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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 3.1912-1913

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Nr. 115/116
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Dallago, Carl: Karl Kraus / der Mensch
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https://doi.org/10.11588/diglit.56300#0081

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tete man das vaterlose Kind anzunehmen. So ver-
suchte sie es mit vier Dörfern. Dann tötete sie das
Kind, und dann wurde sie zum Tode verurteilt. Karl
Kraus zitierte das Gerichtsprotokoll Kalt und nüch-
tern, ohne ein Wort hinzuzufügen Sein Kommentar
bestand darin, in der anderen Spalte wörtlich einen
Artikel aus einem katholischen Blatt abzudrucken,
in welchem stand, wie man ungebome Kinder im
Mutterleibe zu taufen habe,, wenn die Mutter im
Sterben läge“. Das katholisch-medizinische Blatt
enthielt folgendes: „Das Taufwasser muß reines
Wasser sein. Die Hohlnadel hat eine Länge von
10 Zentimetern. Bei Kopflage wird die Nadel zwei
Querfinger oberhalb der Symphyse senkrecht ein-
gestochen. Vorher soll die Mutter urinieren. Die
Hohlnadel wird eingestochen, bis man auf eine re-
sistente Stelle gelangt,'welche auch durch mäßiges
Andrücken der Nadel nicht überwunden werden
kann 1 Diese Resistenz bieten die Kopfknochen dar.
Findet man diese Resistenz nicht, ‘so‘ wird die
Spritze bis an die Bauchhaut zurückgezogen, sie
wird in anderer Richtung nach rechts, nach links,
nach oben und unten eingestochen, bis inan den
Kopf findet.. . . Falls etwa einer sterbenden Mutter
eine Entkleidung zu beschwerlich fallen würde, so
kann auch der Einstich der Nadel ganz leicht über
dem Hemde vorgenommen werden. Ja selbst aufs
Geratewohl kann man an einer beliebigen Stelle des
vorgewölbten Bauches durch die Kleidungsstücke
hindurch den Einstich machen. Dann besitzt aller-
dings die Taufe nur wahrscheinliche Gültigkeit. Hat
man den Knochen mit der Nadelspitze gefunden,
so wird die Nadelspitze mit ziemlicher Kraftan-
wendung so weit als möglich in den Knochen ein-
gespießt!“ (Es handelt sich ja darum, der Taufe
sichere Gültigkeit zu verleihen). — Welche
menschliche Regung möchte hier dem Gedanken
nicht das Gesicht zertreten? In Kraus scheint vor
Unmaß an Widerwillen das Wort erstickt. Welche
Güte möchte noch ihre Empörung solcher un-
menschlichen Verblödung entgegensetzen? Ich fühle
hier: Wo religöser Wahn die Wissenschaft schwän-
gert, gebiert sie Greuel. Und im Falle der Kindes-
mörderin erleidet die Gerechtigkeit von der herr-
schenden Moral der Philister die Behandlung einer
Dirne. Kraus gibt mit der stummen Zurschaustel-
lung der zwei Begebenheiten sein Erlebnis an ihnen;
es erzählt, daß er leidet; ihm zugrunde liegt Güte
„Ich rufe die Rettungsgesellschaft zu einem
Werk der Nächstenliebe“; so vernimmt man in
einem neuen Fall Kraus’ Stimme, die für eine Tote
eintritt, deren Erben zwar den Lebensruf der Ver-
storbenen verachteten, nicht aber das Vermögen,
das dieser Beruf eintrug. So unterblieb die Erfül-
lung des Wunsches der Toten, ihr einen Grabstein
zu setzen, trotz des vielen hinterlassenen Geldes,
das umso voller im Besitze der Erben blieb. Nun
finden sich leicht Mittel und Wege, solcher Unan-
ständigkeit einen anständigen Anstrich zu geben,
daran gesetzlich nichts auszustellen ist. Die Unan-
ständigkeit wird dadurch nur größer. Kraus legt
sich ganz in den Anlaß Tiinein; er rüttelt ein Ge-
wissen des Gefühls wach, das unsre soziale Zeit
beständig mit Füßen tritt; er wächst indem er sein
Empfinden dartut; er mahnt, er droht, er glüht ab-
schließend hinaus: ,,vivos voco, mortuos plango,
fulgura frango!' Auch dieses drohende Glühen ist
gewiß einer Güte entsprungen.
Besonders gewichtig für das Gütige in Kraus
aber sprechen mir seine Worte: „Zum Tod eines
Begrabenen“. Hier bringt er uns zwei Tote in Er-
innerung, deren Leben das Zeitungswesen ver-
schluckt hatte ohne ihren Wert zu kennen. Sie hie-
ßen Ludwig Borges und Sig^nund Wilhelm Von
diesem berichtet Kraus: „Ich war, noch unter dem
Eindruck seines Feuilletons ,,Der einsame Spatz“
daran,, dieses siebzigjährige Talent zu entdecken.

Da floß die Stimmung des Blattes, das vor mir lag,
mit der Meldung seines Todes zusammen, und es
bleibt nichts übrig, als ihm nachzusprechen, was er
seinem verstorbenen Freunde Ludwig Porges,
nachgesagt hat: ,,Er ist keiner von den Größen der
Publizistik gewesen,, aber in seiner Art ein Großer,
ein untadeliger Mensch voll edlen Sinnes für das,
was die Seele zu den Höhen erhebet, ein treues
kindliches Gemüt, ein verläßlicher Freund, ein Ehr-
licher und Gerechter. O, wie sich alles lichtet um
uns und wie es dennoch immer finsterer in diesem
Leben wird!““ Kraus fügt hinzu: ,,Und es bliebe
mir nur noch zu sagen, daß es um einen, der diesen
Satz schreiben konnte, schade ist.“ — Wer hört
hier nicht Kraus' Trauern heraus um das Hinschei-
den eines wertvollen Menschen? Wer spürte hier
nicht, daß etwas in Kraus vor dem wundervollen
Satz Wilheim’s ganz milde geworden ist? Wer
fühlte hier nicht Kraus’Empfänglichkeit für wert-
volle Gaben und Menschen.
Vielleicht trägt das hier Gebrachte dazu bei,
daß jene, die an Kraus bis jetzt „die Schärfe des
Geistes, Geschmack, Witz und die unermüdliche
Streitbarkeit des Temperaments“ bewunderten,
nun auch jenes Leidende und Leidenschaftliche an
ihm wahrnehmen, dem Güte — Güte seltenster
Art — zugrunde liegt.
Es gibt heute noch gewiß mehr Tadel für Kraus
als Lob. Das macht schon die Ueberzahl seiner
Gegner. Aber wo die Mehrheit steht, ist der Wert
selten heimisch. Die große Zahl einer Gegnerschaft
spricht eher für den Wert eines Tuns als dagegen.
Kraus hat zudem ganze Machtbestände gegen sich.
Ich aber sehe mit ihm das Faule an diesen Macht-
beständen: das Faule an der Presse, an der Gesell-
schaft, an unserer Moral, um nur lärmendste Be-
stände zu nennen.
Ich höre weiteren Tadel,, auch von mir nahe
stehenden Menschen. Man hält Kraus nicht für
ehrlich, zumindest für sensationslüstern. Dabei ist
manche Stimme so, daß man fühlt, sie glaubt, was
sie ausspricht — also ehrlich. Ich finde alle der-
artigen Stimmen einem" Schein erlegen. Den hat
ein Gestalter des Aktuellen wie Kraus leicht gegen
sich, wo ein Hörer am Anlaß hängen bleibt und
nicht am Gestalten des Anlasses. Dieses Gestalten
jedoch müßte, wo es genügend erkannt wird, den
Betrachter aufklären. Denn niemals ist ein GestelL
ter sensationslüstern, der den Stoff so gestaltet, daß
der Nur-Sensationslüsterne nicht mehr folgen kann.
Auch Kraus hat seine Lehrzeit; aber seine Entwick-
lung ist so, daß der sensationslüsterne Hörer immer
weniger auf seine Rechnung kommt.
Die Ehrlichkeit des Kritikers sollte feinste Fähig-
keit eines Innern sein und nicht nur ehrliche Mei-
nuno! Die ist ungemein leicht verschiebbar; sie ist
oft durch ein Vorurteil, durch eine Gewohnheit,
durch eine Empfindlichkeit schon zu trüben und kann
sogar erblinden. Wie soll derartige Ehrlichkeit
genügen, über ein Ehrlichsein gerecht zu urteilen?
Man müßte hier vorher fragen: ob, was ehrlich sein
will, auch ehrlich sein kann?. Ob keine EmpU
findsamkeit, keine Gewohnheit, kein Vorurteil da ist,
die unbewußt mitreden?
Bei Kraus ist Ehrlichkeit immer zugleich Fähig-
keit; er wird von dieser Fähigkeit gleichsam ge-
handhabt, sie besorgt in ihm die Diktion. Er bean-
sprucht gewiß nie einem Ding objektiv gerecht zu
werden; er nimmt den Anlaß auf wie einen Drang,
ja er wird vom Anlaß aufgenommen, fühlt sich in
den Anlaß hineingetragen und erschließt sich, entfal-
tet und entflammt sich am Anlaß. So mag Kraus
zuweilen übers Ziel schießen, nie aber wird der
Vorwurf einer Unehrlichkeit auf ihm ruhen können,
Der erreicht ihn gar nicht; weil solcher Vorwurf
sich an den Anlaß hält und nicht an dessen Gestal-

ter, der im Anlaß nur sich selber als Kraft kundtut.
So ist der Mensch Kraus immer zu sehr Künstler,
um jemals nur Beurteiler zu sein
Man sagt Kraus auch nach: er habe fast aus-
schließlich gut arische Anhängerschaft, die Juden
seien zu schlau, sie gingen ihm nicht auf den Leim;
4aher stamme wohl sein Antisemitismus. Hier muß
ich entschieden verneinen. Kraus ist nicht Anti-
semit. Sein Menschentum drängt Nationalität und
Rassen-Angehörigkeit auf einen Nebenplatz. Im-
merhin ist er Jude und Deutscher genug, um sich
der Vielen seines Volkes zu schämen, um deren
Schlechtes zu hassen. Man haßt Schlechtes dort
am meisten, wo man liebt, nicht wo man haßt. Sb
an seinem Volke, an den Angehörigen, an sich
selbst Je höher man jemand hält, umso mehr muß
man von ihm auch verlangen können Nur Tröpfe
schmeicheln den Schwächen ihrer Nächsten. Kraus
setzt dem Faulen im Judentum am meisten zu. Es
könnte bedeuten: er traue den Juden noch am mei-
sten zu. Und daß er die Schlauen nicht für sich ge-
winnt, ist mir nur ein Kennzeichen mehr seiner
Stärke, seines Wertes, as sollte die Schlauheit dort
anfangen, wo innere Kraft jeder List ausweicht?
Was hätte sie bei der Kunst zu suchen, die erst dort
beginnt, wo von Schlauheit jede Spur getilgt ist?
Insofern große Fähigkeiten anziehend sind, kann
man, wo sie sich vorfinden, auch von einem ,,Auf-
den-Leim-gehen“ reden. Das Ueble der Redensart
verliert sich an der Sachlage: so geht man vielleicht
einem echten Trunk auf den Leim, der Anmut eines
Weibes, den Reizen eines Kunstwerks, oder eben
dem Glühen eines Menschen, das in einem Schaffen
umgeht. Richtig mag sein, daß Kraus im eigenen
Volke im allgemeinen wenig Neigung erweckt, ob-
wohl Fähigste darunter ihm anhängen. Eine ausge-
sprochene Ueberlegenheit wird von der Allgemein-
heit der Zunächststehenden zumeist als störend
empfunden Trotzdem erschließt sich Kraus freu-
dig jeder echten Begabung in seinem Volke, wenn
sie ihn groß genug dünkt. Wie sorgsam hätschelt
er nicht Peter Altenberg, wie verehrt er nicht
Else Lasker-Schüler!
Die überlegene Häufigkeit der Schaustellung
jüdischer Könner-Talente befriedrigt ihn freilich
nicht. Aber wahrhaft Hervorragendes ehrt er über-
all, wo er es findet; ja er, scheint danach zu hun-
gern und zu dürsten.
Das erbrachte ihm vielleicht das Motiv zu sei-
nem ersten Konflikt mit der (Presse als einer Macht"
die alles Mittelmäßige hervorragend behandelt auf
Kosten des Hervorragenden. Er sieht die Willkür
dieser Macht anwachsen, erlebt ihre Käuflichkeit
aus nächster Nähe und — reißt eine Kluft auf zwi-
schen sich und ihr. Die Presse-Sippschaft vergilt
es ihm rjedlich. So kann Kraus berichten: „Ich
glaube nicht, daß irgendwann in der Welt eine Fülle
schändlicher Taten so viel sittliche Entrüstung aus-
gelöst hat, wie in der Stadt, in der ich lebe, die
Unverkäufllichkeit meines Denkens . . Seit Jahr-
hunderten wurde nicht gespien, wenn ein Schrift-
steller vorbeiging“. Ich fühle gerade diese Verun-
glimpfungen, die dem Schriftsteller gelten, um den
Menschen Kraus einen Schimmer legen. Dabei ist
Kraus heute schon Sieger — wie Künstler Sieger
sind — und wird es immer mehr werden. Die Pres-
se mag sich selber für eine Großmacht halten, der
Kunst kann sie nur Magd sein. Daß es so ist, be-
stimmt die Kunst und nicht die Presse. Die Kunst
wird der Presse nie gehorchen können; wo sie der
Presse gehorcht, ist sie nicht mehr Kunst Das
weiß der (Künstler; es macht ihn sicher der
Presse gegenüber. Es liegt wohl’ ein selbsttätiges
religiöses Bestandteil im Künstlerischen, davon eine
äußerliche Macht nichts wegzunehmen vermag
Dieses Künstlerische geht auch in Kraus um, es nährt
die Flamme seines Innern. So etwas läßt sich mit

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