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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 133
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Adler, Joseph: Die bankerotte Natur
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Zech, Paul: Durchwachte Nacht
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Marinetti, Filippo Tommaso: Die futuristische Literatur: technisches Manifest
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0194

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Auf die Kosten des Vergnügens ist sicherlich
jeder gekommen, der der langsam sterbenden
Sommernatur zum Abschied seine Bewunderung
zollte.
Wer das nicht getan hat, hat draufgezahlt. In
den Lokalen, wo man auf den Zuspruch. nicht
geeicht war, haperte es mit der Bedienung, man
rief stürmisch nach Atzun g, Zehntausende tran-
ken ihren Mokka im Freien . . . und fernab starb
langsam die Sommernatur unter dem Beifall derer,
die auf ihre Kosten kommen wollten.
Jeder Schmock hat aus dem Schweif des Flü-
gelrosses ein Haar gerissen: die schäbigsten Phra-
sen aufzubürsten. Die Natur ist tot, das Handwerk
des Tagesschriftstellers steht in voller Blüte, die
Saison wirft ihre Schatten voraus, rette sich wer
kann.
Joseph Adler

Durch wachte Nacht
Sie lag, von vieler Küsse Schwächung sanft
umkettet,
schlank auf d; rn prallen Pfühl mit aufgelöstem
1 iaar
und ihrer Brüste abgedämmte Atmung war
kaum merkbar end in puren Schlaf gebettet.
Ich saß und sah wie immer tiefre Wimperschatten
ihr Wangenweiß flach überdunkelten, und fror.
Fror wie ein Weg verirrter, der sein Ziel verlor,
und fand im Früstelspiel des Schauens kein
Ermatten.
Die ein viel Stärkt er zwang, in seinem Arm zu
weilen,
was sie nur träumte! Oh, geschlossne Augen ihr,
zartzierlich Ohr, was mochte euch so süß betören?
Wer aber wagt wohl solches Spiel zu stören!
Ich stand in Zorn und doch wie ein Ergriffner
schier
und ließ die Nacht im Stundentrab vorübereilen.
Paul Zech

Die futuristische
Literatur
Technisches Manifest von F. T. Marinetti
Im Aeroplan auf einem Oelzylinder, den Kopf
am Bauche des Aviatikers, fühlte ich plötzlich die
lächerliche Leere der alten, von Homer ererbten
Grammatik. Stürmisches Bedürfnis die Worte aus
dem Gefängnisse der lateinischen Periode zu be-
freien. Sie hat natürlich — wie alles dumme —
einen großen Kopf, einen Schmerbauch, zwei Beine
und zwei Plattfüße, aber niemals zwei Flügel. Sie
kann gehen, einige Augenblicke laufen, um fast
gleichzeitig schnaufend anzuhalten.
So sprach der surrende Propeller, während ich
in einer Höhe von zweihundert Metern -über die
mächtigen Schlote Mailands flog. Und er fügte
hinzu:
1 Man muß die Grammatik dadurch zerstören,
daß man die Substantivs nach der Art ihrer Ent-
stehung anordnet.
2 Man muß das Verb im Infinitiv gebrauchen,
damit es sich elastisch dem Substantiv anpaßt und
es nicht dem „Typ“ des Schriftstellers unterwirft,
der beobachtet oder erfindet. Das Verb im Infi-
nitiv kann einzig den Sinn der Fortdauer des Le-
bens und die Elastizität der wahrnehmenden In-
tuition geben.

3 Man muß das Adjektiv beseitigen, damit das
nackte Substantiv seine eigentliche Färbung behält.
Das Adjektiv, das das Prinzip der Abstufung und
Nuancierung in sich trägt, ist unvereinbar mit un-
serer dynamischen Vision, da es einen Stillstand,
eine Ueberlegung voraussetzt.
4 Man muß' das Adverb beseitigen, die alte
Agraffe, die die Wörter Zusammenhalt. Das Ad-
verb gibt dem Satze einen langweilig gleichmäßi-
gen Ton.
5 Jedes Substantiv muß seine Verdopplung
haben, das heißt, das Substantiv muß ohne Kon-
junktion dem Substantiv folgen, dem es durch
Analogie verbunden ist. Beispiel: Mann -— Tor-
pedoboot, Frau — Hafen. Menge — Brandung,
Platz - - - Trichter, Tür — Maschinenhahn.
Die aviatische Schnelligkeit hat unsere Welt-
kenntnis vervielfacht; deshalb wird die Erkenntnis
durch Analogie dem Menschen immer natürlicher.
Man soll also die Redewendungen: wie, gleich,
ebenso wie, ähnlich unterdrücken. Besser noch
sollte man den Gegenstand mit dem von ihm er-
weckten Bild zu einem kennzeichnenden Wort zu-
sammenziehen.
6 Keine Interpunktion mehr. Wenn die Adjek-
tiva, Adverbien und die Konjunktionen unterdrückt
sind, dann macht sich die Interpunktion selbst über-
flüssig, in der Abwechslung eines lebhaften, durch
sich selbst geschaffenen Stiles, ohne die absurde
Unterbrechung, durch Komma und Punkte. Um ge-
wisse Bewegungen hervorzuheben und ihre Rich-
tung anzugeben, wird man sich der mathematischen
Zeichen X X : — = > <, und der musikalischen
Zeichen bedienen
7 Der Schriftsteller hat sich bis jetzt der unmit-
telbaren Analogie überlassen. Er hat beispiels-
weise eine Tür mit einem Menschen verglichen,
oder wieder mit einem Tier, was fast Photographie
ist. Er hat beispielsweise einen Fox-Terrier mit
einem ganz kleinen Vollblut verglichen. Andere
Vorgeschrittenere können denselben Fox-Terrier
mit einer kleinen Morsemaschine vergleichen. Ich
vergleiche ihn mit wallendem Wasser. Es ist dies
eine immer ausgedehntere Steigerung von Analo-
gien auf immer tiefere, wenn auch sehr fernliegende
Beziehungen.
Analogie ist nur die tiefe Liebe, die fernstehende,
offenbar verschiedene und feindliche Dinge ver-
bindet. Nur mit weiten Analogien kann ein orche-
straler Stil, der gleichzeitig polymorph, polyphon
und polychrom ist, die Leben der Materie umfassen.
Wenn ich in meiner „Bataille de Tripoli“ einen
von Bajonetten starrenden Laufgaben mit einem
Orchester, eine Mitrailleuse mit einer verhängnis-
vollen Frau vergleiche, so habe ich anschaulich
einen großen Teil des Weltalls in einer kurzen afri-
kanischen Schlachtepisode eingeführt.
Die Bilder sind nicht Blumen, die man mit Spar-
samkeit auswählen und pflücken muß, wie Voltaire
sagte. Sie bilden das Blut selbst der Dichtung.
Die Dichtung muß eine ununterbrochene Folge
neuer Bilder sein, ohne die sie blutarm und bleich-
süchtig ist.
Je mehr die Bilder weite Beziehungen enthalten,
desto länger behalten sie ihre bestürzende Kraft.
Man muß. sagt man, die Betroffenheit des Lesers
schonen. Ach! wo! Kümmern wir uns- lieber um
die unangenehme Abnutzung der Zeit, die nicht nur
die Wucht, sondern auch die beizende Kraft des
Ausdrucks eines Meisterwerkes zerstört. Haben
nicht unsere zu oft begeisterten Ohren Beethoven
und Wagner „abgenutzt“? Man muß also in der
Sprache zerstören: Bilder-Cliches, farblose Meta-
phern, also fast alles.
8 Es gibt keine Kategorien vornehmer oder
gräßlicher, eleganter oder ärmlicher, übertriebener
oder natürlicher Bilder. Die Intuition, die sie wahr-

nimmt, kennt keine Rücksichnahme oder Partei-
lichkeit. Der vergleichende Stil ist also unum-
schränkter Herrscher der ganzen Materie und ihres
intensiven Lebens.
9 Um die aufeinanderfolgenden Bewegungen
eines Gegenstandes darzustellen, muß man eine
Kette der Analogien bilden, die er hervorruft, eine
jede gedrängt,, in ein kennzeichnendes Wort zusam-
mengefaßt.
Ein ausdrucksvolles Beispiel einer Kette von
Analogien, die nur durch traditionelle Syntax ver-
borgen wird, ist dies zum Beispiel:
„Gewiß, Sie sind, kleine Mitralleuse, eine rei-
zende Frau, unglückverheißend und göttlich, am
Steuer eines unsichtbaren 100 PS, der schnaubt
und vor Ungeduld stampft . . . Und bald werden
Sie den Umkreis des Todes erreicht haben, Sie
werden dem verderblichen Helmbusch oder dem
Siege entgegenlaufen! Wollen Sie anmutige, farb-
volle Madrigale über dieses Thema? Nach ihrem
Belieben, gnädige Frau! Ich finde, Sie gleichen
auch einem gestikulierenden Volksredner, dessen
beredte und unermüdliche Zunge seine erregten
Zuhörer bis ans Herz rührt. Sie sind in diesem
Augenblick ein allmächtiger Steinbohrer, der den
allzu festen Schädel der Nacht anbohrt. Sie sind
auch ein stählernes Walzwerk, eine elektrische
Drechselbank, und was noch? ... ein großes, ver-
kohlendes Schilfrohr, das schneidet und die metal-
lischen Spitzen der letzten Sterne verschmelzen
macht.“ (Bataille de Tripoli.)
In gewissen Fällen muß man die Bilder je zwei
zu zwei vereinigen, wie eine Kanonenkugel im
Fluge einige nebeneinander stehende Bäume durch-
bohren kann.
Um alles zu entwickeln und zu erfassen, was es
an Flüchtigem und Unfaßbaren in der Materie gibt,,
muß man ein engmaschiges Netz von Analogien
bilden, das man in das Meer der Erscheinungen
versenken wird. Abgesehen von der traditionellen
Form ist folgender Satz aus meinem Roman „Ma
farka der Futurist“ ein solch engmaschiges Netz:
„All die herbe Süße seiner Jugend stieg aus seiner
Kehle, wie vom Schulhof die Schreie der Kinder
zu ihren alten Lehrern aufsteigen, die an die Brü-
stung des Dachgartens gelehnt, die Schiffe aufs
offene Meer fliehen sehen.“
Noch drei Beispiele:
„Um den Brunnen Bumelianas, unter dichtbe-
laubten Olivenbäumen zusammengekauert drei Ka-
mele, lässig im Sande, die vor Freude ihren Spei-
chel wie eine Wasserrinne fließen ließen. Und dies
Geräusch mischte sich mit dem Fauchen der
Danipfpumpe, die die Stadt mit Wasser versorgt.“
„Gekreisch und futuristische Dissonanzen in
dem tiefen Orchester der krumm sich öffnenden
Laufgräben mit den wieder hallenden Höhlungen in-
mitten dem Auf und Ab der Bajonette, Violinbogen,
die der rote Taktstock des himmlischen Dirigenten
begeistert aufflammen läßt“
„Er sammelt mit einer weiten Armbewegung die
zerstreuten Flöten der Vögel in den Bäumen und
die klagenden Harfen der Insekten, das Knacken
der Aeste und das Knirschen der Steine . . . Plötz-
lich winkt er den Pauken der Suppennäpfe und
aneinanderstoßenden Gewehre ab, um mit voller
Stimme unter Begleitung des gedämpften Orche-
sters alle Sterne in goldenem Gewand singen zu
lassen, an der Rampe des Himmels. Und siehe,
eine Dame bei diesem Schauspiel. Weit ausge-
schnitten zeigt die Wüste ihren ungeheuren Busen
mit den feuchten Kurven, rosig geschminkt unter
den glänzenden Steinen der verschwenderischen
Nacht.“ (Bataille de Tripoli)
10 Da jede Art von Ordnung notwendig das
Ergebnis eines vorsichtigen Verstandes ist, muß
man die Analogien orchestrieren, verteilen nach
einem Maximum von Unordnung.

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