sie drei Wochen in meiner
Macht. Ich muß da Vampyrdürste gehabt haben;
ich merkte, wie ich ihr das dünne bischen Blut, da®
sie von Natur hatte, abzapfte, oder aus lauter Spaß
das dünne Blut klecken zu hören. Und dabei war
sie mir immer eklig. Aber ich mußte erleben, wie
sie ganz blutlos aussah.
Als ich sie endlich so weit hatte, daß sie nur
noch durch meine Stütze existieren konnte, schenk-
te ich ihr einen Strauß von Leben. Bis sie sich
blähte. Herrgott, es gehörte nicht so furchtbar viel
dazu. Ihre Haut nahm nicht viel mehr Oberfläche
ein, als vier normale Wurstpellen. Sie war also
doch blos ein Strich.
Sie ist heute noch gebläht. Ihr Mund ist wohl
aber noch häßlicher geworden, als er früher war.
Denn die Falten die sie sich damals nach mir sehn-
te, möchte ich ihr nicht weg bringen.
Huch, ich habe sie stets gehaßt; aber ich habe
Jtn ihr erlebt, wie ein Mensch blutlos und schlap-
pig wird, und wie man ihn dann plötzlich aufblähen
kann. Wenn er dann nachher so aufgebläht da-
steht, sieht er so komisch aus, daß man an ihm
Lachen lernen kann.
Wirklich Lachen hab ich an ihr geerntet. Ich
lache noch heute, wenn ich an die aufgeblähte
Strich-Erika denke.
(Heut sagt sie freudestrahlend und aufge-
pustet: „Donnerwetter bin ich aber mal pervers
seit heut Morgen“.)