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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 138/139
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Friedlaender, Salomo: Der Rüssel des fetten Herrn Mühlmann
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Apollinaire, Guillaume: Realité, peinture pure
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0223

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Wirtschafterin, man päppelte Mühhnann bald
wieder fett. Und was war das Ende?
Mühlmann wog drei Zentner und wollte sich
für sein Leben gern ärgern, konnte aber nicht,
es gehört eben dazu ne gewisse Beweglichkeit.
Aber freuen konnte er sich deswegen auch nicht
gleich, er setzte allem, was ihn betraf, nichts ent-
gegen als sein gleichmütiges Gewicht. Und das
war das durchschlagendste Argument. Ein schwe-
rer dicker Elefant hat wenigstens seinen zierlich
schlängelbaren Rüssel, Mühlmann hatte nichts
dergleichen. Er wirkte auf alle Erlebnisse wie ein
Briefbeschwerer. Oh nein! Die Dicken sind nicht
gutmütig, sie sind nur schwer, und das genügt.
Es mußte auch der Tante Moni genügen. Onkel,
sagte sie, was wird denn mm? Hast du testiert?
Fühlst du dich wohl? Willst du Liebig’s Fleisch-
extrakt? -Ja, Kuchen! Der Onkel wog drei
Zentner statt aller Antwort. Sie wollten ihn ent-
mündigen lassen.
Ha. der Herr sieht doch ganz famos aus, ur-
teilte der Sachverstand. Man kann Gott weiß
wieviel wiegen und doch recht zurechnungsfähig
sein. — Schließlich testierte der altgewordene
Herr, seine feiste Patschhand ruhte schwer auf
dem Papier. Es war so schönes Wetter, die Ver-
wandten hatten sich alle eingefunden,- Tante Moni
übernahm die Regie: Dalli, Hunold, drängte sie,
sie wollte ihm schon die Hand führen. Da stand
Hunold auf, daß die Dielen zitterten, und die
Wanduhr stockte. Ein heiliges Licht ging über
seine schwermassigen edlen Züge, und er sprach
folgendes Gedicht:

Testieren soll der dickste Mann
Von Rechtes wegen können.
Wenn er sich nicht mehr rühren kann,
Muß er es andern gönnen.
Die Zähre, die er flennt, tropft schwer
Wie’n Kilogramm zu Boden;
Der dicke Mann fühlt sich so leer
Als wie nach tausend Toden.
Er leiert trotz Gewichte
Zuletzt noch dies Gedichte
Und aus ist die Geschichte.

Sein Schlagfluß rührte ihn und rührte alle Ver-
sammelten zu Tränen. Testieren hatte er gar
nicht mehr können. Pohle (von den Wasser-
werken) schwenkte seinen Zylinder mißmutig und
knurrte mit dem Zahnstocher im Gebiß: ne apo-
plektische Konstitution soll eben nicht dichten.
Da klagte die Tante Moni: Hätte ich ahnen kön-
nen, daß ich, durch meine mir jetzt selbst so
widerwärtige Dringlichkeit, in Hunold den Keim
zur Dichtkunst legte!
Ja, sagte Dr. Robert Scheußlich, der Philo-
log: Die Folgen der Mastkuren sind immer Ge-
dichte. Wo man was so Massives sieht, da ist
immer ’n bissel Aether anbei. Und wer. meine
liebe Moni, erbschleichen will, muß den Drei-
zentnerlegator in Ruhe lassen. Wo immer im
Leben die Kunscht erblüht, ist sie die Wirkung
aufgeregter t r ä g e r Massen. Der Hunold — ich
schreie — mußte Dichter oder dünner werden. —
Die Tante Moni schrieb sich das Gedicht auf und
seufzte, und seufzte. Hunolds Leiche saß vor dem
Schreibtisch, sargsehnend, schwabbrig.
Ha! sagte plötzlich Pohle: Der schlängelbare
Rüssel — das Gedicht!
Scheußlich nickte.

Realitö, peinture pure
Auf der Höhe des Kampfes, der in Frankreich
gegen die jungen französischen Künstler geführt
wird, die als Beweis für die Tiefe ihrer Kunst
Stolz den Namen Kubisten tragen, mit dem man
sie hat lächerlich machen wollen, fühlte ich mich
veranlaßt, die Verteidigung von Künstlern zu
übernehmen, für die ich als Erster in den großen
französischen Journalen „le Temps“ und „l’Intran-
sigeant“ und in meinem Buche „Mediation esthe-
tique (Figuiere 1912) eingetreten bin — Definitionen
des Kubismus, klare Deutungen über die festzu-
stellende Verschiedenheit zwischen der alten,
imitierenden Malerei und jener, in der sich ein
bekannter Maler wie Picasso ausgezeichnet hat.
Die Meinungsverschiedenheit dieser Künstler
beruhigte mich über die Zukunft einer Kunst, die
keine Technik ist, sondern der Aufschwung einer
ganzen Generation zu einer erhabenen, die perspek-
tivischen und andere Konventionen ausschließenden
Aesthetik.
In eben derselben Zeit, sah ich oft einen jun-
gen Maler, von dem in den letzten Jahren ebenso
viel in Frankreich, wie im Auslande gesprochen
worden ist, Robert Delaunay, der zu den
begabtesten und kühnsten Künstlern seiner Gene-
ration gehört.
Seine Gestaltung von farbigen Volumen, sein
schroffer Bruch mit der Perspektive, seine Be-
trachtung von Flächen, hat eine große Anzahl sei-
ner Freunde beeinflußt. Ich lernte auch seine Ver-
suche um reine Malerei kennen, die ich im „le
Temps“ angezeigt habe.
Indessen: er hatte sich noch nicht völlig vor
mir ausgesprochen, und ich war glücklich, als er
mir kürzlich seine letzten Werke zeigte, in denen
die Wirklichkeit ebenso bewegt ist, wie das leben-
dige Licht, und es ihm zu meiner persönlichen Er-
bauung gut dünkte, die Grundsätze seiner Ent-
deckung zu entwickeln, die einen größeren Einfluß
auf die Künste ausüben wird, als die plötzlichen
Veränderungen, die sein berühmtestes Bild „Ville
de Paris“ hervorrief. — Ich glaube, es ist für die
Allgemeinheit nützlich, seine ästhetische Erklärung
„über die Konstruktion der Realität in der reinen
Malerei“ niederzuschreiben:
„Der Realismus ist in der Kunst das Unver-
gängliche, ohne ihn gibt es keine dauernde Schön-
heit, denn er ist der Schönheit wesensgleich.
„Suchen wir in der Malerei die Reinheit der
Mittel, den reinsten Schönheitsausdruck.
„Im Impressionismus — ich rechne hierzu alle
reaktionären Manifestationen: Neo-Impressionis-
mus, Praekubismus, Kubismus, Neo-Kubismus,
alles was Technik und wissenschaftliches Verfah-
ren ist — befinden wir uns vor der unmittelbaren
Natur, fern von allem Reinen der „Stile“: italie-
nisch, gothisch, Negerstil und ähnlichem.
„Von dieser Ansicht aus ist der Impressionis-
mus immerhin ein schöner Sieg, aber ein unvoll-
kommener. Das erste Gestammel überfließender
Seelen vor der Natur, von Seelen, die diese große
Realität noch etwas verschüchtert. Ihr Ueberfluß
hat mit allen falschen Ideen aufgeräumt, mit den
archaistischen Mitteln der alten Malerei (Zei-
chenkunst, Geometrie, Perspektive), der ganzen
iuitellektualistischen, absterbenden neuklassischen
Akademie.
„Die befreiende Bewegung hat mit dem Impres-
sionismus eingesetzt. Sie hatte Vorläufer: Greco,
einige Engländer und unseren revolutionären De-
lacroix. — Es war eine große Epoche der Vorbe-
reitung auf das Suchen nach der einzigen Realität
„dem Lichte“, der alle obengenannten Forschun-
gen, Reaktionen im Impressionismus umfaßte.

^,Die Lichtwirkung, unbedingt notwendig für
jeden lebensfähigen Schönheitsausdruck ist |toch
heute das Problem der modernen Malerei geblie-
ben. Vom Lichte hat Seurat „die Kontraste der
Komplementäre“ befreit.
„Seurat ist der erste Theoretiker des Lichtes.
Der Kontrast wird Ausdrucksmittel. Der frühzei-
tige Tod Seurats hat die Folge seiner Entdeckun-
gen unterbrochen. Man kann ihn innerhalb des
Impressionismus als den ansehen, der in den Aus-
drucksmitteln das Höchste erreicht hat.
„Seine Schöpfung bleibt der Kontrast der Kom-
plementärfarben. (Die optische Mischung durch
Punkte, von ihm und seinen Genossen angewandt,
war nur technisch und besaß noch nicht die Bedeu-
tung der Kontraste als Ausdrucksmittel für die
reine Expression (l’Expression Pure).
„Dieses erste Mittel diente ihm zur spezifischen
Darstellung der Natur. Seine Gemälde sind eine
Art flüchtiger Vorstellungen.
„Der gleichzeitige Kontrast (le contrast simul-
tane) war von den kühnsten Impressionisten noch
nicht entdeckt, realisiert worden und dennoch ist
er die einzige Grundlage jedes reinen Ausdruckes
der gegenwärtigen Malerei.
„Der gleichzeitige Kontrast“ sichert die Dyna-
mik der Farben und ihre Konstruktion im Bilde;
er ist das stärkste Ausdrucksmittel für die Wirk-
lichkeit.
„Die Ausdrucksmittel sollen nicht persönlich
sein, im Gegenteil, sie sollen jeder Eingebung für
das Schöne zu Gebote stehen und das „Metier“
soll der gestalteten Vorstellung wesensgleich sein.
„Die Gleichzeitigkeit der Farben“ durch die
„gleichzeitigen Kontraste“ und allen aus der Farbe
hervorgegangenen Maße (ungerade) dem Ausdruck
ihrer repräsentativen Bewegung gemäß, dies ist die
einzige durch Malerei konstruierbare Realität.
„Es handelt sich nicht mehr um
den Effekt (Neo-Impressionismus im Impressio-
nismus), noch um das Objekt (Kubismus im Im-
pressionismus), noch um das Abbild (l’image) (Ku-
bismusphysik im Impressionismus).
„Wir kommen zu einer rein ausdrucksvollen Mal-
kunst mit Ausschluß jeden vergangenen Stiles (ar-
chaisch, geometrisch) einer plastisch werdenden
Kunst, die nur dem Einen dienen will, die mensch-
liche Natur gegen die Schönheit zu inspirieren.
Das Licht ist kein Verfahren, es flutet uns zu, wird
uns vermittelt durch unser Empfindungsvermögen.
— Ohne Lichtempfindung — Auge — keine Bewe-
gung. Denn unsere Augen sind es, die das Emp-
finden zwischen der Natur und unserer Seele ver-
mitteln. — In unseren Augen spielt sich die Gegen-
wart, folglich unser Empfinden ab. Ohne dieses
Empfinden, das Licht also, können wir nichts.
Folglich: unsere Seele hat ihr vollstes Lebensge-
fühl in der Harmonie und die Harmonie wiederum
entsteht nur aus der Gleichzeitigkeit, mit der die
Maße und Lichtverhältnisse durch die Augen zur
Seele (oberster Sinn) gelangen.
„Und die Seele beurteilt die Formen des Na-
turbildes im Vergleiche mit der Natur selbst —
reine Kritik — und befiehlt dem Schöpfenden. Der
Schaffende trägt allem Rechnung, was durch We-
senheit, Aufeinanderfolge, Einbildung und Gleich-
zeitigkeit im Weltall vorhanden ist.
„Die Natur bringt also die Wissenschaft der
Malerei hervor.
„Die erste Malerei war nur eine Linie, die den
von der Sonne auf den Boden geworfenen Schat-
ten eines Menschen umschrieb.
Aber wie weit sind wir mit unseren heutigen
Mitteln von diesem Scheinbilde entfernt. Wir, die
wir das Licht (helle, dunkle Farben, ihre Komple-
mentäre, ihr Tonverhältnis (Intervalle) und ihre
Gleichzeitigkeit (simultaneite) und alle aus der Intel-

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