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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 112
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Döblin, Alfred: Der schwarze Vorhang, [7]: Roman
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Adler, Joseph: Der geniale Heilemann
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0064

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ergriffen, von einer Faust unter die Oberfläche
gedrückt. Die Dinge, zwischen denen sie ver-
traulich ging, wichen erschreckt vor ihr zurück
und um sie schlangen sich weite und enge Kreise.
Sie war zum Muschelsuchen an den Strand
gelaufen, hatte sich mit zitternder Lust von den
Wellen tragen lassen, war auf ein offenes, seele-
erstarrendes Meer hinausgeschaukelt.
* *
*
Noch-erschauerte Johannes manchmal unter
ihrem Blick, so daß seine Worte versiegten. Seine
jälhe Dankbarkeit wollte ihn von ihr fortreißen:
die gütige durfte ihn nicht lieben, nicht gerade
ihn, den Sündigen; sie mußte sich von ihm
halten. Doch mochte er sie hassen und ver-
nidhten, wenn sie ihn miede; in seiner Dank-
barkeit mischte sich Verachtung, daß sie ihn nicht
verachtete, und so schweifte er um sie. Oft
streichelte er ihr, tiefernst, fast mit Tränen in den
Augen, die Wangen, oder küßte sie und ging
wortlos neben ihr her, während seine Seele, fast
verwundert über sich selbst, dieses tiefe Glück
über sich strömen ließ, und schwer wurde und
sich zur Erde senkte.
❖ *
*
Sie liefen Hand in Hand zwischen den Kiefer-
stämmen in der reinen Luft; sie warfen sich
nieder in das Gras. Sie hielten sich umschlungen ;
es war ein Küssen ohne Ende. Wie ihre Lider
sich halb über die Augen senkten, während sie
den Kopf lässig zurücklehnte und die vor Er-
regung verschleierten Augen ineinander ruhten.
Die Lippen fest auf volle Lippen pressend, küßten
sie saugend und spürten den leicht alkalischen
Geschmack ihrer Münder.
* ❖
*
Es war ein bunter Herbst, da gingen sie
wieder durch den Waid. Uralte Moosbärte
wehten von den Aesten mancher Bäume; von
einigen Bäumen schilferte die borkige Haut in
langen Streifen ab. Andre waren in die Erde
eingespießt, wie umgekehrte Flederwische, oder
standen um sie herum, über und über be-
wachsen, wie nackte Männer mit behaarten
Beinen. Dann gab es welche, die mit Beulen
übersät waren, und aus breiten Geschwüren
eiterten. Immer stießen sich beieinander Krüppel
und junger Schlankwuchs und greise vernutzte
Vetteln. Durch diese sonderbare grüne Welt
schritten der Breitstirnige und die sanfte
Ernste, deren Blicke an seinem Gesicht hingen,
und rissen sich die Worte von den Lippen.
Ihre ungefüge Schwere lichtete und leichtete
sich immer mehr zu vermessener Lust. Das
heftige Reiben und Schwirren der Aestchen,
Blätter, lockte ihre Ohren.
Und plötzlich sahen sie, wie eine dürre,
stark seelische, fadenscheinig auf geputzte Tannen-
jungfer einen schmerbäuchigen Bierbrauerbaum
umarmte, ihm Liebe und ewige Treue schwur.
Irene begann wilder zu lachen; sie lachte, daß
ihr Leib zuckte und sich zusammenkrümmte.
Die Rothaarige riß sich von Johannes los; sie
tanzte heißwangig um das seltsame Baumpärchen,
dann warf sie sich in das Gras unter dem dicken
würdigen Baum, erhitzt, sich vor Lachen
schüttelnd, während der schwere Große sich die
Stirne trocknete und das Blut in seinen Augen
zu beruhigen suchte, die wie die Waldlichter
flimmerten.
Auch ihn schwindelte, und er wußte nicht,
wo er stand. Als er auf die Lachende unter dem
Baume sah, erzürnte sich still etwas in ihm,
wie damals, als sie über seine Worte hinweg-

dachte, und es gelüstete ihn, ihre Glieder ge-
waltsam gerade zu biegen, und den wirren Kopf
stark in den Nacken zu drücken, trotz ihrem
Widerstreben.
Daß sie nicht mehr lachte! Ja, wenn sie
weiter lachte, müßte er nach ihrem weißen runden
Hals greifen, würden seine Hände den schnee-
weißen, o schneeweißen Hals würgen müssen!
Wenn sie jetzt weiter am Boden lachte.
Er richtete sich gerade auf; etwas kaltes,
herrisches, unbekümmertes durchstraffte ihn und
spannte seine Muskeln, als müßte er auf die Hin-
geworfene springen, die Finger in ihre Arme
schlagen.
Er schloß die Augen, zwang sich und
wurde schweigsam. Sie gingen weiter zwischen
den Stämmen. Da erschrak er über sich und
entsetzt baten seine Gedanken ihr ab. Er hielt
ihre Hand fest; Irene war ihm so herzlich nahe
wie ein Kind, das er schützen mußte. Aber .sie
sollte nicht von ihm gehen, ihn nicht allein lassen,
sie sollte ihn selber beschützen, oder doch ihn
fliehen: das wäre das Beste und Liebste. Warum
lief er selbst nicht fort und ersäufte sich wie
eine junge Katze, da er sie doch1 liebte ? Er mußte
fortlaufen, sich verstecken, wo dunkle Höllen-
flammen brennen: er könnte sie nicht inniger
lieben, die gütige, als so.
Er schloß die Augen, um ihrem Blick zu ent-
gehen. Nachdem die lodernde Kälte, die sich in
seine Glieder und bis in seine Kaumuskeln ge-
reckt hatte, verschwunden war, wenn auch jede
Erinnerung an Irenes fessellose Wildheit sie
wieder aufsteigen ließ, strömte eine lösende süße
Erregung ihm über die Stirn, Wangen, Lippen,
bis in die Zähne hinein. Während Irene sich an
ihn schmiegte, scheute er sich, sie zu küssen
wie sonst. Er horchte nicht mehr auf ihr Plaudern,
der Verfinsterte.
* *
*
Plötzlich waren diese Gedanken in ihn ge-
kommen. Auf die reine Sanfte, stürzte er sich.
Sie war aber doch Irene, der seine Dankbarkeit
anhing und kein Weib. . Warum lachte sie so ?
Oh! Warum? Jetzt ging er sie niederwerfen,
wie man ein Weib niederwirft. Jetzt mußte er sie
morden. Er suchte sich mit Anstrengung der
Gedanken zu erwehren; er sträubte sich gegen, die
Sünde an der, die er liebte. Und doch reizte ihn
das aufregende einmal begonnene Spiel mit den
Gedanken, das er mit hellem Atem unternahm,
immef von neuem, grausam, verwegen, selbst-
mörderisch, heiligenschänderisch.
Er konnte es nicht zügeln. Schon suchte sich
das unbändige Gefühl zu rechtfertigen: diese
schlagende Lust hatte ihn zu Irene geführt, dort
im Garten, als sie ihm schwieg — bis er wieder
in die Ohnmacht und Trauer verfiel, aus der
er sich hbb zu ihr.
Er besann sich; hatte er nicht den Weg
verloren, und fand ihn jetzt wieder; seinen;
Kampfes- und Verteidigungsweg wider das
Weib? Es kann nicht geschehen, daß sich Men-
schen lieben; sie müssen sich hassen und be-
zwingen. Sie war mit Schmeicheln hinterlistig
in ihn eingedrungen, Irene, die ihn vergesset!;
ließ, daß sie sein Feind war, in ihrer heimlichen;
Schlangenklugheit. Schon hatte sie fast gesiegt
über den Unklugen, den sie mit ihrem klaren'
Antlitz höhnte, wie niemand höhnte. Jetzt hatte
er sie durchschaut, wollte sich wehren, und was
ihn gegen sie drängte war gut, war das Beste in
ihm.
Vor ihr Bild flog er dann wieder; in
verzweifelter Wut bot er alles auf, um sich zu
besänftigen.
Er klagte sich an, schleppte sich mit den
entsetzlichen Grübeleien umher und übertrug

von seinen Gedanken unwillkürlich auf sie durch
wildes Abwenden,,unerklärtes Meiden, im Zögern
des Händedrucks, in raschen Blicken und in der
Gewalt des Kusses.
* *
*
Da lachte sie nicht mehr.
* *
*
Fortsetzung folgt

Der geniale Heilemann
Die „Elegante Welt" nennt sich ein Blatt,
das im Trödelverlag Eysler u. Co. erscheint und
einen K r a e m e r zum Herausgeber hat. Ein
Schwesterblatt der vulgären „Lustigen Blätter",
trägt es die Aufmachung eines Parvenüweibes;
gleicht ihm in allem. Außen geleckt, innen, bis
ins Inseratenhemd, bedreckt. Ueber alles wird in
diesem Schmarotzerblatt geplaudert. Alles
ist Süße und Puppigkeit darin, und das eben wird
nur durch die bunten Scherben des Talmiesprits
bezwinkert. Ueber Kunst, wiewohl diese ern-
ster und tragischer als das Leben ist, wird mit
der vergnügtesten Fratze von der Welt g e r e d ' t.
Der Herausgeber selber, der Doktor Kraemer,
behandelt sie. Er ist ihr, obzwar sie ihn nicht,
um Gottes Willen nicht, hat rufen lassen, an
den Leib gerückt und hat ihrem Pulsschlag ge-
horcht. Sie ist kerngesund, hat er letzthin kon-
statiert, sofern sie von einem Ernst Heilemann
betrieben wird. Man ist, hat er erklärt, „der
grundsätzlichen Verachtung aller Geschmacks-
qualitäten, in der sich zugunsten eines rein male-
rischen Vortrags die Porträtisten im Hause der Se-
zession nicht genug tun können, bereits — und
mit gutem Recht — ernstlich überdrüssig gewor-
den, und die Gesellschaft lehnt es endgültig ab,
den Produkten unkultivierter Impressionisten das
Haus zu öffnen." Sie läßt es sich lieber von der
Mache Heilemanns einrennen, der aber allerdings
„seit Rezniceks Tod unbestritten als der erste
und populärste unter allen deutschen Zeichnern
gilt, die sich mit der Darstellung gesellschaftlichen
Lebens beschäftigen."
Eine Gesellschaft, die in Heilemann den be-
rufensten Zeichner für die Darstellung ihres
Lebens gefunden hat, kann nichts mehr ver-
lieren. Das Haus, das sie dem unkultivierten
Impressionismus verschlossen hat, ist ein Asyl
für parfümierte Laszivität, dekadente Gefallsucht
und blöde Selbstüberschätzung. Die Frauen,
denen es der reizende Dr. Kraemer in der Tat
nachfühlen kann, „daß sie an Porträts, die ihnen
grüne Wangen, blaue Lippen und einen schwar-
zen Hals andichten, keine vollkommenere Freude
finden (können", haben, wie der schwatzende
Schwerenöter selber, keinen blauen Dunst von
der Kunst. Sie schätzen jenen Porträtisten am
meisten, der nur dem ehrlichen Photographen die
schwerste Konkurrenz macht, lund je „schöne r"
er sie malt, desto mehr bewundern sie ihn.
„Wenn man die Kritik belauscht, die die ele-
ganten Besucher voh Schultes Kunstsalon vor
diesen Bildnissen, deren Modelle wohl den mei-
sten von ihnen persönlich bekannt sein dürften,
austauschen, so hört man zunächst und vor allem
die große Aehnlichkeit in den Porträts rühmen,
die ja schon der Zeichner Heilemann mit weni-
gen flüchtigen Strichen so vollkommen zu geben
weiß. Aber neben dieser Treffsicherheit, die eben
so sehr der Beweis einer intensiven Naturbetrach-
tung wie das Resultat langjähriger zeichnerischer
Uebung sind, ist es die Vereinigung rein maleri-
scher und rein geschmacklicher Qualitäten, die
diesen Bildern selbst einem mit allen künstleri-
schen Reizen übersättigten Publikum gegenüber
werbende Kraft verleiht."

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