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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 150/151
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Marinetti, Filippo Tommaso: Supplement zum technischen Manifest der Futuristischen Literatur
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Döblin, Alfred: Futuristische Worttechnik: offener Brief an F. T. Marinetti
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0278

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vornherein auf allen Arabesken, Zickzacks und
Umwegen des Gedankens: es hat keine Daseins-
berechtigung mehr. Man ist ungefähr sicher, daß
man sich nicht irrt, wenn man gerade das Gegen-
teil tut.
Unweigerlich gibt man dem Substantiv seinen
wesentlichen, gesamten und typischen Wert wie-
der, wenn man Adjektiv und Adverb unterdrückt.
Ueberdies setze ich unbedingtes Vertrauen in
das Gefühl des Abscheus, das ich für das Sub-
stantiv hege, das daherschreitet, begleitet von sei-
nem Adjektiv wie von einer Schleppe oder einem
Pudelhündchen. Manchmal hat das Substantiv
ein Adjektiv vorn und ein Adverb hinten wie die
beiden Reklamezettel eines Sandwichmannes.
Lauter unerträgliche Zustände.
6/ — Deswegen benutze ich die abstrakten
mathematischen Zeichen, die die Mengen angeben
sollen: denn sie ziehen alle Erklärungen ohne
Füllsel zusammen und vermeiden die gefährliche
Angewohnheit an allen Enden des Satzes Zeit zu
verlieren durch peinliches Feilen, durch kostbare
Fassungen.
7/ — Die von der Interpunktion befreiten
Worte werden sich gegenseitig mit ihren Strahlen
erhellen, ihre verschiedenen Magnetismen durch-
kreuzen, indem sie dem beständigen Dynamismus
des Gedankens folgen. Eine weiße Stelle, die
mehr oder weniger lang sein wird, wird dem
Leser die Ruhe oder das Schlafen der Intuition
andeuten. Die großen Buchstaben werden dem
Leser die Substantive bezeichnen, die eine bedeu-
tende Analogie zusammenfassen.
8/ — Die Zerstörung der traditionellen Periode,
das Abschaffen des Adjektivs, des Adverbs und
der Interpunktion werden notwendiger den Zu-
sammenbruch der nur zu sehr gerühmten Har-
monie des Stils mit sich bringen, so daß der fu-
turistische Dichter endlich die onomatopoetischen
Kakophonien wird benutzen können, die die un-
zählbaren Geräusche der sich bewegenden Ma-
terie geben.
All diese elastischen intuitiven Anschauungen,
durch die ich mein technisches ^Manifest der futu-
ristischen Literatur vervollständige, haben sich in
meinem Gehirn nacheinander entfaltet und mein
neues futuristisches Wjerk geschaffen; eines der
bezeichnendsten Fragmente folgt:
Bataille
Poids Odeur
Midi 3/4 flütes glapissement embrasement
toumbtoumb alarme Gargaresch craquement cre-
pitation marche Cliquetis sacs fusils sabots clous
canons crinieres roues Caissons juifs beignets pains-
ä-huile cantilenes echoppes bouffees chatoiement
chassie puanteur cannelle fadeurs flux
reflux poivre rixe vermine tourbillon orangers-en-
fleur filigrane misere des echecs cartes Jasmin +
muscade + rose arabesque mosai’que charogne
herissement savates mitrailleuses — galets
ressac 4- grenouilles Cliquetis sacs fusils canons
ferraille atmosphere — plomp + lave + 300 puan-
teurs 4" 50 parfums pave matelas detritus crottin
charognes flic-flac entassement chameaux bour-
ricots tohubohu cloaque Souk-des-argen-
tiers dedale soie azur galabieh pourpre oranges
moucharabieh arches enjambement bifurcation pla-
cette pulhilement tannerie cireurs gandou-
ras burnous grouillement couler suinter bariolage
enveloppement excroissances fissures tanieres gra-
vats demolition acide-phenique chaux pouillerie
Cliquetis sacs fusils sabots clous canons Caissons
coups-de-fouet drap-de-soldat suint impasse a-
gauche entonnoir ä-droite carrefour clairobscur
etuves fritures musc jonqullles fleur-d’oranger

ecoeurement essencc-de-rose piege ammoniaque
griffes exerements morsures viande 4“ 100
mouchcs fruits-secs carroubes pois-chiches pis-
tachcs amandes regimesbananes dattes toubtoumb
bouc cousscouss-moisi aromates safran
goudron ocuf-pourri chien-mouille jasmin cassie
santal oeillets faisandage intensite bouillonnement
fermenter tubereuse Pourrir s’eparpiller furie
mourir sedesagreger morceaux miettes poussiere
heroi’sme elminthes fusillade pic pac pun pan pan
menthe mandarine laine-fauve mitrailleuses cli-
quets-de-bois leproserie plaies en-avant
chair moite crasse suavite ether Cliquetis sacs
fusils canons caissons roues benjoin tabac encens
anis village ruines brule ambre jasmin maisons
eventrements abandon gargoulette toumbtoumb
violettes ombrages puits änon änesse cadavre
ecrabouillement sexe exibition ail bromes
anisette brise poisson sapin-neuf romarin charcu-
teries palmiers sable cannelle Soleil or ba-
lance plateaux plomb ciel soie chaleur rembour-
rage pourpre azur torrefaction Soleil = volcan +
3000 drapeaux atmosphere precision corrida furie
Chirurgie lampes rayons bistouris etincelle-
ment linges desert clinique X 20 000 bras 20 000
pieds 10 000 yeux mire scintillation attente Ope-
ration sables chaufferies Italiens Arabes : 4000
metres bataillon chaudieres commandements Pis-
tons sueur bouches fournaises crenomdenom en-
avant huile vapeur ammoniaque > cassies vio-
lettes fientes roses sables miroitement tout mar-
cher aritmethique traces obeir Ironie enthousiasme
bourdonnement coudre dunes oreillers zig-
zags repriser pieds meules crissemcnt sable inu-
tilite mitrailleuses = galets 4~ ressac 4~ grenouilles
Avant-gardes : 200 metres chargez-ä-la-
baionette en-avant Arteres gonflement chaleur
fermentation cheveux aisselles chignon rousseur
blondeur halcines 4~ sac 30 kilos prudence = bas-
cule ferrailles tire-lire mollesse : 3 frissons com-
mandements pierres rage ennemi aimant legerete
gloire heroi’sme Avant-gardes : 100 metres
mitrailleuses tatarataratarata Avant-gardes
: 20 metres bataillons fourmis cavalerie araignees
routes gues general Hot estafettes sauterelles sab-
les revolution obus tribuns nuages grils fusils mar-
tyrs shrapnels aureoles multiplication addition di-
vision obus soustraction grenade rature ruisseler
couler eboulement blocs avalanche Avant-
gardes : 3 metres melange va-et-vient collage de-
collage dechirement feu deraciner chantiers cboule-
ment carrieres incendie panique aveuglement ecra-
ser entrer sortir courir eclaboussement
Vies fusees coeurs friandises bai’onnettes fourchet-
tes mordre depecer puer valser bondir rage curee
.explosions obus gymnastes fracas trapezes ex-
plosion rose joie ventres arrosoirs tetes foot-ball
eparpillement Canon 149 elephant artilleurs
cornacs hissa-hoo colere leviers lenteur lourdeur
centre gargousse jockey methode monotonie trai-
ners distance grand-prix gueule parabole x lumiere
tonnerre massue infini Mer ■=. dentelles emeraudes
fraicheur elasticite abandon mollesse cuirasses
acier concision ordre Drapeau-de-combat (prai-
ries ciel-blanc-de-chaleur sang) = Italie force or-
gueil-italien freres femmes mere insomnie brouha-
ha-de-camelots gloire domination cafes recits-de-
guerre Tours canons virilite volees ecrec-
tion telemetre extase toumbtoub 3 secondes toumb-
toumb flots sourires rires plaff plouff glouglouglou-
glou cachecache cristaux vierges chair bijoux per-
les iodes sels bromes jupons gaz liqueurs bulles 3
secondes toumbtoumb officier ’blancheur
telemetre croix feu megaphone la-hausse-ä-4-mille-
metres tous-les-hommes ä-gauche assez chacun
ä-son-poste inclinaison-7-degres erection splen-
deur jet percer immensite azur femelle depucelage

acharnement couloirs cris labyrinthe mate-
las sanglots defoncement desert lit precision tele-
metre monoplan poulailler-de-theätre applaudisse-
rnents monoplan = balcon rose roue täm-
bour trepan taon deroute arabes boeufs sangui-
nolencc abattoir blessures refuge oasis umidite
eventail fraicheur sieste rampement germi-
Ration effort dilatation-vegetale je-scrai-vert-de-
main restons-mouilles conserve-cette-goutte-d’eäu
faut-grimper-3-centimetres-en-6 jours colle-ta-tige-
pour-resister-contre-20-grammes-de-sable-et-3000-
grammes-de-tenebres voie-lactee cocotier etoiles
noix-de-coco lait ruisseler jus delices
F. T. Marinetti
Autorisierte Uebertragung von Jean-Jacques

Futuristische
Worttechnik
Offener Brief an F. T. Marinetti
Von Alfred Döblin
Lieber Marinetti, das erste Mal waren Sie
im vergangenen Sommer bei uns, zur Ausstellung
der futuristischen Bilder. Ich schrieb damals für
den Sturm: „Der Futurismus ist ein großer
Schritt. Er stellt einen Befreiungsakt dar. Er ist
keine Richtung, sondern eine Bewegung. Besser:
er ist die Bewegung des Künstlers nach vor-
wärts.“ Die Intensität und Ursprünglichkeit, das
Kühne und gänzlich Zwanglose schlug bei mir ein.
Ich dachte mehrfach und sagte zu Ihnen — bei
Dalbelli —: „Wenn wir in der Literatur auch
so etwas hätten!“ Damals schwiegen Sie. Nach
einigen Monaten schwirrten die literarischen
Manifeste über unsere Häuser. Das Unzuläng-
liche war Ereignis geworden
Es war nicht so gemeint. Ich bestreite Ihre
Legitimation nicht, uns anzuregen. Sie haben
Energie und Härte, Männlichkeit, die einer
unter Erotismen, Hypochondrien, Schiefheiten und
Quälereien berstenden Literatur mit Vergnügen
auf den Pelz gehetzt werden soll. Sie» haben in
Ihrem „Mafarka“ einem massiven, unraffinierten
Empfinden öfteren ungebrochenen Ausdruck ge-
liehen. Sie sind rhetorisch, aber Ihre Rhetorik
ist keine Lüge. Es ist uns klar, Marinetti, Ihnen
wie mir: wir wollen keine Verschönerung, keinen
Schmuck, keinen Stil, nichts Aeußerliches, son-
dern Härte, Kälte und Feuer, Weichheit, Trans-
cendentales und Erschütterndes, ohne Packpapier.
Die Emballage gehört den Klassikern. Plattfuß-
einlagen, Gipskorsette und andere Orthopädie ver-
ehren wir nebst Sonetten, Weltanschauung höhe-
ren Töchtern zum Angebinde. Was nicht direkt,
nicht unmittelbar, nicht gesättigt von Sachlichkeit
ist, lehnen wir gemeinsam ab; das Traditionelle
Epigonäre bleibt der Hilflosigkeit reserviert. Na-
turalismus, Naturalismus; wir sind noch lange
nicht genug Naturalisten.
Bis dahin gehen wir zusammen. Sie hören,
Marinetti, Sie sagen uns nichts Neues damit; ich
kann sagen: Sie bekennen sich zu uns. Jetzt
fängt Ihr Manifest und Ihre Bemühung an, außer-
ordentlich heftige Grimassen zu schneiden und zu-
dringlich zu der dreimal heiligen Sachlichkeit zu
werden. Sie sind halber Afrikaner; ihre Liebe
zur vollen Realität nimmt etwas Berserkerhaftes
an; sie schmatzen und kauen an dem jmrperhin
robusten Ding in einer mich jammernden Weise
herum; sie schlucken an ihr wie eine Schlange
an einem Frosch. Zunächst analysieren Sie die

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