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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 113/114
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [8]: Roman
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Lasker-Schüler, Else: Briefe nach Norwegen
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Hübner, Fritz: Ein Lyriker
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0072

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Ein krankes, zerbrechlich mageres Mädchen
erschien ihnen dies Sehnen; sie wiesen sich seine
gelbe Blässe, die rhachitisch verborgenen und auf-
getriebenen Knochen, den aufgeschwemmten Leib.
„Sieh nur die wasserheilen Aeuglein Johannes, und
diese engelhafte Verlogenheit; hinter den dünnen,
zarten Rippen schlug gar ein scwaches Herz. Ach
waren wir Kinder Johannes, ach waren wir beide
Träumer und Kinder“ Und Irene schüttelte sich
vor Lachen an Johannes Brust. Und sie flüsterten
im Dunkel zueinander und mordeten heimliche
Dinge.
* *

Nun starb Lilith, die kranke Lilith. Ihre Augen
waren rot und vertrocknet, Lilith wand sich und
mußte sterben.
* *
*
Unmerklich verloren sie den Zugang zueinan-
der. Ihre Gedanken glichen Lassos, die über den
andern geworfen ihn immer öfter verfehlten. Sie
saßen gedankenvoll neben einander und wußten
nicht was geschah.
* &

Nun begannen sie sich zu täuschen. Der Klang
ihrer Stimmen stand noch gebieterisch über ihnen.
Sie sangen ihr nach; und streuten Brillanten auf die
Gräber. Aber wenn sie sich die schweren Hände
zum Abschied reichten, atmeten beider Brüste hoch,
der lähmenden Qual solchen Sprechens enthoben
zu sein. Und in ihrem Zimmer fiel Irene auf einen
Stuhl und sagte mit klarer Stimme vor sich hin:
„Das ist die Liebe, die Lie — be “.
* *

Fortsetzung folgt

Briefe nach Norwegen
Nachtrag von Else Lasker-Schüler
Olvenstedt bei Magdeburg

L. H.

Als ich heute Morgen Deine Reisetasche vom
Schrank holte, Herwarth, lag darin ein unveröffent-
lichter Brief von mir eingeklemmt, den ich Dir und
Kurtchen einst nach Norwegen sandte — und mein


Selbstbildnis in Seidenpapier gewickelt; das ist
direkt ein Diebstahl an den’Kunsthistorikern. Denn
ich habe keine Zeichnung von mir gemacht, auch
kein Gemälde, ich habe ein Geschöpf hingesetzt. Ich

will Dir schnell die verlorenen Zeilen senden und
mein Selbstbildnis von ungeheurem Wert. Es kostet
höchstens fünf bis sechs Mark zu klichieren. Gehe
zwei Abende nicht ins Caf6, bringe meinem Bildnis
das Opfer. Unter mein Bett stellte ich die Kiste mit
meinen Liebesbriefen, damit Du was zu tun hast.
Ich ruhe mich indessen aus hier auf dem Lande;
zwischen Richard Fuchs und Otto Fuchs gehe ich
spazieren durch ihre Treibhäuser und sehe zu, wie
die Nelken wachsen. Aber kalt ist es ungeheuer und
die Bäume rauschen zum Wahnsinnigwerden Ich
werde sie heute Nacht alle abschneiden zum Don-
nerwetter!
Ich grüße Dich Deine E
Liebe Gesandte! Wenn Ihr wieder in Berlin
seid, bin ich voraussichtlich in Theben zur Einwei-
hung meines Reliefs in der Mauer. Aber ich bin
nicht gespannt darauf, mich zu sehen,,, denn ich hab^
mich nie wiedererkannt weder in Plastik, noch in
der Malerei, selbst nicht im Abguß. Ich suche in
meinem Portrait das wechselnde Spiel von Tag und
Nacht, den Schlaf und das Wachen. Stößt nicht
mein Mund auf meinem Selbstbilde den Schlachtruf
aus?! Eine egyptische Arabeske, ein Königshiero-
glyph meine Nase, wie Pfeile schnellen meine
Haare und wuchtig trägt mein Hals seinen Kopf
So schenk ich mich den Leuten meiner Stadt. Oß-
mann und Tekofi Temanu meine schwarzen Diener
werden mein Selbstbildnis auf einer Fahne durch
die Straßen Thebens tragen So feiert mich mein
Volk, so feiere ich Mich. ,
Euer Prinz von Theben

Ein Lyriker
Es ist oft darauf hingewiesen worden, wie erst
mit und durch Rousseau im modernen Menschen
ein Naturgefühl echter und eigentlicher Art empor-
kam. Vorher empfand man sich und das Elemen-
tische als ausgemachten Dualismus. Fels., Wald,
Wolke und alles Getier waren das Dumpf-Entge-
genstehende, das Nicht-Erlöste, die Materie. Von
da ab aber ist es, als wären der Seele ganz neue
Organe gewachsen. Mit einem Male fühlt sie sich
auch im Acußeren weben. Fremdgeglaubtes ent-
puppt sich als Nah-Verwandtes. Dunkles „Es“
wird sympathetisches „Du“.
In der impressionistischen Malerei zeigte sich
dieser Beziehungswandel am auffälligsten. Hatte
bisher ein Naturausschnitt auf der Leinwand im
großen ganzen nur die Rolle des Hintergrunds, der
dekorativen Kulisse für eine Szenerie von Figuren
und merkwürdigen Vorgängen zu spielen gehabt,
so wird er jetzt zum immer selbständigeren, selbst-
berechtigteren künstlerischen Eigenthema. Die
Maler verlassen die Ateliers und ziehen ins Freie.
Das Studium der leisen Geheimnisse des Lichts,
der Atmosphäre, der Formkontraste wird zur in-
brünstigen Andacht Das Zielt ist, sich so innig in
das Leben dieser Welt für sich zu versenken, so
subtile Mittel der Nachbildung zu erfinden, daß das
fertige Gemälde nicht ein Referat oder Abklatsch,
sondern ein unmittelbares Sich-selbst-aussprechen
der Dinge zu sein scheint.
Parallel zur Landschaftsmalerei und aus dem
selben all'gemeinpsychologischen Umschwung ge-
biert sich in der Literatur die Landschaftsdichtung.
Ohne es freilich zu einer ähnlich beherrschenden
Stellung zu bringen, dringt sie gleichwohl dort, wo
es überhaupt restlos erreichbar ist, im Lyrischen,

zu ebenso vollendeten Vertretungen einer eigenen
Kunstart vor.
Den früheren Dichtern ist die Landschaft An-
stoß oder Anknüpfung, und was sie geben ist eine
Darstellung dessen, was die Dinge in ihnen an
Gefühlen rege machen. Ich meine jene „realisti-
schen“ Augenblicksaufnahmen, die Holz, Stolzen-
berg, Schlaf schufen, und deren Sinn und Wesen
des sich bis zur Selbstauflösung einzufüllen am
nebenbei schon fünfzig Jahre früher Lenau eigen-
tümlich vorausbestimmt hat, wenn er schreibt:
„Was hält meine liebe Freundin von folgender
Idee? Einzelne Züge der Natur, ohne Ausführung
ins Genaue, blos neben einander hingeworfen,
gleichsam in poetischer Situationszeichnung Zum
Beispiel: Abend; — grüne Wiese, — zerstreute
Weidenbäume, — Unkenruf im Sumpfe, — grauer
Himmel — es regt sich kein Lüftchen — immer
tieferes Dunkel — ein verlorener Freund. Tiefe
Schätze, teure Freundin, liegen in der Situation.
Ließe sich wohl eine Reihe solcher Skizzen mit
Wirkung durchführen?“
* *

Friedrich Curt Benndorf veröffentlichte sein
erstes Buch im Jahre 1890. Seitdem hat er noch
vier weitere in die Welt geschickt. Auch eine Aus-
wahl ist erschienen (bei Piper & Co.). Wie schon
diese relative Produktionsmenge erraten läßt, hat
er keineswegs auf seinem Instrumente nur eine
Saite. Auch die übrigen, rein sentimentalischen
Themen: Liebe, Freundschaft, Gott, Hoffen, Traum
hat er ausgedrückt. Aber es scheint, die landschaft-
lichen Seinsphaenomene — das Wort im umfäng-
lichsten Sinne gebraucht — reizen sein Erleben
und Darstellen am meisten. Wenigstens trium-
phiert hier sein Wortgefühl, seine Sensibilität ge-
genüber feinsten Berührungen, seine Gabe in Frem-
stärksten.
Die Arbeiten dieses Mannes als „Skizzen“ an-
zusprechen, geht ebenso wenig an wie bei den
anderen „Impressionisten“. Auf dergleichen kann
überhaupt nur kommen, wer von Gedichten irgend-
wie menschlich-persönliich betroffen und geför-
dert zu werden beansprucht. Er verkennt voll-
kommen, daß hier ähnliche Wirkungen wie die von
Bildern, von schönen Vasen, von antiken Gemmen-
reliefs angestrebt werden, die im Schauen und nur
im Schauen ihren Anfang und ihr Ende haben
Ein Gedicht Benndorfs lautet:
Am sonnigen Hügel, in Gras und Blumen
Umfächelt von Morgenluft
Hand ans Kinn gestemmt,
Hand spielend mit Halmen.
Liegen lose im Kreise die Knaben.
Sinnend. Plaudernd. Lachend.
Ueber nichts.
Als lebten sie das ewige Leben!
Abgesehen davon, daß diese Dichtung in Licht
und Sommersonne gebadet steht, wie bei Lieber-
mann, daß die Zeichnung von einer Anschaulichkeit
zum Greifen ist, stellt das Gedicht seinem Erfüllt-
sein mit geistig- stofflichem Gehalte nach eine so
vollkommen in. sich ruhende, in sich fertige kleine
Wed dar, daß der Leser sich hier beinahe ebenso
übf. lüs.sig fühlt, wie der Mensch im allgemeinen
de siatur gegenüber die Empfindung haben kann,
au .'.schlossen und unnötig zu sein. Hier lebt alles
au Eigenem; kein Strich, der auf eine Erregung
se mentalischer Gedankenverbindungen abzielt.

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