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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 148/149
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Leonhard, Rudolf: Das schwarze Revier
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers: ein Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0269

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Erfaßt von einem unbedenklichen Impressionisten,
und geglüht, gehämmert, gefeilt zu einer Monu-
mentalität, die dem Pathos sozialer Erscheinun-
gen und Verwirrungen gerecht wird. Zu rühmen
ist bei dem sehr verführenden Stoffe überhaupt
die Gerechtigkeit — auch im eigentlichsten Ver-
stände — Paul Zechs, des Dichters: er spricht
ganz ohne die Geste des j’accuse, ohne die Pose
des Richters. Die Tatsachen sind, in behauene
Blöcke von Versen gemeißelt, hingestellt: nehmt
sie und wertet selbst! Nie ist die warme Teil-
nahme, die jedes Wort leben läßt, zur Parteinahme
umgefärbt. Nebeneinander stehen der Kohlen-
baron und der Agitator, beide als Gestalt, nur
auf den Wert geprüft, den die Schwungkraft
ihres Daseins dem brausenden Rhythmus des gan-
zen Lebens zufügen kann. Ihr ethischer, poli-
tischer Wert — der Dichter stellte sie hin: seht
sie und urteilt selbst! Er erkannte die Notwendig-
keit der Härte, der Gemeinheit, der Sinnlosigkeit
sozialer Wirrnisse, er sah sie als Dinge des heuti-
gen Lebens. Und nur die Anklage, die die Er-
scheinungen selbst schrein, ist in ihnen gelassen
worden; zumeist im letzten Gedicht, das in har-
ter Gegensätzlichkeit das Hineinwachsen der
„ahnungslosen“ Kinder ins grübelnde Verständnis
des Kettenklirrens in ihren armen Räumen und
der ätzenden Sorge erzählt. In der Dumpfheit
jedes der strack nach vorn gerichteten Köpfe auf
dem von Ludwig Meidner gezeichneten, gewalt-
sam erschütternden Titelbilde liegt mehr Anklage
als in allen Versen Paul Zechs.
Es ist bei diesen Gedichten oft an Meunier er-
innert worden, und der vom Stofflichen gerufene
Vergleich trifft weit genug; denn er umfaßt das
Wesen dieser Verse, ihre Endgültigkeit und bron-
zene Monumentalität. Sie stehen in breiten
Reihen, zu Strophen voll schwerer Worte gebaut,
verbissen hinkriechend oder aufdonnernd, dumpf
und glutend. Von klingenden Reimen gebunden
— nicht viele wissen heute so zu reimen, bewußt
und bedeutsam — daß es manchmal üppig oder
zart aufleuchtet. Das Verschiedenste können sie
bilden; so, um die beiden schönsten Gedichte des
Heftes zu nennen, die riesenhafte, umwuchtete
Enge des „Hauers“ und die fast kosmisch ge-
weitete Zartheit der nachts „Hingesunkener?“.

Rudolf Leonhard


Die Schwermut des
Genießers
Portsetzung
Ein Roman
Von Artur Babillotte
Die Sonne verzehrte sich im Rausch ihrer
Brände. Sie war wie eine verzückte Heilige, die
Gott anbetet. Aber sie besaß den selbstherrlichen
Stolz der Größe und war unermeßlich eitel in
ihrem Glanz.
Sie war so unnahbar, daß jeder, der ihrer her-
ben Ferne nachdachte, in Kälte erschauerte. Man
mußte sie in der zehnten Stunde sehen, wenn sie
langsam den Himmel hinanstieg und immer trun-
kener in Selbstverzehrung wurde. Man fühlte be-
reits alle Flammen, die sie in den nächsten Stunden
herabgießen würde, mit schrecklicher Deutlichkeit
und meinte, unter dieser Last zusammenbrechen
zu müssen, ein verschmachtendes Opfer dieser
grausamen Heiligen. Man meinte, eingekerkert zu
sein zwischen undurchdringlichen Mauern von ro-
ter Glut und wußte doch, daß dies nur eine Ah-
nung war. Und man fror bei soviel Feuer. Und
man wurde ganz klein und erkannte den erhabenen
Spott, mit dem die glühende Heilige herabsieht auf
den Punkt im Weltall, auf die winzige arme Erde.
Man hielt Einkehr in sich selbst und löste sich auf

in eine Nichtigkeit, auch wenn man der klügste
und gütigste, selbst wenn man der mächtigste
Mensch auf der Erde war.
Die Geschöpfe der Erde, die oft so sehnsüchtig
nach der Sonne verlangen und oft unter ihren
geißelnden Strahlen so erbärmlich werden, wissen
nicht, wie groß der Spott dieser glühenden Heiligen
ist. So groß ist er, daß sie nicht einmal weiß, daß
es Menschen und Tiere und Pflanzen gibt. So über-
ragend und selbstherrlich ist der Spott der trun-
kenen Sonne.
Den Menschen ist es ein Trost, an die Güte der
Sonne zu glauben. Darum denken sie ihr nicht
nach bis in die letzten Tiefen; manch einer müßte
wahnsinnig werden. Wenn aber ein Mensch an
einem heißen Sommernachmittag durch ein weites
Feld wandert, und hört keinen Laut um sich her
und sieht keine Bewegung, wohin er auch blicken
mag, und sieht nur die Erstarrung der Felder, und
den Glanz der Sonne: An solchem Nachmittag ahnt
er ihre unermeßliche stumme Kälte. Fühlt die
Größe ihrer Verachtung und läßt seinen Geist vor
ihr knieen und anerkennt ihre hohe Macht.
Aus allen Poren sickert das große Schweigen,
wenn die Sonne herrscht. Und wenn irgendwo ein
Jubel so ungestüm ist, daß er nicht völlig schwei-
gen kann, bricht er doch nur in ein halblaut stöh-
nendes Lachen aus. Und wenn irgendwo ein
Schmerz ist, der die Last der ganzen Erde in sich
trägt, zerweht sein Klagen in ein schwaches, ängst-
liches Wimmern. Eine trunkene Heilige ist die
Sonne, wild und groß in Glut.

An diesem brennenden Augustmorgea schwelgte
Johannes Ehler in der Pracht der Sonne. Er sah
sie mit seinen Augen, die alle Gegenstände anders
ergriffen, als die Augen der gewöhnlichen Men-
schen. Er versenkte sich in ihren Anblick, daß es
unheimlich still in ihm wurde. Seine Seele stand
in einer langen, befreienden Pause. Er versank
in der Pracht der Sonne. Er vergaß sich so, daß
er selbst ganz Glut war, er sagte ganz laut vor sich
hin: Ich grüße dich, Sonne, liebe Schwester!
Als er aus seiner Entzückung erwachte, strich
er mit einer feinen weißen Hand über den Brief,
der noch vor ihm lag, und lächelte. Er sah im
Geist die Verwunderung des Freundes, wenn er
diesen Brief las. Er hörte seine Ausrufe und be-
merkte sein Kopfschütteln.
Ein breiter Wald stand dunkel über ihm. Die
Musik der Bäume drang nicht bis zu ihm herab,
aber dennoch hörte er sie und sog sie in tiefen
Atemzügen ein. um keinen Hauch zu verlieren.
Wenn er die Hand von der Tischplatte ein wenig
emporhob, zitterte sie leise, die Finger tänzelten
in der Luft. Wenn ihn einer fragte, warum dies
so sei, sagte er überzeugt: Die Musik, die in mir
ist, strahlt durch die Fingerspitzen aus; versprüht
in den freien Raum und vermählt sich mit ihm.
Während er der unhörbaren tiefen Musik des
Waldes lauschte, strich er liebkosend mit der Hand
über die engbeschriebenen Briefblätter. Ein Buch-
stabentaumel lief über diese Blätter. Das Alphabet
feierte Orgien, kollerte durcheinander, überstürzte
sich, bedrängte sich oder wurde auseinanderge-
sprengt.
So oft er seine Schrift betrachtete, drängten
sich ihm Gedanken über die Musik der Neuen auf.
Die schmerzlichen Gedanken des Ahnenden, des-
sen, der da ahnt, daß die Kunst, die aus Not und
seelischer Feinheit geborene Kunst, nicht mehr
unter den Menschen heimisch ist. Dann faßte ihn
ein stiller Zorn, der vornehme Zorn des Starken,
der den ehrlichen Willen*hat, die Rettung zu
bringen.
Seine ungemein scharfe Auffassungskfaft zwang
ihn, alle Dinge, die außer ihm standen, in den Be-
zirk seiner Lebenäußerung hereinzuziehen. Darum

litt er viel. Jede Regung, die um ihn her vorging,
strahlte ihren ganzen Inhalt zu ihm hin, sodaß er
üirem Einfluß nicht zu entgehen vermochte; am
quälendsten waren für ihn die Strahlungen geis-
tiger Geschehnisse. Sie marterten ihn unsäglich,
sobald sie im geringsten von seiner Art, zu den-
ken und zu betrachten, abwichen. Es war die
Bürde seines Lebens, daß er eine ganze Welt in
sich trug, so lebendig und regsam, daß sie sich mit
allem, was in der wirklichen Welt vor sich ging,
auseinandefsetzen mußte. Nur einen Schutz be-
saß er gegen diese Martern: das verzerrte Lächeln
dessen, der ganz vornehmer Klang geworden ist
und jeden Mißklang verabscheut. Er lebte in einem
ewigen stillen Unfrieden mit den Geschehnissen,
die sich außerhalb seiner Anschauung zutrugen.
Er war eine Natur voll Freude am Frieden und
mußte doch jede Sekunde ein Kämpfer sein.
... Von der Veranda, auf der er saß, konnte
er weit in das Land hineinblicken. Ganz hinten
am Horizont vermählte sich der Himmel mit der
Erde. Beide versanken ineinander und wurden
eins. Sie waren so farblos,, daß es schien, als er-
blaßten sie unter dem Glück ihrer Vereinigung
Die Erde dehnte sich in Sattheit. Wie ein Brodern
stieg die Angst vor der nahen Schwüle aus ihren
Schollen; in einem feinen Zittern. Der Rauch, der
unten im Tal aus den Häusern emporwirbelte,
schien die gestaltgewordene Angst zu sein: Er
nahm seinen Weg kerzengerade in die Höhe und
knickte dann plötzlich ein, als habe ihn ein star-
ker Schlag getroffen. Müde und hilflos kroch er
in einer Linie mit dem Horizont noch ein Weilchen
weiter und verlor sich dann im Nichts.
Jeden Morgen saß Johannes auf der Veranda
und ließ die schweigende Musik der Landschaft
auf sich wirken. Er liebte es, wenn ein Wind über
die Talebene, die unter ihm lag, hinstrich und die
Musik belebte. An manchen Tagen aber bedurfte
er auch der großen Stille. Dann versank seine
Seele darin und wurde eins mit den Nähen und
Fernen.
Als er den ersten Tag auf dem Berge verbracht
hatte, war er traurig und ängstlich gewesen. Er
liebte die tragischen Landschaften und hatte hier
eine idyllische gefunden. Er kämpfte mit sich selbst
und schwankte hin und her, ob er sich dieser
Landschaft anvertrauen wollte. Endlich hatte sein
Verlangen, alle Feinde in Freunde zu verwandeln,
gesiegt. Er wollte lernen, sich an die Ruhe und den
Frieden dieser Landschaft zu gewöhnen.
Von Tag zu Tag war sie ihm lieber geworden.
Immer stärker hatte sie sein Werk gefördert. Es
lag vielleicht gerade in der Gegensätzlichkeit, in
der sie zu der Landschaft seiner Schöpfung stand.
Während er die Blicke in die Lieblichkeit eines
sanften Landes schweifen lassen konnte, spielten
sich in seinem Geist heroische Szenen vor einem
düstern, ernsten Hintergrund ab. Bis dahin hatte
er die Gegend, in der er die nächsten Tage weilen
wollte, stets nach dem Zustand gewählt, in dem
sich seine Seele gerade befand. So hatte er oft
innerhalb weniger Tage die verschiedenartigsten
Landschaften besucht, tragische, fröhliche, offene
und abgeschlossene. Immer ängstlich bemüht, daß
sie seiner Stimmung angepaßt seien.
Als er sich mm aber einmal in einer Gegend
niedergelassen hatte, die im schroffsten Gegensatz
zu seiner Vorliebe für tragische Landschaften
stand, war er nicht enttäuscht worden. Dies gab
ihm einen bedeutenden Zuschuß an Kraft und
Selbstbewußtsein und bestärkte seine Ueberzeu-
gung, daß er unlöslich mit dem Ganzen der Er-
scheinungsformen verbunden sei. So unlöslich,
daß sich die Landschaft seiner Anschauung an-
paßte. und umgekehrt, auch wjenn beide einander
nicht liebten. Dies war seiner Meinung nach eine
Harmonie, die nicht übertroffen werden konnte.
Fortsetzung folgt

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